Service? Ist leider aus!

Willkommen in der Dienstleistungshölle

Stellen Sie sich einmal vor, sie sind mit einem Problem konfrontiert, das im Zusammenhang mit von einem Unternehmen angebotenen und von Ihnen für gutes Geld in Anspruch genommenen Dienstleistungen auftritt, wofür Sie nichts können, das Sie aber schnellstmöglich gelöst haben wollen. Keine ganz weit hergeholte Situation, nicht wahr? Wohl jeder von uns hat sie in der einen oder anderen Weise wahrscheinlich schon einmal erlebt. Doch was erwartet man dann?

Nun, die Antwort ist einfach: Service! Und was gehört dazu? Natürlich eine möglichst schnelle Behebung, das ist klar. Doch weil die in der Realität natürlich nicht immer möglich ist – das Problem kann ja durchaus einmal ernsthafter Natur sein -, gehört dazu selbstverständlich auch die Kommunikation seitens kompetenter Mitarbeiter des jeweiligen Dienstleisters mit der nötigen Information über die Gründe sowie das Vorgehen und den Zeitplan für die Behebung.

Doch wie sieht heute nur allzu oft die Realität aus? Sie läßt sich mit einem einzigen Begriff zusammenfassen: Service-Hotlines. Und bei wahrscheinlich jedem löst dieser Begriff die gleiche Assoziation aus: Nerverei, Zeitverschwendung, Ärger, Frust. Hot, also heiß, läuft hier eigentlich nur der Kreislauf des Kunden. Dabei ist es fast egal, mit welchem Unternehmen man es im konkreten Fall zu tun hat, denn man trifft auf viele, bei denen Service nach eigenem Bekunden großgeschrieben wird, aber selten auf eines, bei dem das auch nur annähernd wenigstens zufriedenstellend funktioniert. Berüchtigt und gefürchtet sind die endlosen Dialoge mit den Telefoncomputern, bei denen man oft viel Zeit nutzlos verplempert und die im schlimmsten Fall zu gar nichts führen. Und hat man dann endlich doch einen Service-Mitarbeiter am Telefon, erweist sich der recht schnell als unbedeutendes Rädchen im Getriebe eines gesichtslosen Call-Centers, kann er dem gebeutelten Anrufer doch oft genug nicht wirklich weiterhelfen, weil er selbst geringe bis keine Ahnung von der Materie hat, sondern nur Telefondienst leistet und vorgegebene Checklisten abarbeiten kann.

Nein, Service wird schon lange nicht mehr großgeschrieben in der Dienstleistungsbranche. Überall wird zusammengestrichen und gespart, bis es quietscht und einfach nichts mehr funktioniert. Das konnte natürlich auch ich aus erster Hand schon oft am eigenen Leib erfahren. Doch auch in meinem Bekanntenkreis habe ich schon oft Erzählungen über unangenehme Erlebnisse mit der einen oder anderen Service-Hotline lauschen dürfen. So oft, daß ich mittlerweile über einen reichen Schatz von Erfahrungen in dieser Hinsicht verfüge. Ausreichend Stoff also, um einmal eine kleine Geschichte darüber zu schreiben, was passieren kann, wenn Menschen wie Du und ich gezwungen sind, sich als Kunden mit gesichtslosen, Profit und Kostenersparnis in den Vordergrund stellenden Großunternehmen auseinandersetzen zu müssen. Eine Geschichte, die zwar recht fantasievoll ist, in die jedoch all diese in der Realität von mir selbst oder anderen gemachten Erfahrungen mit unterschiedlichen Dienstanbietern eingeflossen sind, so daß sie letztlich, denke ich, doch die traurige Realität korrekt widerspiegelt, die da lautet:

Service? Ist leider aus!

Erster Tag

Es war an einem Donnerstag im Juli, als Clemens am Ende eines langen Tages im Büro nach Hause kam. Müde sank er in seinen Sessel, als ihm einfiel, daß er noch einen Anruf zu machen hatte, den er nicht auf den morgigen Tag verschieben sollte. So griff er zum Telefon, wählte die Nummer – und hörte nur ein Besetzt-Zeichen. Na gut, da wird wohl gerade gesprochen, dachte er bei sich, am besten versuche ich es in ein paar Minuten noch einmal. Um diese zu überbrücken, griff er nach seinem Tablet, um sich in aller Kürze zu informieren, was den Tag über so losgewesen war in der Welt. Die erste Webseite, die er aufrief, antwortete nicht. Nanu? Haben die eine Störung? Die zweite Webseite verhielt sich nicht wesentlich zugänglicher. Zwei Webseiten mit einer Störung zur gleichen Zeit? Hm, möglich – aber nicht sehr wahrscheinlich, dachte er. Seine Erfahrung, die er im Laufe seiner nun schon reichlich fünfundzwanzig Jahre, die er seinen Beruf als Softwareentwickler ausübte, erworben hatte, lehrte ihn, daß es stets sinnvoll ist, auf der Suche nach der Ursache eines Fehlers nicht die erstbeste Theorie, die einem in den Sinn kam, zu verfolgen, sondern zunächst zu überlegen, was die naheliegenderen Gründe für das Problem sein könnten und diese zuerst zu prüfen. Und um ein Vielfaches naheliegender erschien ihm die Annahme, daß das Problem eher auf seiten des gemeinsamen Faktors dieser beiden Seitenaufrufe und – nicht zu vergessen – des erfolglosen Telefonanrufs lag. Und das war hier der Benutzer, also er.

Ein kurzer Blick auf die Statusleiste am oberen Rand des Bildschirms seines Tablets bestätigte ihm die Richtigkeit dieser Strategie, denn dort konnte er unmittelbar erkennen, was nicht stimmte. Zwar wurde das WLAN-Symbol angezeigt und bedeutete ihm, daß sein Tablet eine Drahtlos-Verbindung zum Router aufgebaut hatte, doch das kleine, ebenfalls angezeigte Ausrufezeichen tat ihm kund, was das Problem war: es gab keine Internetverbindung. Und da auch sein Telefon seine Verbindungen über das Internet herstellte, war ihm nun auch klar, warum er zuvor niemanden hatte erreichen können. Nicht beim angerufenen Teilnehmer war besetzt gewesen, sondern sozusagen bei ihm selbst. Nur daß er nicht telefonierte, sondern überhaupt keine Verbindung mehr bekam.

Na toll. Tags zuvor hatte er noch im Home Office gearbeitet, da war alles noch paletti gewesen. Was war denn da nun wieder los?

Zur Sicherheit prüfte Clemens zunächst den Status seines Routers. Dessen gleichmütig blinkende Power-LED bestätigte seine Befürchtungen: das Problem lag nicht an einem einzelnen Gerät, sondern es gab generell keine Internetverbindung mehr über das Netz seines Internetproviders. Da auch ein Neustart des Routers nichts an der Situation änderte, würde er sich zur Beantwortung seiner Frage wohl mal mit jenem in Verbindung setzen müssen.

So wählte er denn die Servicenummer seines Internetproviders. Auf dem Mobiltelefon, versteht sich. Das andere funktionierte ja nicht. Natürlich bekam Clemens nicht sofort jemanden an die Strippe, der ihm weiterhelfen konnte, sondern wurde zunächst von dem heutzutage obligatorischen Telefoncomputer begrüßt, bei dem er aufgrund zahlreicher früherer Erfahrungen mit anderen Dienstleistern mittlerweile der festen Überzeugung war, er sei dazu da, die Anrufer so lange hinzuhalten und zu nerven, bis diese von allein aufgaben und davon absahen, ihre Frage zu stellen. Warum sollte es mit diesem anders sein? Kurz darauf sah sich Clemens in seiner Erwartung vollauf bestätigt, denn er wurde zunächst darauf hingewiesen, daß er seine Service-PIN und seine Vertragsnummer bereithalten solle. Es blieb ihm allerdings keine Zeit, diese zu besorgen, denn gleich darauf textete ihn der Computer mit einer Reihe von mit Nummern versehenen Optionen zu, aus denen er die auszuwählen hatte, die seinem Anliegen am nächsten kam. Schließlich wurde er tatsächlich aufgefordert, seine Service-PIN einzutippen, was ihn in hektische Betriebsamkeit versetzte, da er sie zunächst einmal heraussuchen mußte. Es dauerte ein bißchen, bis er sie gefunden hatte. Immerhin war der Computer geduldig genug, so lange zu warten, wobei er allerdings die Aufforderung, sie doch bitte einzugeben, stoisch immerzu wiederholte. Schließlich aber hatte Clemens die Ziffern mittels der auf seinem Mobiltelefon eingeblendeten Tastatur eingetippt und hoffte nun, endlich mit jemandem verbunden zu werden. Natürlich war das nicht der Fall, denn nun galt es zu entscheiden, ob er das Unternehmen bei der Verbesserung seiner Servicequalität unterstützen wollte, indem er der Aufzeichnung seines Gesprächs zustimmte. Wenn es doch endlich einmal zustandekäme, fluchte Clemens innerlich. Und verbissen in seinen bereits jetzt aufkommenden Frust, lehnte er kurzerhand ab. Vielleicht deswegen wurde ihm vom Computer nun gleich mehrfach versichert, daß seine Zufriedenheit als Kunde wirklich allerhöchste Priorität habe. Er konnte nicht umhin, angesichts dieses ellenlangen Vorgeplänkels bereits das erste Mal daran zu zweifeln.

Schließlich aber hatte sich Clemens durch den kein Ende nehmen wollenden Dialog mit dem Computer hindurchgekämpft und bekam nun endlich – nein, niemanden an’s andere Ende der Leitung, das wäre ja wirklich zu einfach. Stattdessen spielte man ihm erst einmal die Warteschleifenmelodie vor. Erfreulicherweise mußte er sie sich jedoch nicht lange genug zu Gemüte führen, um sie mitsingen zu können, denn schon nach wenigen Minuten brach sie unvermittelt ab, es klickte in der Leitung und eine Mitarbeiterin begrüßte ihn, sich gleich darauf dafür bedankend, daß er gewartet habe.

Unverzüglich hub Clemens an, ihr sein Anliegen vorzutragen. Störung seit heut… Moment, so einfach geht das nicht. Erst einmal mußten Daten abgeglichen werden. Vor- und Nachname, Telefonnummer, Email-Adresse, Service-PIN – was genau sie davon abfragte, wußte Clemens wenig später schon nicht mehr, denn während er die verlangten Daten durchgab, überlegte er, welchen Sinn diese Fragerei wohl haben mochte. Was genau damit überprüft wurde, erschloß sich ihm nämlich nicht, hatte er doch die Service-PIN, die nur er kennen durfte, bereits dem Computer mitteilen müssen. Und die anderen Daten waren jedenfalls nicht so privat, das sie zweifelsfrei beweisen konnten, daß er wirklich er war. Am wahrscheinlichsten erschien ihm daher die Theorie, daß diese Fragen irgendwie zu einem Ritual gehörten, das getreulich zu erfüllen war. Warum auch immer.

Schließlich war aber auch das geschafft. Das Telefonat dauerte jetzt schon gute zehn Minuten, und Clemens war noch nicht einmal dazu gekommen, sein Anliegen vollständig vorzutragen. Doch jetzt war es endlich soweit! Er setzte nochmal an: Störung seit heute, nichts geht mehr in Sachen Internet, Telefon auch nicht verfügbar, was nun?

Jetzt war es heraus! Und Clemens schnappte erstmal nach Luft, denn er hatte in dem Bestreben, all das endlich einmal loswerden zu können, ohne gleich wieder wegen irgendetwas unterbrochen zu werden, beim Sprechen glatt das Atmen vergessen. Den deutlich hörbaren Tastenanschlägen zufolge tippte die Mitarbeiterin am anderen Ende der Leitung ein wenig an ihrem Computer herum. Dann teilte sie ihm mit, was als nächstes geschehen würde. Offenbar wollte sie irgendein Signal über die Leitung senden, das seinen Router erreichen sollte. Wofür das genau gut war, erklärte sie ihm zwar nicht, wartete jedoch mit der Anweisung auf, den Router in zwei Stunden neu zu starten. Wenn es dann weiterhin nicht funktioniere, würde sich, so versprach sie Clemens, ein Techniker bei ihm melden. Ach ja, und er solle bloß nicht das WLAN benutzen.

Okay? So ganz überzeugt war Clemens nicht, denn es wollte ihm nicht so recht einleuchten, wozu diese Prozedur gut sein sollte. In erster Linie fragte er sich, warum er dafür zwei Stunden warten mußte. Und weshalb durfte er das WLAN nicht benutzen? Vielleicht, so überlegt er im Nachhinein, wäre es besser gewesen, diese Fragen sofort zu stellen, aber er hatte wohl in diesem Moment gedacht, daß er sich mit dem ganzen Netzwerkkram sowieso nicht ausreichend auskannte, um qualifizierte Nachfragen zu stellen – schließlich war er Software-Entwickler und kein Netzwerktechniker. Na, und die Service-Leute würden schon wissen, was sie tun, nicht wahr?

So bedankte sich Clemens für’s Erste und versprach, wie angewiesen zu verfahren. Er ließ also den Router vor sich hinblinken, schnappte sich ein Buch und harrte der Dinge, die da kommen würden.

Es dauerte nur wenige Minuten, da teilte ihm sein Mobiltelefon erfreut mit, daß es eine SMS für ihn empfangen habe. Clemens öffnete sie und stellte fest, daß sie von seinem Internetprovider an ihn versandt worden war. Man informierte ihn darüber, daß es in seinem Gebiet eine Großstörung gäbe. Die Servicetechniker seien aber bereits dabei, sie zu beheben, was außerhalb seiner Wohnung geschehe, weshalb vereinbarte Termine zur Entstörung nicht mehr erforderlich wären und mit dieser SMS abgesagt seien. Als Zeitrahmen gab man die nächsten achtundvierzig Stunden an.

Jetzt war Clemens das erste Mal wirklich verwirrt. Glücklicherweise wußte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß ihm dieses Gefühl in der nächsten Zeit noch sehr vertraut werden würde. Welche Termine zur Entstörung denn? Man hatte doch gar keine mit ihm vereinbart… Oder bezogen sie sich damit auf das Versprechen, daß sich ein Servicetechniker bei ihm melden würde, wenn es in knapp zwei Stunden nicht wieder funktionierte? Und was war das eigentlich plötzlich für eine Großstörung? Darüber hatte die Servicemitarbeiterin am Telefon doch gar nichts gesagt…

Für einen kurzen Augenblick erwog Clemens, gleich noch einmal anzurufen, nahm aber bei dem Gedanken an das ellenlange Vorspiel mit dem Computer, das er dann erneut zu absolvieren hätte, von dieser Idee Abstand. Daran konnte auch der Gedanke nichts ändern, daß damit der von ihm zuvor angenommene Zweck dieser Kommunikationverhinderungsmaschine wohl vollauf erreicht worden war. Er hatte an diesem Abend einfach keine Kraft mehr, noch einen Marathon zu laufen…

Aber da war ja noch die Sache mit der Großstörung. Clemens überlegte. Ob es wohl im Internet mehr Informationen dazu gab? Einen Versuch war es wohl wert. Er griff also erneut zu seinem Mobiltelefon – dem einzigen ihm verbliebenen Zugang zum weltweiten Computernetzwerk – und rief die Website seines Internetproviders auf. Im Bereich zur Störungshilfe fand er ein Formular, das ihm bei Eingabe seiner Adresse versprach, ihn über dort existierende etwaige Störungen zu informieren. Netter Service, dachte Clemens. Er tippte also seine Daten ein und erhielt umgehend eine Antwort:

Für Ihre Adresse ist uns momentan keine Störung bekannt.

Na sowas! Da hatte die SMS von eben doch etwas anderes behauptet. Was stimmte denn nun?

Doch die Antwort war noch nicht zu Ende. Für den Fall, daß er doch Opfer einer Störung geworden sein sollte, wurde Clemens die Nutzung eines sogenannten Störungsassistenten empfohlen. Ein Entstörungsassistent wäre ihm zwar lieber gewesen, doch da er noch Hoffnung hatte und nichts unversucht lassen wollte, rief er die Anwendung umgehend auf. Er erwies sich als lustiges, interaktives Frage-Antwort-Spiel mit hopsenden, Denken oder Antwortsuche simulierenden Pünktchen, in dessen Verlauf er mitteilen mußte, wie der Status seines Routers war, welche LEDs wie leuchteten, was beim Starten des Routers genau passierte –  da er diesen vor seinem Anruf ja gerade erst neu gestartet hatte, wußte er das noch ziemlich genau -, ob es Pieptöne gab und falls ja, wieviele, und welche Art Anschlußstecker er hatte, wobei ihm von den abgebildeten irgendwie keiner passend erschien. Nachdem Clemens sich erfolgreich durch alle Fragen hindurchgehangelt hatte – irgendwie erinnerte ihn das an den Telefoncomputer; ob das dasselbe System war? – wußte der sogenannte Störungsassistent auch nicht mehr weiter und gab ihm dem Rat, doch mal den Kundenservice anzurufen. Der würde sein Problem sicher beheben können. Na, wenn das keine Hilfe ist, dachte Clemens sarkastisch. Auf die Idee war er zuvor schon ganz allein gekommen, dafür hätte er keinen Störungsassistenten gebraucht.

Es blieb ihm nun also nichts weiter übrig, als zu seinem Buch zurückzukehren und die zwei Stunden abzuwarten, die der technische Versuch dauern sollte. Nach den erhaltenen widersprüchlichen Informationen machte sich Clemens allerdings keine großen Hoffnungen mehr, daß dieser zum Erfolg führen würde, aber er wollte sich später nicht nachsagen lassen, es hätte an ihm gelegen, weil er die erhaltenen Anweisungen nicht befolgt hatte.

Vertieft in sein Buch, verpaßte Clemens den Ablauf der zwei Stunden etwas, so daß bereits vierzig Minuten mehr vergangen waren, als er schließlich den Router wie vereinbart neu startete. Das Ergebnis war, wie er es vorausgesehen hatte: es funktionierte nicht. Der Unterschied zu vorher war jetzt nur, daß er den Kundenservice nun nicht mehr erreichen konnte. Der hatte vor vierzig Minuten Feierabend gemacht. Ob das vielleicht der Grund für die Zeitspanne von zwei Stunden gewesen war? Clemens schloß nichts mehr aus.

Da auch mit der Kontaktaufnahme durch einen Techniker um diese Uhrzeit nicht mehr zu rechnen war, würde es wohl oder übel für heute bei diesem Zustand bleiben müssen. Als letzte Amtshandlung warf er nun noch einen Blick in die Service-App, die sein Internetprovider zur Verfügung stellte. Dort entdeckte er überrascht, daß eine Nachricht für ihn eingetroffen war. Diese erwies sich dann jedoch als nicht so neu, wie er gehofft hatte, sondern teilte ihm lediglich dasselbe mit, was er bereits aus der SMS wußte. Mit einer Ausnahme. Am Ende der Nachricht war folgendes zu lesen:

Behebung der Großstörung im Gange.
Bearbeitung abgeschlossen.

Wie jetzt? Clemens war verwirrt. Schon wieder. Behebung im Gange UND Bearbeitung abgeschlossen? Gleichzeitig? Und wenn letzteres stimmte, warum funktionierte es dann weiterhin nicht? Was also sollte das bedeuten? Er konnte sich keinen Reim darauf machen.

So war nun also die Situation am Ende dieses Tages: den verschiedenen Kommunikationssystemen seines Internetproviders zufolge hatte jener die Bearbeitung einer Großstörung, die es gar nicht gab, erfolgreich abgeschlossen, doch Clemens‘ Telefon war noch immer so tot wie das Internet für ihn nicht erreichbar. Aber wenigstens hatte man ihm versichert – mehrfach sogar -, daß seine Zufriedenheit als Kunde allerhöchste Priorität hatte. Wie gerne wollte er das glauben…

Zweiter Tag

Als Clemens am Abend des nächsten Tages von der Arbeit nach Hause kam, blinkte sein Router genauso gleichmütig vor sich hin wie am Vortag. Na, wenigstens behielt einer von ihnen seine Ruhe.

Eine Internet-Verbindung ließ sich folgerichtig weiterhin nicht herstellen und auch das Telefon blieb dysfunktional. Clemens wurde etwas beklommen zumute, als ihm plötzlich der Gedanke kam, was er jetzt wohl machen würde, wenn es zu einem Notfall kam und er kein funktionierendes Mobiltelefon hätte. In einer solchen Situation wäre es ihm dann nicht einmal möglich, einen Notruf abzusetzen. Auf einmal schien ihm die Internet-Telefonie gar keine so gute Idee mehr zu sein…

Zwar hatte er nun glücklicherweise keinen Notfall, doch wollte er trotzdem gerne wieder Zugang zum Internet und ein funktionierendes Telefon haben. Schließlich bezahlte er jeden Monat gutes Geld dafür!

Natürlich hatte sich den ganzen Tag über kein Techniker bei ihm gemeldet, wovon Clemens allerdings nicht sonderlich überrascht gewesen war, da er nach dem Verwirrspiel des gestrigen Abends auch nicht wirklich damit gerechnet hatte. So griff er also erneut zum Mobiltelefon und wählte die Nummer des Kundenservices seines Internetproviders.

Diesmal war es etwas früher als am Tag zuvor und Clemens noch deutlich fitter. So gelang es ihm ohne größere Schwierigkeiten, sich durch die endlos scheinende Litanei des Computers zu quälen, die dennoch stets eine gewisse Aufmerksamkeit erforderte, da er immer wieder aufgefordert wurde, irgendetwas einzugeben oder zu bestätigen. Diesmal hatte er sich, lernfähig, wie er war, die Service-PIN vorher herausgesucht, so daß es etwas schneller als am Vortag ging.

Als die Warteschleifenmusik schließlich abbrach, hatte Clemens diesmal einen Mitarbeiter am Telefon, der sich sehr mitteilsam gab. Nach einiger Tipperei an seinem Computer informierte er ihn darüber, daß es seit zehn Tagen eine Störung gäbe, die in seinem Haus vorläge. Diese müsse erst repariert werden.

Nun, das war Clemens durchaus bekannt. Tatsächlich hatte es Mitte des vorangegangenen Monats in der Etage unter seiner einen Brand gegeben, in dessen Folge es zu Schäden an diversen Leitungen gekommen war, so daß einige Mieter weder Internet noch Telefon und auch kein Fernsehen mehr hatten. Auch hatten irgendwann am Monatsanfang zwei Techniker vor seiner Tür gestanden, die den Zustand der Leitungen inspizieren  sollten und sich dafür deren Führung in seiner Wohnung hatten ansehen wollen. Sie waren ziemlich überrascht gewesen, als er ihnen mitgeteilt hatte, daß sein Internet- und Telefonanschluß zu dieser Zeit noch funktioniert hatte. Da sie darauf bestanden hatten, daß das ja gar nicht sein könne, hatte er es ihnen kurzerhand demonstriert, was sie zwar von der Richtigkeit seiner Aussage überzeugt, allerdings nach eigenem Bekunden auch recht ratlos zurückgelassen hatte, weil sie es sich nicht recht erklären konnten. Schließlich seien doch alle Leitungen kaputt.

Da das nun schon zwei Wochen her war und der Brand mehr als vier Wochen zurücklag, fühlte sich Clemens ob der Aussage des Mitarbeiters einigermaßen verwirrt, denn es erschien ihm merkwürdig zu erfahren, daß die sogenannte Hausstörung erst seit zehn Tagen bestehen sollte. Als er den Servicemitarbeiter darauf und auf die Tatsache hinwies, daß sein Internetzugang noch bis einschließlich vorgestern zufriedenstellend seinen Dienst getan hatte, war es nun an diesem, verwirrt zu sein. Es entstand eine längere Pause, während der der Servicemitarbeiter erneut auf der Tastatur seines Computers herumtippte. Als er dann wieder das Wort ergriff, teilte er Clemens mit, daß es überdies ein Großstörung gäbe, von der sein Haus außerdem betroffen wäre. An der Behebung dieser würde aber bereits gearbeitet.

Nun interessierte es Clemens natürlich brennend, wie lange diese Behebung denn wohl dauern würde. Er zögerte nicht, diese Frage umgehend zu stellen. Leider konnte der Servicemitarbeiter sie nicht mit einer brauchbaren Antwort würdigen. Clemens versuchte es anders und wollte wissen, ob denn auch am unmittelbar bevorstehenden Wochenende entsprechende Arbeiten stattfinden würden. Offenbar wußte der Mann hier mehr, denn er versicherte ihm, daß der Sonnabend als Werktag gelte, so daß sich an diesem Tag auf jeden Fall Techniker um die Behebung der Störung bemühen würden. Am Sonntag, das müsse er verstehen, sei das allerdings nicht der Fall.

Mehr war beim besten Willen nicht herauszubekommen, so daß Clemens eine Fortsetzung des Gesprächs nicht sehr sinnvoll erschien. So verabschiedete er sich und legte auf. Was nun folgte, war im wesentlichen eine Wiederholung der Ereignisse des Vorabends. Nicht allzu lange nach dem Ende des Telefonats traf erneut eine SMS ein, die exakt denselben Wortlaut hatte wie die zuvor erhaltene. Wieder wurde ihm die voraussichtliche Behebung einer ihn betreffenden Großstörung für den Zeitraum der nächsten achtundvierzig Stunden angekündigt. Darüber, daß auch diesmal wieder nicht vereinbarte Technikertermine abgesagt wurden, wunderte sich Clemens jetzt schon nicht mehr, da er diese SMS mittlerweile in der Kategorie Kommunikationssimulation einsortierte und sich weigerte, sie ernstzunehmen.

So überraschte es ihn auch nicht sonderlich, als er wenig später interessehalber einen Blick in die Service-App warf und unter der gestrigen Nachricht einen neuen Zusatz vorfand, der erneut lautete:

Behebung der Großstörung im Gange.
Bearbeitung abgeschlossen.

Darunter wurde nun aber ein Link angezeigt, über den es ihm möglich sein sollte, die Störung als gelöst zu markieren, wenn sie denn nicht mehr bestünde. Der war in seinem Falle allerdings absolut nutzlos, da an diesem Abend des zweiten Tages seine Internetverbindung und sein Telefon ebenso dysfunktional waren wie zuvor, ohne daß Clemens den Eindruck hatte, der Lösung auch nur einen Schritt nähergekommen zu sein. Seine Zufriedenheit als Kunde bekam erste Risse…

Dritter Tag

Als Clemens am Morgen – es war ein Sonnabend – erwachte, hatte sich am Zustand seiner Internet- und Telefonleitung nichts geändert. Das war aber auch nicht zu erwarten gewesen. Da er den Tag über außer Haus sein würde, hoffte er darauf, daß die so pflichtbewußt den Sonnabend als Werktag betrachtenden Techniker seines Internetproviders das Problem bis zum Abend in den Griff bekommen haben würden.

Nun, es wurde Abend, Clemens kehrte nach Hause zurück und – Internet und Telefon waren so mausetot wie am Morgen und die beiden Tage zuvor. Da der Sonnabend nicht nur für die Techniker, sondern auch für den Kundenservice als Werktag galt, griff Clemens umgehend zum Telefon. Vielleicht würde es ihm ja beim dritten Versuch endlich einmal beschieden sein, eine brauchbare Antwort zu erhalten.

Als er schließlich eine Servicemitarbeiterin – es war natürlich wieder eine andere – an der Strippe hatte, teilte ihm diese gut gelaunt mit, daß es ja klar sei, daß er momentan von der Außenwelt abgeschnitten sei, schließlich gäbe es bei ihm im Haus ja eine Störung, und zwar schon seit nunmehr elf Tagen. Die müsse halt erst einmal behoben werden. Da müsse er sich nun wirklich nicht wundern. Das sei nun einmal so.

Clemens atmete einmal tief durch. Dann noch einmal. Und dann – nur zur Sicherheit – noch einmal. Als er schließlich glaubte, ruhig genug für eine Antwort zu sein, wiederholte er seinen bereits am Vortag vorgebrachten Hinweis, daß sein Anschluß aber bis vor drei Tagen funktionstüchtig gewesen sei, und verband ihn mit der Frage, wie es denn dann sein könne, daß der Ausfall seines Anschlusses mit dieser Hausstörung zusammenhänge. Daß er darauf keine diesen Umstand erklärende Antwort erhielt, überraschte ihn allerdings nicht sonderlich. Um der Ursache des Problems vielleicht doch noch auf den Grund zu kommen, fragte er stattdessen, wie es sich denn mit der Großstörung verhalte, die man ihm in den Tagen zuvor als Grund genannt hatte. Hier konnte ihm die ob seiner Hartnäckigkeit auf einmal nicht mehr ganz so gutgelaunte Servicemitarbeiterin immerhin die frohe Nachricht verkünden, daß die Servicetechniker ihren sonnabendlichen Werktag ausgesprochen gut genutzt hätten, denn die sei nun behoben. Als er daraufhin wissen wollte, warum es dann weiterhin nicht funktioniere, fand sich Clemens unversehens auf dem weiten Feld der Unklarheit wieder. Das, so teilte die Dame ihm mit, sei weder bekannt noch momentan feststellbar. Auch seine Erkundigung nach einer Prognose zur Behebung des Problems wurde mit dieser Antwort beschieden. Um vielleicht doch noch etwas mehr Engagement zu provozieren, wies er darauf hin – er hatte sich in der Zwischenzeit diesbezüglich informiert -, daß sein Anschluß nun schon seit zwei Tagen gestört sei und daß damit die Frist, die er für die Behebung des Problems zugestehen müsse, verstrichen sei, so daß ab dem jetzigen Zeitpunkt seinerseits Rückerstattungsansprüche entstünden. Darauf erklärte ihm die Dame gleichmütig, das sie das wisse. Er solle die Rückerstattung einfach beantragen, sobald sein Anschluß wieder funktioniere.

Damit war die Unterhaltung an einem Totpunkt angekommen. Eine Fortsetzung des Gesprächs erschien Clemens – wieder einmal – nicht sinnvoll, und so legte er auf. So langsam beschlich ihn der Verdacht, daß man zwei Tage zuvor versucht hatte, das Problem, das irgendwo in seinem Haus bestand, zu beheben, wobei man unglücklicherweise seine bis dahin noch funktionierende Leitung so beschädigt hatte, daß nun auch bei ihm nichts mehr ging. Wenn das allerdings so sein sollte, warum hatte dann beim Kundenservice niemand eine Ahnung davon, was vor sich ging? Er verlangte doch nicht mehr als eine Aussage darüber, was das Problem war, was man zur Lösung zu unternehmen gedachte und wie lange das dauern würde. Doch nicht einmal zur Beantwortung dieser simplen und – wie er fand – durchaus berechtigten Fragen schien der Kundenservice in der Lage zu sein.

Daß Clemens mit dieser Erfahrung nicht allein war, hatte er durch ein Gespräch zweier Nachbarn mitbekommen, dessen er an diesem Tag zufällig Zeuge wurde, als er gemeinsam mit ihnen auf den Fahrstuhl wartete. Auf die Feststellung des einen, daß schon seit Tagen weder Internet noch Telefon funktionierten, antwortete der andere, daß er deswegen schon mit dem Vermieter gesprochen habe. Der hätte ihn allerdings direkt an die jeweiligen Diensteanbieter verwiesen, da all diese Dienste nicht Bestandteil des Mietvertrags seien und er daher leider nichts darüber wisse. Das gelte mittlerweile auch für das Kabelfernsehen. Vom Kabelanbieter habe er, der Nachbar, allerdings keine brauchbare Antwort erhalten. Man habe ihm lediglich gesagt, das könne Wochen dauern.

Na, das waren ja schöne Aussichten. Und offenbar war nicht nur sein Dienstleister nicht in der Lage, mit seinen Kunden eine vernünftige, auf schnelle Problemlösung orientierte Kommunikation zu führen. Clemens verspürte allerdings wenig Lust, sich mit dieser Situation wochenlang auseinanderzusetzen, und beschloß daher, dem Kundenservice seines Internetproviders so lange auf die Nerven zu gehen, bis etwas geschah. Seiner Kundenzufriedenheit war diese Zukunftsperspektive in diesem Augenblick allerdings nicht sehr zuträglich. Sie begann, ernstlich zu bröckeln…

Fünfter Tag

Da am darauffolgenden Sonntag weder Servicetechniker noch Kundenservice arbeiteten, konnte Clemens erst am Montag neue Anstrengungen unternehmen, sein Problem zu lösen. Am Zustand von Internetverbindung und Telefonanschluß hatte sich nicht das Geringste geändert, und da er an diesem Tag noch frei hatte, beehrte er den Kundenservice seines Internetproviders diesmal bereits mittags mit seinem Anruf. Wieder kämpfte er sich durch das Vorgeplänkel mit Service-PIN, Gesprächsthemenauswahl und Datenabgleich – wozu mußte der eigentlich jedesmal wieder durchgeführt werden? Dann hatte er endlich jemanden am anderen Ende der Leitung.

Zunächst wiederholte sich der Clemens schon ebenso hinreichend bekannte wie nutzlose Dialog über die seit angeblich nunmehr dreizehn Tagen bestehende Hausstörung. Neu war daran lediglich, daß der Servicemitarbeiter diesmal darauf bestand, daß die Tatsache, daß sein Anschluß selbst mit der Störung noch ganze zehn Tage funktionsfähig gewesen war, nicht ausschließe, daß sein Problem mit dieser Störung zusammenhänge. Angesichts seiner zwei Tage zuvor aufgestellten Theorie über bereits erfolgte Reparaturversuche, die mehr zerstört als repariert hatten, war Clemens inzwischen durchaus bereit, das zuzugestehen. Da diese Theorie allerdings noch ihrer Überprüfung harrte, zögerte er nicht, den Mitarbeiter zu fragen, wie er diesen Zusammenhang denn erkläre. Leider sah der sich dazu aber nicht in der Lage. Offenbar hatte er einfach ins Blaue hinein argumentiert.

Clemens, den das nicht mehr sonderlich überraschte, kam nun gleich auf den Punkt zu sprechen, der ihn wirklich interessierte: wie lange würde es dauern, bis das Problem behoben sei? Und auf diese seine in der Vergangenheit nun schon mehrfach gestellte Frage erhielt er dieses Mal eine wirklich interessante Antwort!

Der Umstand, der sie so bemerkenswert machte, war allerdings nicht die Tatsache, daß ihm sein Gesprächspartner weiterhin keine Prognose liefern konnte oder wollte – das war Clemens schon gewöhnt, und er hatte kaum mehr erwartet. Das Interessante bestand vielmehr darin, daß er ihm diesmal eine Begründung lieferte, warum denn diese die Zukunft betreffende Prognose so schwierig sei. Er teilte ihm nämlich mit, daß die beschädigten Schaltkästen für all die Verbindungen in seinem Haus in dem Bereich lägen, in dem es gebrannt habe. Und dieser sei aufgrund dieses Brandes immer noch durch eine polizeiliche Sperrung blockiert, so daß die Techniker keinen Zugang erhielten. Und da man ja nun wirklich nicht wissen könne, wann die Polizei den Bereich wieder freigebe, könne man auch keine Prognose abgeben.

Na, das war doch endlich mal eine Information! Allerdings erklärte sie für Clemens immer noch nicht, warum sein Internet- und Telefonanschluß bis Mitte der vorangegangenen Woche noch über eine funktionierende Leitung verfügt hatte. Könnte es vielleicht sein, daß die Störung in seinem Fall auf eine ganz andere Ursache als die Beschädigung durch den Brand zurückzuführen war? Auf seine entsprechende Frage, ob denn das nicht vielleicht mal jemand überprüfen wolle, bevor man das Problem einfach auf die Brandschäden schiebe, antwortete der Servicemitarbeiter lapidar, daß er dafür ja mal einen Arbeitsauftrag anlegen könne, allerdings würde dieser, wenn die Techniker im System den Hinweis auf den Brandschaden sähen, sowieso gleich wieder geschlossen.

Clemens glaubte, sich verhört zu haben. Was war das denn für eine Arbeitsweise! Doch anstatt auf die Sinnlosigkeit eines solchen Vorgehens hinzuweisen – wer war er schon, all den Fachleuten dort zu erklären, wie sie arbeiten sollten – , insistierte er lieber, daß es doch beispielsweise durchaus auch sein könne, daß sein Router einfach nur defekt sei. Und wenn das der Fall wäre, würde es doch wenig Sinn ergeben, pauschal auf die Entsperrung eines Hausbereichs durch die Polizei und die Behebung der Brandschäden zu warten, da es ja danach immer noch nicht funktionierte. Zumindest ihm erschien diese Strategie des systematischen Ausschlusses alternativer Fehlerursachen plausibel, wandte er sie in seinem Beruf als Softwareentwickler doch beinahe täglich erfolgreich bei der Problemlösung an. Ob sein Gesprächspartner das auch so sah oder ihn einfach nur beschwichtigen wollte, um ihn endlich loszuwerden, blieb für Clemens im Dunkeln. Doch immerhin sagte er ihm zu, daß er jetzt einen entsprechenden Auftrag anlege. Ein Techniker würde sich dann bei ihm melden, wenn er weitere Informationen benötige.

Und dann gab der Servicemitarbeiter Clemens mit der Frage, ob er ihm sonst noch irgendwie weiterhelfen könne, deutlich zu verstehen, daß dieses Gespräch nun zu einem Ende zu kommen hatte. – Danke, nein, antwortete Clemens und dachte bei sich: weder hier noch bei irgend etwas Anderem.

Ärger mit dem Internetanschluß - ein Symbolbild
So stellt sich generative KI Clemens‘ Situation vor. Nah dran, würde Clemens wohl sagen…
Erstellt mit generativer KI in Adobe Photoshop.
Alexander Glintschert (2024).
Creative Commons Lizenzvertrag

Nachdem Clemens aufgelegt hatte, dachte er über das eben Gehörte nach. Eine polizeiliche Sperrung also. Konnte das sein? Wenn das stimmte, wieso hatten dann vor einiger Zeit die beiden Techniker vor seiner Tür gestanden, die nach eigenem Bekunden an den Leitungen arbeiteten und sich sogar wunderten, daß Internet und Telefon bei ihm noch funktionierten? Wie hatten die die polizeiliche Sperrung wohl umgangen? Oder gab es die etwa gar nicht?

Plötzlich fiel ihm ein, das er das ja auf einfachste Weise selbst nachprüfen konnte. Schließlich lagen die fraglichen Räumlichkeiten nicht nur in seinem Haus, sondern nur ein Stockwerk tiefer. Er brauchte nur ein paar Stufen nach unten zu gehen und nachzusehen.

Als Clemens kurz darauf vor der Tür zu den in jener Etage befindlichen Räumlichkeiten, in denen sich der Brand ereignet hatte, ankam, stand diese sperrangelweit offen. Er trat ein und bemerkte an der Wand jede Menge herumliegende Kabel, die so aussahen, als würden sie gerade neu verlegt. Die diese Arbeit ausführenden Handwerker waren jedoch offenbar gerade irgendwo unterwegs, denn es war niemand außer ihm hier. Von einer polizeilichen Sperrung war hingegen weit und breit nichts zu sehen.

Wenn ich schon mal hier im Haus unterwegs bin, dachte sich Clemens, kann ich ja auch gleich mal zum Schaukasten in den Eingangsbereich gehen und die Telefonnummer des Hausmeisters abschreiben, um ihn danach zu fragen. Als er auf dem Weg dorthin an dessen Büro vorüberkam, war dieser zufällig gerade dort. Clemens ergriff die Gelegenheit beim Schopfe und erzählte ihm von seinem Problem und der Auskunft, die er vom Kundenservice des Internetproviders gerade erhalten hatte. Der Hausmeister fiel buchstäblich aus allen Wolken. Nix sei noch gesperrt, schon seit Tagen seien alle Räume für jede Art Handwerker, die etwas zu reparieren hätten, zugänglich, die könnten schalten und walten, wie sie wollten, und seien bei der Arbeit. „Sagen Sie denen das!“ beschied ihn der Hausmeister abschließend.

Clemens bedankte sich herzlich für diese Informationen und kehrte schnurstracks in seine Wohnung zurück. Wollen doch mal sehen, dachte er bei sich, was der Kundenservice dazu sagt. Auf die Reaktion war er nun wirklich gespannt.

Es war erst eine gute halbe Stunde seit seinem vorigen Anruf vergangen, da hatte er wieder einen menschlichen Gesprächspartner in der Leitung. Natürlich war es nicht derselbe wie zuvor, allerdings war ihm das egal, konnte er doch daran sowieso nichts ändern. Er schilderte sein Problem, wiederholte die Antwort, die er zuvor vom Kollegen des Mitarbeiters erhalten hatte und ließ den Hinweis auf die darin enthaltene grobe Fehlinformation und den wahren Sachverhalt den Höhepunkt seiner Ausführungen bilden.

Es überraschte Clemens nicht sonderlich, daß der Servicemitarbeiter, mit dem er sprach, sich daraufhin etwas Bedenkzeit ausbat, indem er ihm mitteilte, daß er das eben kurz überprüfen müsse. Hab ich Euch, dachte Clemens nicht ganz ohne Schadenfreude, während er wieder für eine Weile lediglich eine Folge von Tastenanschlägen hörte. Doch er hatte die Rechnung ohne die Kreativität des Kundenservices gemacht und zu früh frohlockt! Als sich der Servicemitarbeiter schließlich zurückmeldete, bestand seine Antwort nur aus einem einzigen Satz: im System stünde, die Techniker seien bei der Arbeit und die Störung würde diese Woche behoben.

Clemens konnte sich ein kurzes Auflachen und den zugegebenermaßen etwas sarkastischen Hinweis, daß das ja nun eine völlig neue Information sei, nicht verkneifen. Sein Gesprächspartner wiederholte daraufhin noch einmal, daß das so im System stünde.

Clemens fühlte sich versucht zu fragen, wie das denn wohl so plötzlich dorthin gekommen sein könnte. Da er jedoch ahnte, daß das zwar verständlich, doch kaum hilfreich sein würde, sparte er sich das und fragte stattdessen zielführender, was denn „diese Woche“ genau bedeute: eher Dienstag oder eher Freitag? Nun, das wußte der gute Mann dann allerdings nicht zu sagen. Das stand, wie es schien, nicht im System.

Da mehr Information wieder einmal nicht herauszubekommen war, beschloß Clemens das Gespräch mit der Bemerkung, daß er sich dann wohl überraschen lassen müsse.

Eine Woche also. Nun, die auflaufende Rückerstattung wurde immer höher. Clemens‘ Zufriedenheit als Kunde befand sich hingegen mittlerweile im stetigen Sinkflug…

Neunter Tag

Internet und Telefon tot. Internet und Telefon tot. Internet und Telefon tot…

So langsam wurde diese Feststellung zu einem täglichen Abendmantra für Clemens. Hatte er zu Wochenbeginn darauf gehofft, daß das Problem möglichst früh in der Woche behoben würde, mußte er Abend für Abend, wenn er nach Hause gekommen war, feststellen, daß sich am Zustand seiner Internetverbindung und seines Telefons nichts geändert hatte. So war es dann auch am Freitagabend. Dementsprechend war seine Laune nicht die beste.

Nun war ihm durchaus klar, daß der etwaige Einwand, daß er ja bereits wußte, daß die Techniker seines Internetproviders auch am Sonnabend arbeiteten und daß „Ende der Woche“ also diesen Tag durchaus einschließen mochte, nicht ganz ungerechtfertigt war. Allerdings war seine Geduld an diesem zweiten Freitagabend der Störung dann doch bereits arg erschöpft. Mehr als eine Woche war sein Anschluß nun nicht einfach nur gestört, sondern vollumfänglich funktionsunfähig, und es zeichnete sich keine Besserung ab.

So griff er also erneut zum Mobiltelefon und wählte die ihm schon einschlägig bekannte Nummer. Auch seine Service-PIN und sämtliche im Zuge des vorgeschalteten Hindernislaufs geforderten Daten wußte er inklusive Reihenfolge ihrer Abfrage mittlerweile auswendig, so daß er die entsprechenden Auswahlen und Eingaben bereits tätigte, bevor die enervierende Computerstimme überhaupt ausgesprochen hatte. Auch die Warteschleifenmusik konnte er nun schon korrekt mitsingen – inklusive englischen Texts. Dann war er endlich wieder mit einem Mitarbeiter verbunden und fragte angesichts der fortbestehenden Dysfunktionalität von Internet- und Telefonverbindung nach dem Stand der Dinge.

Also im Computer stünde, die Störung sei behoben, teilte ihm der Kollege am anderen Ende der Leitung mit. Clemens klappte die Kinnlade herunter. Wie bitte? Doch bevor er auch nur zu der Entgegnung ansetzen konnte, daß er davon irgendwie so gar nichts bemerken könne, fügte der Servicemitarbeiter ein zweifelndes „Oder doch nicht?“ hinzu. Hinter der Mitteilung sei ein Fragezeichen, setzte er Clemens in Kenntnis. Und fuhr fort: also da wisse er jetzt auch nicht…

Nun, den Eindruck, daß dort niemand etwas wußte, hatte Clemens schon länger. Weise verzichtete er allerdings darauf, das zu sagen, sondern kam noch einmal auf seine schon Anfang der Woche gestellte Frage zurück, ob es denn nicht auch am Router liegen könne und ob man das nicht einfach mal zu überprüfen gedenke. Schließlich hatte sich trotz angeblich dazu erteiltem Auftrag in der ganzen zurückliegenden Woche niemand diesbezüglich mit ihm in Verbindung gesetzt. Doch auch dieser Kollege schien dazu keine Lust zu haben, denn er lehnte den entsprechenden Test rundweg ab. Solange nicht klar sei, ob die Störung noch bestehe, brauche er das nicht zu versuchen.

Clemens hatte Fragen… Eine Menge Fragen…

Doch bevor er auch nur eine davon stellen konnte, versicherte ihm sein Gesprächspartner beflissen, daß er die Angelegenheit jetzt aber wirklich dringend mache. Es werde ihn auf jeden Fall ein Techniker kontaktieren, per Telefon oder per Email.

Guter Witz. Clemens mußte ein lautes Auflachen unterdrücken.

So höflich, wie er nur irgend konnte, wies er darauf hin, daß eine Email ohne einen funktionierenden Internetzugang ihm wohl wenig bringen dürfte, woraufhin der Mann am anderen Ende der Leitung umgehend die Alternativen reduzierte und auf die Kontaktaufnahme per Telefon beschränkte. Selbstverständlich unter Clemens‘ Mobilfunknummer.

In der Tat hätte Clemens die Email kaum mehr empfangen können, da nach der nun schon über eine Woche andauernden Ausfallzeit seines Internetzugangs auch das Datenkontingent seines Mobiltelefons bereits so erschöpft war, daß der den verbliebenen kleinen Rest für die alltäglichen Alltagsgeschäfte wie beispielsweise den Fahrscheinkauf für den Bus aufsparen mußte.

Ihm war die Lust auf weitere Fragen vergangen, und so beendete Clemens das Gespräch. Seine Kundenzufriedenheit war inzwischen an einem Punkt angekommen, an dem er die am Ende jedes Telefonats mit dem Kundenservice gestellte Frage, ob man den Internetprovider einem Freund oder Kollegen weiterempfehlen würde, mit einem inbrünstig ausgerufenen „Niemals!“ beantwortet hätte…

Zwölfter Tag

Keine Sekunde hatte Clemens daran geglaubt, daß ihn irgendjemand kontaktieren würde. So war erneut er derjenige, der den Kontakt wieder aufnahm, als drei Tage und damit ein weiteres Wochenende später – mittlerweile näherte sich das Ende des Monats – immer noch nichts funktionierte und sein Router seine stupide Blinkerei ob der nicht vorhandenen Internetverbindung stoisch fortsetzte. Entweder hatten sie es wieder einmal vergessen oder aber der Sonnabend war überhaupt kein Arbeitstag für die Techniker. Mittlerweile stellte Clemens alles in Frage, was ihm vom Kundenservice aufgetischt wurde.

Die Uhr zeigte kurz nach Mittag, als er seinen nächsten Anruf tätigte. Es war das erste Mal, daß er jemanden am Telefon hatte, mit dem er bereits gesprochen hatte. Es war die Dame vom ersten Telefonat.

Ja, also, das sei wirklich merkwürdig, meinte sie, daß sich da niemand bei ihm gemeldet habe. Nein, sie könne ihm nicht sagen, wie lange es noch dauerte, bis repariert sei, was auch immer repariert werden müsse. Und ob die Störung nun behoben sei, könne sie auch nicht sagen. Im Computer sei sie noch vermerkt. Sie gebe das weiter. Und mache das dringend. Die Techniker würden sich melden. Per Email oder Telefon.

Email bringe nichts, warf Clemens gelangweilt ein.

Na gut, dann per SMS oder Telefon. Oha! Eine neue Option war für ihn im Angebot.

Clemens war gedanklich noch bei der SMS, da fragte sie ihn plötzlich, ob er denn mit seinem Vertrag zufrieden sei. Ja nun, was sollte er sagen… Prinzipiell schon, erwiderte er, wenn denn mal was funktionieren würde.

Sie ignorierte die Spitze und erklärte ihm, daß sie im Computer sehe, daß er von seinem Anschluß auch Handynummern anrufen würde. Das koste extra. Und überhaupt zahlte er zuviel. Da könne sie was machen. Moment…

Nun war sie eine Zeitlang beschäftigt. Und Clemens gingen eine Reihe von Fragen durch den Kopf. Die erste, warum bei seinem Anbieter eigentlich jeder Servicemitarbeiter Zugriff auf seine Liste angerufener Nummern hatte, schob er gleich beiseite – das hier zu diskutieren, würde wohl nichts bringen. Viel unmittelbarer interessierte ihn, ob sie das eigentlich wirklich ernst meinte. Seit Tagen rief er immer wieder wegen einer bestehenden Störung an, und sie fragte ihn nach seiner Zufriedenheit mit seinem Vertrag?

Nach einer Weile teilte sie ihm mit, sie hätte da ein einmaliges Angebot für ihn. Sein Modem sei ja veraltet. Das könne sie ersetzen. Womit, fragte Clemens unwillkürlich. Sie sagte es ihm, und ihm war sofort klar, daß er nicht nur ein Nachfolgemodell seines Routers bekommen würde, sondern ein gänzlich anderes Gerät. Als er bekundete, daß er das nicht wolle, da er keine Lust hatte, alles gänzlich neu einzustellen, legte sie den Vorschlag sofort zu den Akten. Wenn er keinen anderen Gerätetyp wolle, wäre eine Aktualisierung eben nicht möglich. Aber weniger zahlen, das ginge trotzdem. Fast zehn Euro pro Monat könne er sparen. Er müsse dann aber TV dazunehmen, das er bisher nicht im Vertrag habe.

Äh, was? Clemens war verwirrt. Schon wieder. Was war das denn für eine Logik? Er mußte etwas dazubestellen, damit er weniger zu bezahlen hatte?

Da er schon ahnte, daß das ein längeres Gespräch werden würde, wenn er diese Frage stellte, beschloß er, kurzerhand die Antwort zu geben, die der Wahrheit entsprach und von der er dachte, daß sie die Debatte sofort beenden würde: Für Fernsehen habe er keine Verwendung. Er könne sich auch so ganz gut beschäftigen.

Er hatte sich geirrt. Das Gespräch war nicht zu Ende. Offenbar wollte sich seine Gesprächspartnerin durch sein offenkundiges Desinteresse an einer Vertragsänderung nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen, ihm eine solche aufzuschwatzen. Nur weil er sich für Fernsehen nicht interessiere, heiße das ja noch lange nicht, daß er es nicht dazubuchen könne. Und wenn er es wirklich nicht nutzen wolle, dann solle er doch einfach das „Zusatzgerätchen“, das man ihm dafür liefern würde, in den Schrank legen und nicht nutzen. Das wäre doch sicher kein Problem für ihn, wenn er dafür doch sparen könnte. Wieso ein Vertrag mit TV allerdings billiger als einer ohne sein sollte, erklärte sie Clemens nicht.

Dafür kam sie nun auf den Haken zu sprechen, den die Angelegenheit hatte. Clemens war nicht überrascht, daß es einen gab. Worin der wohl bestand? Sie sagte es ihm. Er bekäme auf jeden Fall noch ein neues Produkt dazugebucht.

Noch eins?

Ja, was ganz Neues. Sie ratterte in rasendem Tempo irgendeine Beschreibung herunter, die er auf die Schnelle nicht verstand. Nur, daß es sich um eine Art Testphase handle, blieb bei ihm hängen. Und daß das daher auch einige Monate gar nichts koste.

Und dann?

Ja, dann laufe das halt weiter und koste Geld. Und wenn er das dann nicht weiternutzen wolle, müßte er das in dieser Zeit halt wieder kündigen.

Nepper, Schlepper, Bauernfänger, ging es Clemens durch den Kopf. Er teilte ihr postwendend mit, daß er nichts dazugebucht bekommen wolle, von dem er bereits wisse, daß er es nicht brauche, weshalb er es dann gleich wieder kündigen müsse.

Das brachte sie etwas aus der Fassung. Aber er würde doch fast zehn Euro sparen! Pro Monat!

Jaja, das habe er verstanden, erklärte Clemens, nun schon sichtlich genervt. Wolle er aber trotzdem nicht.

Jetzt war es an ihr, genervt zu sein. Warum er sich so sträube, wollte sie wissen. Und warum er denn partout nicht sparen wolle?

Nun, das hatte er zwar nie behauptet, aber Clemens verspürte wenig Lust, das Gespräch mit einer entsprechenden Erklärung unnötig noch weiter in die Länge zu ziehen. Da jede Ablehnung sie lediglich noch mehr anzustacheln schien, sich in’s Zeug zu legen, um ihn zu überzeugen, sagte er stattdessen, sie solle ihm das Ganze schriftlich zukommen lassen, er wolle das noch einmal in Ruhe prüfen. Nach ein paar Erklärungen am Telefon könne er das nicht gut überblicken und fühle sich überfahren.

Endlich sah sie ein, daß sie mit ihm in diesem Augenblick kein Geschäft würde machen können, und versprach Clemens daher, alles noch einmal in einer Email zusammenzufassen. Er müsse dann nur auf den darin enthaltenen Freigabe-Link klicken und schon werde die Vertragsänderung wirksam. Alles ganz einfach also.

Daß Clemens diese Email wohl kaum würde lesen können, da er ja momentan über keinen funktionierenden Internetanschluß mehr verfügte und daher auch keine Emails empfangen konnte, fiel ihr dabei nicht auf…

Es dauerte nach dem Ende dieses nutzlosen Gesprächs nur wenige Minuten bis zum Eintreffen einer SMS. In dieser teilte man Clemens mit, daß man sein Störungsanliegen erfaßt habe. War das jetzt ein Fortschritt? Desweiteren versprach man, sein Anliegen schnellstmöglich zu lösen und sich bei ihm zu melden. Sogar einen Termin gab man an. Voraussichtlich sei das Problem in spätestens achtundvierzig Stunden gelöst.

Da waren sie wieder, die ominösen achtundvierzig Stunden, von denen für Clemens mittlerweile nur eines absolut sicher war: daß in diesem Zeitraum genau nichts passieren würde. Seine Zufriedenheit als Kunde war mittlerweile gestorben…

Dreizehnter Tag

Nach wie vor funktionierten weder Internetzugang noch Telefon. Clemens war nur froh, daß er seit jeher niemand war, der sein Zuhause gerne zu seinem Arbeitsplatz machen wollte. So vermißte er die ihm abhanden gekommene Möglichkeit zum Home Office überhaupt nicht. Zuhause war für ihn Zuhause und Arbeit war Arbeit. Das sollte bitteschön stets sauber getrennt bleiben. Nun war es durchaus nicht so, daß er es nicht durchaus praktisch fand, zu Hause arbeiten zu können, wenn er mal eine Lieferung oder einen Handwerker erwartete, mußte er doch dafür dann nicht einen kostbaren Urlaubstag verschwenden. Er wollte jedoch keine Gewohnheit daraus machen und die Arbeit auf diese Weise Schritt für Schritt in sein Privatleben einsickern lassen…

Clemens war gerade von der Mittagspause wieder an seinen Arbeitsplatz im Büro zurückgekehrt, als eine SMS auf seinem Mobiltelefon eintraf. Da sie von seinem Internetprovider war, flackerte in ihm kurz die Hoffnung auf, es könnte nun endlich einen Schritt vorwärtsgehen, doch erstarb dieses kleine Flamme sofort wieder, als er die Nachricht las. Man informierte ihn darüber, daß man ihm eine Email mit allen Details zur Vertragsänderung zugesendet habe. Und er müsse diese mit lediglich einem Klick nur noch bestätigen, um die Bestellung abzuschließen.

Leider war es ihm nicht möglich, an die Email zu gelangen, da unglücklicherweise sein Internetanschluß gerade gestört war. Manchmal habe ich aber auch echt Pech, dachte Clemens und grinste vor sich hin. Ganz offensichtlich wirkte sich der Tod seiner Kundenzufriedenheit negativ auf seine Bereitschaft für weitere Abenteuer mit seinem Internetprovider aus…

Vierzehnter Tag

Bis zum Morgen des nächsten Tages – es war ein Mittwoch – hatte sich nichts verändert. Da Clemens den Tag in der Firma verbrachte und sich bisher wie erwartet auch niemand bei ihm gemeldet hatte, war ihm der aktuelle Status seines Internet- und Telefonanschlusses unbekannt, als er am frühen Nachmittag erneut eine SMS erhielt:

Hallo, leider verzögert sich die Bearbeitung Ihres Auftrages. Verfolgen Sie Ihren Bestellstatus online. Ihr Kundenservice.

Zusätzlich war ein Link enthalten, mit dessen Hilfe er der Aufforderung offenbar nachkommen konnte, wenn er denn wollte. Da Clemens zunächst dachte, es gehe um die Störung seines Anschlusses, war er etwas verwirrt ob dieser lapidaren, nichtssagenden Nachricht. Doch dann fiel ihm der Begriff „Bestellstatus“ auf. Ein Blick ins Kundenportal förderte einen weiteren Hinweis zutage. Hier teilte man ihm mit, daß seine Bestellung bearbeitet würde, und stellte ihm einen Link zum Einrichtungsassistenten für seine Hardware bereit. Da er jedoch keinerlei Ahnung hatte, was er damit sollte, schließlich hatte er weder die Änderung seines Vertrages beauftragt noch irgendwelche Hardware für irgendwas bestellt, beschloß er, die Nachricht einfach zu ignorieren.

Da sich bis zum Abend immer noch niemand bei ihm gemeldet hatte und sein Anschluß auch weiterhin außer Funktion war, rief Clemens erneut beim Kundenservice an. Wer auch immer diesmal das Pech hatte, seinen Anruf entgegenzunehmen, würde sich auf einiges gefaßt machen müssen. Seine Geduld war endgültig am Ende.

Clemens eröffnete das Gespräch mit der Feststellung, daß ihm die Behebung der Störung seines Anschlusses bis heute versprochen worden war, daß dies aber nicht der Fall sei und, da es jetzt bereits kurz vor Dienstschluß für den Kundenservice war, wohl auch nicht davon auszugehen sei, daß das noch geschehe. Er wolle nun wissen, wie der Stand sei.

Natürlich bekam er erst einmal die fast schon obligatorische Antwort aufgetischt, daß es da doch eine Hausstörung gebe. Doch dann wollte der Servicemitarbeiter plötzlich wissen, ob das ein Mehrfamilienhaus sei, in dem Clemens wohnte.

Nun ja, dachte Clemens, das könnte man wohl so sagen. Mehr als zehn Wohnetagen, jede mit einer großen Anzahl Wohnungen. Geht das als Mehrfamilienhaus durch?

Er sparte sich allerdings den Sarkasmus und beschränkte seine Antwort auf ein einfaches Ja, an das er noch die Erklärung bezüglich der Etagen und Wohnungsanzahlen anfügte. Da der Servicemitarbeiter nun weder eine Erklärung abgab, warum er das hatte wissen wollen, noch irgendetwas mit dem erlangten Wissen anzufangen gedachte, wiederholte Clemens seinen Hinweis auf das nicht gehaltene Versprechen der Störungsbehebung bis zum heutigen Tag und fragte erneut nach dem aktuellen Status. Daraufhin erklärte ihm der Servicemitarbeiter, daß er darüber leider auch nicht mehr sagen könne. Die Bearbeitung dauere wohl noch an, der Fall sei noch offen. Und die achtundvierzig Stunden seien ja irgendwie auch noch gar nicht ganz um.

In Gedanken ging Clemens eine Runde um den Block, um ruhig zu bleiben, bevor er antworten konnte. Sein letzter Anruf, so setzte er seinem Gesprächspartner anschließend geduldig auseinander, habe vor zwei Tagen mittags stattgefunden. Jetzt sei es zwei Tage später und abends, damit seien doch sehr wohl achtundvierzig Stunden um. Und er ginge nicht davon aus, daß heute am späten Abend noch irgendein Techniker an irgendeiner Leitung Reparaturen vornehme, so daß sich der gegenwärtige Zustand heute noch ändere. Oder etwa doch?

Clemens hätte hinterher nicht mehr zu sagen vermocht, ob das Anschwellen seiner Stimme im Laufe seiner Ausführungen, daß schließlich darin gipfelte, daß er die letzte Frage förmlich herausschrie, lediglich in seiner Vorstellung stattgefunden hatte oder ob das wirklich geschehen war. Allerdings sprach die Tatsache, daß der Servicemitarbeiter ihm vollkommen normal antwortete, für Ersteres. Glücklicherweise, wie Clemens fand.

Der Mitarbeiter mußte wohl oder übel zugeben, daß Clemens wohl recht habe. Und da er ihn nun schon in der Defensive hatte, nutzte Clemens die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß die Störung mittlerweile bereits seit zwei Wochen anhalte und er mehr als unzufrieden sei, weil sich niemand darum kümmere, niemand sage, was das Problem sei und niemand eine Aussage mache, was getan werde und bis wann.

Wenn er nun gehofft hatte, daß das irgendeine andere Reaktion provozieren würde als den Versuch, ihn zu beschwichtigen, wurde er enttäuscht. Der Mitarbeiter versicherte ihm lediglich, daß er ihn absolut verstehe und die Angelegenheit deswegen jetzt wirklich dringend mache. Innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden werde sich definitiv jemand bei ihm melden.

Nun, das hatte Clemens jetzt wirklich schon mehrfach gehört. Er teilte das dem Kollegen mit und fügte an, daß es sich immer um achtundvierzig Stunden handle, in denen dann allerdings stets genau nichts geschah. Ob das normal sei bei seinem Unternehmen, wollte er schließlich wissen.

Was nun folgte, war eine langwierige und nach Clemens‘ Empfinden ziemlich wirre Erläuterung, die er nicht in allen Einzelheiten behielt und von der er später nur noch wußte, daß sie irgendwas mit der Änderung von Rahmenbedingungen von Verträgen zu tun hatte, die sehr viel Umstellung und Arbeit bedeuten würde und es aus irgendwelchen Gründen notwendig mache – warum auch immer -, daß auch die Techniker involviert werden müßten, die daher voll im Einsatz zu sein hätten, um irgendwas zu gewährleisten und zu unterstützen und überhaupt…

Hatte diese Erklärung immerhin den Vorzug, daß Clemens sie noch nie gehört hatte, so half sie ihm doch in gar keiner Weise weiter. Das war auch der Grund, daß sie ihn letztlich auch überhaupt nicht interessierte, und so ging er nicht weiter darauf ein. Stattdessen sagte er dem Servicemann klipp und klar, daß er, wenn sich an der bisherigen Art und Weise, mit dem Problem umzugehen, nicht sofort grundlegend etwas ändere, kündigen würde. Schließlich könne ihm ja bisher nicht mal jemand sagen, ob sein Problem überhaupt mit der Hausstörung zusammenhänge. Es könne ja auch der Router einen Defekt haben, was aber bisher trotz seiner mehrfachen Nachfragen diesbezüglich nicht mal jemand überprüfen wolle. Das sei außerordentlich unbefriedigend.

Offenbar wurde dem Mann am anderen Ende der Leitung nun endlich klar, daß es Clemens mehr als ernst war, denn er versuchte jetzt, ihn wieder zu beruhigen. Und er gab sich, wie Clemens anerkennen mußte, dabei durchaus Mühe.

Tatsächlich tat ihm der Servicemitarbeiter sogar ein wenig leid, hatte er doch heute das Unglück gehabt, seinen Anruf zugelost zu bekommen. Clemens glaubte ihm sofort, daß er, der den Kunden, also ihn, am Telefon hatte, von allen am wenigstens tun konnte, um das Problem zu lösen. Andererseits waren er und seine Kolleginnen und Kollegen die einzigen Ansprechpartner, die man den Kunden zugestand. Eine wirksame Möglichkeit zur Reklamation gab es nicht – zumindest hatte Clemens keine gefunden -, sah man einmal von den bereits erwähnten nutzlosen Befragungen zur Kundenzufriedenheit ab, die es am Ende jedes Gesprächs gab. Mit wem sonst hätte er denn sprechen sollen? Wo sonst könnte er sein Anliegen und seinen Ärger über dessen konstante Nichtbearbeitung vorbringen? Seine einzige Hoffnung war, daß er, wenn er das hier bei diesem armen Teufel tat, vielleicht eine Eskalation in Gang setzen konnte, die tatsächlich etwas an dem bisherigen Umgang mit der Angelegenheit veränderte.

Natürlich waren die unmittelbaren Möglichkeiten dieses Servicemitarbeiters, Clemens weiterzuhelfen, beschränkt, und so konnte er ihm abschließend lediglich versichern, daß sich ganz gewiß jemand innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden bei ihm melde. Und weil er sich dann doch noch daran erinnerte, daß man Clemens diesen Zeitraum schon mindestens einmal zu oft versprochen hatte, fügte er noch an, daß es, wenn das nicht klappe, vielleicht auch drei Tage oder so werden könnten.

Ja, meinte Clemens, seinen wieder aufkommenden Sarkasmus nicht ganz unterdrücken könnend, dann ist wieder Wochenende.

Zum Ende des Gesprächs bat er seinen Gesprächspartner noch, den zwei Tage zuvor angelegten Vorgang zur Vertragsänderung wieder zu löschen, er wolle jetzt erstmal die Wiederherstellung seines Anschlusses abwarten, bevor er irgendwelche vertraglichen Änderungen vornähme. Offenbar ehrlich erfreut, ihm diesmal tatsächlich wirklich weiterhelfen zu können, teilte ihm der Servicemitarbeiter mit, daß das gar nicht nötig sei, denn wenn er den Auftrag nicht innerhalb von acht Tagen bestätigte, würde dieser sowieso automatisch gelöscht.

Nun, das war Clemens auch recht. Ob er innerhalb dieser Frist überhaupt wieder einen funktionsfähigen Internetzugang haben würde, der ihn in die Lage versetzte, die betreffenden Emails zu lesen, stand ja sowieso noch immer in den Sternen.

Kundenzufriedenheit? Mittlerweile wußte Clemens schon gar nicht mehr, was das Wort bedeutete…

Fünfzehnter Tag

Es geschahen noch Zeichen und Wunder. Am Morgen dieses folgenden Tages – Clemens hatte gerade das Gebäude, in dem er arbeitete, betreten – erhielt er einen Anruf von einer Frau, die sich als Angehörige einer Firma vorstellte, die im Auftrag seines Internetproviders arbeite und die Störung seines Internet- und Telefonanschlusses beheben solle. Sie wolle nun mit ihm einen Termin vereinbaren. Wann er denn in der kommenden Woche Zeit hätte. Sie könne ihm den Montag oder den Dienstag anbieten. Die Techniker müßten in den vom Brand betroffenen Räumen arbeiten, es könne aber sein, daß sie auch in seine Wohnung müßten, daher wäre seine Anwesenheit erforderlich.

Da sich Clemens, als der Anruf kam, gerade auf dem Flur vor dem Büro befand, in dem er arbeitete, war er nicht gerade entspannt, wie er da so mit Tasche und Jacke in der einen Hand und Telefon in der anderen im Gang herumstand. Doch hütete er sich wohlweislich, das Gespräch abzulehnen, denn schließlich wollte er nicht das Risiko eingehen, es auf den Sankt-Nimmerleinstag zu verschieben. Schnell sagte er, da er an diesem Tag frei hatte, den kommenden Montag zu, obgleich er aus dem Stand gar nicht wußte, ob er nicht gegebenenfalls schon andere Verabredungen für diesen Tag hatte. Er würde sich jedoch, dachte er, anschließend in Ruhe überlegen können, was er dafür gegebenenfalls alles umorganisieren mußte. Glücklicherweise war das Zeitfenster, das sie ihm als nächstes nannte, vergleichsweise klein – gerade einmal fünf Stunden am Nachmittag. Er fragte noch, ob er irgendwas vorzubereiten hätte – Möbel beiseite rücken oder so -, doch sie erklärte ihm, es sei noch nicht einmal klar, ob in seiner Wohnung überhaupt etwas gemacht werden müsse, die Techniker müßten sich das erst einmal ansehen. Er müsse also nichts vorbereiten, das finde sich dann schon.

Clemens war von den Socken. Na, Mensch. Das war ja mal ein Ding. Wer hätte denn damit noch gerechnet? War das nun Zufall oder hatte seine Drohung zu kündigen etwa doch etwas ausgelöst? Da er das sowieso nicht herausfinden würde, dachte er nicht weiter darüber nach. Allerdings war ihm nun klar, warum es so schwierig war, Informationen über das, was die Techniker taten und feststellten, bis zum Kundenservice zu bringen, und warum jener so gar keinen Zugriff auf die Techniker hatte, um direkt etwas in die Wege zu leiten. Ganz offensichtlich hatte sein Internetprovider einige, wenn nicht alle Bereiche des technischen Stabes an externe Firmen ausgelagert. Outsourcing nannte man das, und angeblich sollte das für Unternehmen oft kostengünstiger sein, als eigenes Personal zu beschäftigen. Allerdings wurden dafür dann Kommunikation und Koordination um einiges erschwert… Der Dumme war am Ende – wie so oft – der Kunde – in dem Fall also Clemens -, der nichts erfuhr und sich vorkam, als kämpfe er gegen Windmühlen.

Zwar stand ihm nun ein weiteres Wochenende – das dritte – ohne funktionierenden Internetzugang bevor, doch war Clemens dennoch mehr als nur froh, daß sich nun endlich etwas tat.

Über seine Zufriedenheit als Kunde wollte er dann aber doch noch nicht wieder nachdenken…

Neunzehnter Tag

An diesem Montag, kurz nach dem Start des vereinbarten Zeitfensters, klingelte es an der Tür zu Clemens‘ Wohnung und zwei Techniker meldeten sich bei ihm zum Dienst. Sie hatten sich die Anlage eine Etage tiefer bereits angesehen und wollten nun die Leitungsführung in seiner Wohnung begutachten. Nachdem sie das getan hatten, erklärten sie ihm, daß sie auch hier tätig werden müßten, zeigten sich jedoch zuversichtlich, den Schaden beheben zu können, und machten sich unversehens an die Arbeit. Während sie noch einige Vorbereitungen trafen, schaffte Clemens rund um den über Putz gelegten Kabelschacht und die Anschlußdose etwas Baufreiheit. Als sie dann schließlich loslegten, hatten sie – der eine in der Wohnung, der andere eine Etage tiefer – reichlich zu tun. Leitungen wurden ausgetauscht und viele Kabel durchtrennt und neu verbunden. Das dauerte gute zwei Stunden.

Die beiden arbeiteten schnell, zielstrebig und äußerst professionell. Als sie ihre Tätigkeit schließlich abschlossen, testeten sie gemeinsam mit Clemens seinen Anschluß. Er verband seinen Router, den er vorher entfernt hatte, wieder mit der Anschlußdose und schaute gebannt auf die Power-LED. Sie blinkte einige Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, bis sie sich schließlich entschied, in ein dauerhaftes, freundliches Leuchten überzugehen.

Sollte es wirklich wahr sein? Sollte sein Internetanschluß tatsächlich wieder funktionieren?

Er sollte! Stolz vermeldete sein Tablet, daß es nicht nur die Verbindung zu Clemens‘ WLAN, sondern auch zum Internet erfolgreich hatte herstellen können. Alles war wieder in Funktion. Die digitale Welt hatte ihn wieder. Oder er sie.

Clemens dankte den beiden Technikern für ihre gute Arbeit und sie zogen weiter, ihrem nächsten Auftrag entgegen.

Am frühen Abend dieses schönen Tages entging Clemens ein Anruf auf seinem Smartphone. Wie er der ihm nun schon hinreichend bekannten Nummer entnehmen konnte, kam er vom Kundenservice seines Internetproviders. Er vermutete, daß man ihm den erfolgreichen Abschluß der Arbeiten hatte mitteilen wollen. Nach all seinen fruchtlosen Anrufen innerhalb der letzten neunzehn Tage, nach all den versprochenen und nie erfolgten Anrufen und all dem damit verbundenen Ärger erschien es ihm irgendwie als ausgleichende Gerechtigkeit, daß sie nun ihrerseits damit gescheitert waren, ihn zu kontaktieren.

Es gab keinen zweiten Versuch. Doch dafür eine Email. Und die konnte er ja nun immerhin wieder lesen. Es war tatsächlich die Vollzugsmeldung.

Kundenzufriedenheit? Die würde sich sein Internetprovider in nächster Zeit erst einmal wieder verdienen müssen…

Epilog

Ein oder zwei Tage später erfuhr Clemens von seinem Nachbarn, der, wie er wußte, den gleichen Provider hatte, daß bei ihm Telefon und Internet immer noch nicht verfügbar waren. Wenn das stimmte, waren die Techniker lediglich damit beauftragt worden, die Störung für den Leitungstrakt zu beheben, an dem seine Wohnung angeschlossen war. Eine generelle Reparatur hatte es, so wie es aussah, nicht gegeben. Da hatten seine Hartnäckigkeit und seine Drohung zu kündigen am Ende vielleicht doch etwas bewirkt. Für Dienst am Kunden, egal ob groß geschrieben oder klein, sprach dieser Umstand allerdings weniger…

Das Jahr geht zu Ende. Zum Glück.

Dieser Beitrag ist Teil 9 von 9 der Beitragsserie "Gedanken zum Jahreswechsel"

Rumms!
Zisch!
Krach!
Bumm!
RATTATTATTATTATT!

Was sich an diesem letzten Abend des Jahres 2024 vor meinem Fenster akustisch abspielt, klingt gefährlich.  Es pfeift. Es donnert. Es kracht. Und wenn ich hinsehe, kann ich es auch blitzen sehen. In einem fort und ununterbrochen. Da fällt es angesichts der Entwicklungen, die es in diesem Jahr gegeben hat, mehr als schwer, das lediglich für das Silvesterfeuerwerk zu halten, das es ist. Viel anders kann ein Krieg auch nicht klingen. Und dem sind wir nach diesem Jahr 2024 leider noch nähergekommen, als uns lieb sein kann.

Der Trend, den ich in meinem Text zum vorangegangenen Jahreswechsel ausgemacht hatte, hat sich in diesem Jahr 2024 leider fortgesetzt. Ja mehr noch, er hat sich verstärkt. Und zwar in jeglicher Hinsicht.

Was ich bisher nur aus Geschichtsbüchern über die Zeiten vor den beiden Weltkriegen kannte, schallt mir nun tagtäglich entgegen: Kriegspropaganda. Nur vom Frieden will irgendwie keiner etwas wissen, scheint es. Jedenfalls nicht in den höheren Etagen der hiesigen Politik. Jede noch so vorsichtige Initiative, die in diese Richtung führen könnte, wird vehement ausgeschlagen und abgewürgt. Und eigene Vorschläge werden erst gar nicht gemacht. Stattdessen erklärt man uns, es sei wichtig, die Kriegsmüdigkeit endlich abzulegen und uns kriegstüchtig zu machen.

Nie in meinem bisherigen Leben hatte ich auch nur daran gedacht, daß ich einem derartigen Wahnsinn einmal ausgesetzt sein würde. Hatte es nicht „Niemals wieder!“ geheißen? Waren das nicht die Worte, die wir immer im Gedächtnis behalten sollten? Die, die wir doch angeblich aus der Geschichte gelernt hatten? Was ist damit geworden? Vergessen? Wohl eher entsorgt.

Wenn es das ist, wo uns die Wiedervereinigung schlußendlich hingeführt hat, dann vielen Dank für nichts. Dann möchte ich deren fünfunddreißigstes Jubiläum im nächsten Jahr gar nicht feiern.

Huuuh… jetzt hab ich’s gesagt. Oder geschrieben. Undankbarer Ossi, der ich bin. Na und? Soll ich vielleicht dafür dankbar sein, daß ich mich jetzt endlich mit der Frage beschäftigen darf, ob ich einen Krieg noch erleben werde?

Ja, ich weiß, Schuld sind die anderen. Die haben angefangen. Doch so einfach ist die Welt nicht. War sie nie. Das sagen die anderen nämlich umgekehrt auch. Und nun? Wer hat jetzt recht? Meistens keiner von beiden. Zu einem Konflikt gehören nämlich immer mindestens zwei. Und wenn der nicht gelöst wird und es zum Äußersten kommt,  dann haben alle Beteiligten in irgendeiner Form ihren Anteil daran.

Ich will das jetzt gar nicht in die Tiefe analysieren. Kann ich auch gar nicht, denn dazu fehlen mir definitiv eine Menge Informationen. Denn auch das weiß ich als geschichtsinteressierter Mensch nur zu gut: in Zeiten wie diesen erfährt man allerlei, doch nie die volle Wahrheit.

Ist allein dieses Thema für mich schon Grund genug, das zu Ende gehende Jahr 2024 nicht sonderlich zu mögen, so gibt es dafür leider auch noch andere, persönlichere.

Der für mich wichtigste und zugleich traurigste ist unzweifelhaft der Tod meines geliebten Vaters im Juli dieses Jahres. Er war für mich immer einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben – so sehr, daß es mir jetzt, fast schon ein halbes Jahr später, immer noch unglaublich schwerfällt zu akzeptieren, daß er nun nicht mehr da ist. Mit ihm habe ich einen meiner festen Lebensanker verloren – ein Verlust, der eigentlich nicht zu kompensieren ist. Und doch muß ich versuchen, weiterzumachen und damit zurechtzukommen. Denn das Letzte, was er wollen würde, wäre, daß ich mich ob seines Todes verkriechen und unglücklich werden würde. Und so habe ich schweren Herzens meinen ganz persönlichen Abschied von ihm genommen, doch ich werde ihn immer als den liebevollen Vater, der er war, in Erinnerung behalten und ihm stets für alles, was er für mich getan und mir im Leben ermöglicht hat, dankbar sein.

Und als wäre all das nicht genug, hat dieses furchtbare Jahr 2024 auch noch ein weiteres Ereignis für mich bereitgehalten, das gut und gerne in einer Katastrophe hätten enden können. Wieder einmal hat es in meinem Wohnhaus ein Feuer gegeben. Und wieder einmal, wie bereits zwei Jahre zuvor, lag der Brandherd in der Etage unter meiner und diesmal sogar direkt unter meiner Wohnung. Glücklicherweise konnte die Feuerwehr ihn auch diesmal schnell löschen, so daß es keine ernsthaften Schäden gab. Eine unangenehme Erfahrung war es dennoch. Nicht nur wegen der durchwachten Nacht, die ich zusammen mit meinen Nachbarn auf der Straße verbringen durfte, sondern auch wegen der doch recht beträchtlichen Verschmutzung meiner Wohnung infolge des vom Feuer entwickelten Rauchs. Glücklicherweise konnte ich hier auf die tatkräftige Hilfe meiner großartigen Familie zählen, die mir an mehreren Tagen beim Reinemachen half. Habt vielen herzlichen Dank, Ihr Lieben!

Auch der Rest dieses Jahres sorgte nicht unbedingt für Erheiterung. Auch beruflich gab und gibt es jede Menge Unruhe, auf die ich hier aber nicht weiter eingehen will. Ansonsten geht das Land weiter den Bach runter, was mittlerweile auch in meinem privaten Lebensumfeld ankommt, beispielsweise wenn die Wohnungsverwaltung die angekündigte grundlegende Fahrstuhlsanierung absagt, weil die beauftragte Firma sich bei denjenigen eingereiht hat, die insolvent gegangen sind. Nun muß der ganze langwierige Prozeß der Beauftragung von neuem durchlaufen werden, beginnend mit einer Ausschreibung – und das kann dauern. Einen neuen Termin gibt es daher vorerst nicht. In der Zwischenzeit fahren wir halt weiter mit den alten Aufzügen, die geschätzt im Monatstakt reihum einmal ausfallen. Mal sehen, wie lange es dauert, bis keiner mehr geht und wir uns sportlich ans tagtägliche Treppensteigen  machen. Das verkauft man uns dann bestimmt als gesundheitsfördernde Maßnahme, die an das Mietobjekt gekoppelt ist, weswegen man die Miete erhöhen könne. Okay, das habe ich mir ausgedacht, aber wundern würde es mich nicht. So wie mich in diesem verrückt gewordenen Land mittlerweile gar nichts mehr wundert, wo man uns den Verlust des Zugriffs auf billige Energieträger als endlich erreichte Unabhängigkeit von Rußland verkauft und die daraus resultierende Pleitewelle in der Industrie als Erfolg in der Bekämpfung  des Klimawandels. Aber hey, wir Deutschen retten die Welt! Das ist doch was. Nur merkt die nichts davon…

Immerhin gab es aber dann doch noch etwas Positives in diesem Jahr. Nach meiner überaus positiven Erfahrung mit der Flußkreuzfahrt im vergangenen Jahr hatte ich mich entschlossen, dieses schöne Erlebnis in diesem Jahr gleich noch einmal zu wiederholen. Doch dieses Mal wollte ich mir einen schon lange gehegten Traum damit erfüllen: eine Reise die Donau entlang. Am liebsten wäre mir natürlich eine Fahrt von Deutschland bis zur Mündung im weit entfernten Schwarzen Meer gewesen, wegen der dortigen Nähe zur Ukraine zog ich es dann jedoch vor, lediglich die etwas kürzere Tour bis zum Eisernen Tor und zurück zu buchen. Und nach all den weniger schönen bis traurigen Erlebnissen und Erfahrungen dieses Jahres wurde mir so der Oktober zu einem wunderbar entspannten Monat der Ruhe und Entspannung. Der Himmel schien mir dafür sein schönstes Geschenk machen zu wollen, denn nach dem ersten leicht verregneten Reisetag auf der Maxima, wie das Schiff, mit dem ich unterwegs war, hieß, erstrahlten die restlichen elf Tage im hellen Glanz der wundervollen Herbstsonne, die von einem strahlend blauen, fast immer wolkenlosen Himmel auf mich herablächelte. Ach, war das eine schöne Reise! Wien, Bratislava, Budapest, Pécs, Belgrad, Novi Sad – so viele wundervolle Städte bekam ich zu sehen. Dazu die abwechslungsreiche Landschaft links und rechts der Donau – die Wachau in Österreich, die Puszta in Ungarn und schließlich die herrliche Kataraktenstrecke im Taldurchbruch der Donau durch das Balkan- und Karpatengebirge. Es war eine wunderbare Reise. Vielleicht erzähle ich demnächst an dieser Stelle das eine oder andere Erlebnis davon…

Wenn mich dieses Jahr 2024 eines gelehrt hat, so ist es die Erkenntnis, daß es nichts bringt, darauf zu warten, daß die Lage auf wundersame Weise von selbst besser wird oder daß von irgendwoher irgendein Heiland kommt, der alles zum Besseren wendet. Es bringt allerdings auch nichts, sich vorzunehmen, tatkräftig dafür zu wirken, die Welt besser zu machen. Das führt in der Regel nur dazu, daß man sich übernimmt, sich aufreibt und in die Ohnmacht rennt in dem Bestreben, Dinge zu ändern, die man objektiv allein gar nicht zu ändern in der Lage ist. Was man hingegen tun kann, ist, sich zu überlegen, was wirklich in den eigenen Möglichkeiten der Beeinflussung liegt. Dort hinein kann man dann, so man möchte, all seine Tatkraft investieren. Und diese Überlegung ist nicht einmal besonders schwer. Sie führt, wenn man sie realistisch anstellt, zunächst einmal zu einem selbst. Was man nämlich am besten beeinflussen kann, ist das eigene Leben. Hier anzusetzen hilft dabei, Verbesserungen zu erzielen, die einem selbst zugutekommen, ohne dabei seine Tatkraft zu verausgaben. Wenn man es dann noch schafft, dies ohne Egoismus, also unter Rücksichtnahme auf die Mitmenschen im eigenen Umfeld und ihre Bedürfnisse zu tun, dann beginnt man bereits, die eigene kleine Welt ein Stück besser zu machen, ohne die der anderen negativ zu beeinflussen.

Ich behaupte nun nicht, daß dies das Rezept ist, um die Welt im Großen positiv zu verändern, gar Kriege zu verhindern. Wie das geht, ich gestehe es, weiß ich nicht. Doch vielleicht kommt man ja auf dem Weg, die eigene beeinflußbare Sphäre zu verändern, mit anderen Menschen in Kontakt und kann dann gemeinsam Ideen dafür entwickeln, größere Veränderungen zusammen in Angriff zu nehmen. Oder man kommt zu der Erkenntnis, daß man mit seiner eigenen Sphäre bereits genug beschäftigt ist und daß alles weitere nur zur Verausgabung der eigenen Ressourcen führt. Für mich wäre auch das völlig in Ordnung. Wichtig ist, daß man auf diese Weise lernt, für sich selbst und im Rahmen seiner Möglichkeiten vielleicht auch für andere zu sorgen,  ohne daß man sich verausgabt. Und gleichzeitig gelingt es so, sich nicht von den negativen Entwicklungen der großen Welt – den realen wie auch den nur möglichen, angenommenen oder befürchteten – fertigmachen und lähmen zu lassen. Man bleibt tatkräftig in dem, was man bewältigen kann und schafft sich so seine positiven Erlebnisse, auch wenn einen die unvermeidbaren Schicksalsschläge  treffen mögen.

In diesem Sinne wünsche ich Euch ein schönes, ein gesundes sowie ein tatkräftiges und glückliches Jahr 2025. Trotz alledem.


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Ersteller: Alexander Glintschert (2024).

Im Andenken an meinen Vater

Der 10. Juli dieses Jahres 2024 wird mir immer in Erinnerung bleiben, denn es war ein überaus trauriger Tag.

Es war der Tag, an dem Du, Vati, uns verlassen mußtest.

Kurz nach Deinem dreiundachtzigsten Geburtstag hat Dich uns eine Krankheit entrissen, von der Dich zu erholen Dir leider nicht vergönnt war. Eine Krankheit, so tückisch, daß Du Deine letzten Tage nicht einmal mehr zu Hause verbringen konntest und ein Hospiz für Dich zur letzten Heimstatt werden mußte. Was mir jedoch angesichts dieses traurigen Umstands Trost gibt, ist die Gewißheit, daß Du in dieser Zeit – wie in Deinem gesamten Leben – nicht allein warst. Das hätten wir, Deine Familie, niemals zugelassen. Und so waren wir jeden Tag bei Dir und haben Dich bis zu Deinem letzten Augenblick in dieser Welt begleitet.

Wenn ich heute an Dich denke, so kommen mir nur liebevolle Erinnerungen in den Sinn. Und das nicht etwa, weil man von Verstorbenen nicht schlecht sprechen soll, sondern weil es tatsächlich nur solche Erinnerungen in meinem Gedächtnis gibt. Denn Du warst ein überaus liebevoller Mensch.

Und so habe auch ich Dich über alles geliebt. Als ich ein Kind war, schien es mir unvorstellbar, ohne Dich zu sein. Als Mutti einmal eine zweiwöchige Urlaubsreise mit mir allein antreten mußte, weil Du keinen Urlaub hattest bekommen können, kamst Du nicht umhin, uns bereits nach einer Woche wieder abzuholen, da ich mich weigerte, den Urlaub auch nur einen weiteren Tag ohne Dich fortzusetzen.

Für uns, Deine Familie, hast Du immer alles in Bewegung gesetzt. An Dich hast Du dabei stets zuletzt gedacht. Ich weiß noch, wie ich damals unendlich traurig war, als ich an der von Dir organisierten Jugendweihefahrt meiner Schulklasse nach Weimar wegen einer Erkrankung nicht teilnehmen konnte. Da hast Du sie einfach noch einmal organisiert und dann mit Mutti und mir allein unternommen. Und es wurde für mich ein wunderschönes Erlebnis. Und als ich, mittlerweile erwachsen und Student, zaghaft andeutete, daß ich darüber nachdachte, mich auf eigene Füße zu stellen, das elterliche Nest zu verlassen und mir eine Wohnung zu suchen, hast Du mir nicht nur keine Steine in den Weg gelegt, sondern mir, der ich überhaupt noch keinen Plan hatte, wie ich an die Sache herangehen sollte, innerhalb kürzester Zeit ein erstklassiges Wohnungsangebot beschafft. Ach Vati, und dabei fiel es Dir doch so schwer, mich das elterliche Heim verlassen zu sehen…

Du und Mutti – für mich wart Ihr immer eins. Fünfundsechzig Jahre wart Ihr zusammen, dreiundsechzig davon verheiratet. Das soll Euch erstmal einer nachmachen! Und in der ganzen Zeit habt Ihr zusammengehalten wie Pech und Schwefel. Durch alle Höhen und Tiefen seid Ihr zusammen gegangen. Und von letzteren gab es einige, wie das im Leben nun mal so ist. Doch Ihr habt sie gemeistert. Zusammen. Immer. Voller Liebe füreinander und für uns, Eure Kinder. Nie gab es auch nur ein einziges böses Wort, nicht zwischen Euch und nicht zu uns. Stattdessen immer Liebe und Verständnis, Hilfe und Unterstützung. Und dafür bin ich Euch für immer dankbar. Ich denke, das weißt Du.

Doch nun muß ich ohne Dich weitermachen. Und das fällt unendlich schwer. So richtig kann ich mir das immer noch nicht vorstellen, daß Du jetzt nicht mehr da sein sollst. Doch ich denke, daß ich jetzt den Kopf hängen ließe, wäre das Letzte, das Du wollen würdest. Wie oft hast Du mich, gemeinsam mit Mutti, wieder aufgerichtet, wenn ich am Boden lag und nicht weiterwußte, weil irgendwas gründlich schiefgegangen war? Und so mache ich, wenngleich ich doch immer noch unendlich traurig bin, auch jetzt weiter. Versprochen!

Und weißt Du was? Einen großen Batzen Hoffnung, daß mir das gelingt, habe ich bereits an dem Tag, an dem Du uns endgültig hast verlassen müssen, einsammeln können. Am Abend dieses Tages stand ich auf dem Balkon Eurer Wohnung und schaute traurig dem sanften Regen zu, der in der warmen, sommerlichen Atmosphäre vom Himmel fiel. Dunkle Wolken trieben von mir weg über das Firmament und wurden von der irgendwo hinter mir untergehenden Abendsonne angeleuchtet. Es war ein Bild voller Melancholie, angefüllt mit einer Stimmung, die ganz gut zu der meinigen paßte. Mein Blick glitt hinüber zu dem Ort, an dem Du an diesem Nachmittag verstorben warst. Hinter den hohen Wohnhäusern konnte ich das Hospiz natürlich nicht sehen, doch genau dort, wo es sich befinden mußte, bemerkte ich einen schwachen Lichtschein, der zunächst nur sachte schimmerte, doch bald schon mehr und mehr an Intensität gewann, bis sich in seinem Leuchten verschiedene Farben ausmachen ließen. Höher und höher stieg der Schein den Himmel hinauf, bis er schließlich den Zenit erreichte, von dem er sich wieder hinunter senkte, zu den Häusern mir gegenüber. Nun erstrahlte vor mir ein wunderschöner Regenbogen, in leuchtenden Farben auf die eben noch so traurig wirkende Szenerie gemalt. Und mit einem Mal spürte ich, obwohl ich immer noch traurig war, in mir ein Gefühl der Hoffnung aufkeimen. Eine Hoffnung, daß es vielleicht irgendwie und irgendwo nach dem Ende doch weitergeht, daß Du Deinen Weg gefunden hast an einen Ort, an dem es Dir besser geht als in den letzten Tagen Deines Lebens und an dem Du auf uns wartest. Und mit dieser Hoffnung in meinem Herzen würde ich, so dachte ich und denke es noch, weiterleben können und Dich stets in guter und liebevoller Erinnerung behalten.

Mach’s gut, Paps. Bis bald.

Kerzen mit Rose
Abschied für immer…
Alexander Glintschert (2024).
Creative Commons Lizenzvertrag

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Ersteller: Alexander Glintschert (2024).

Deutsche Bahn – mehr von allem

Dieser Beitrag ist Teil 6 von 6 der Beitragsserie "Aus den Notizen eines Bahnfahrers"

Die Deutsche Bahn ist mittlerweile leider eher dafür bekannt, ihren Kunden eine Menge Unannehmlichkeiten zu bereiten und damit Ärger und Streß zu verursachen. Um so mehr ist es mir eine Freude, mitteilen zu können, daß es ihr nach all dem Chaos, das sie bereits im Vorfeld meiner Fahrt nach Bonn veranstaltet hatte, dann doch gelungen ist, mich ohne größere Pannen an mein Ziel zu bringen. Das heißt natürlich nicht, daß ich dort pünktlich angekommen bin, doch betrug die Verspätung nur reichlich zehn Minuten, was für deutsche Verhältnisse heutzutage als pünktlich gelten muß. So kam ich dann doch recht entspannt in Bonn an.

Wie bereits berichtet, hatten sich die Planer für meine Rückfahrt, nachdem sie meine direkte Verbindung Anfang April bereits gestrichen hatten, am Ende des Monats jedoch offenbar gedacht, daß selbst die semi-direkte Verbindung mit einem Umstieg am Kölner Hauptbahnhof doch noch viel zu langweilig sei, und mir mitgeteilt, daß ich stattdessen von Bonn nach Siegburg und von dort dann nach Köln fahren solle, wobei sie mir für den ersten Abschnitt dieser Strecke ihre eigenen Dienste nicht mehr würden anbieten können, so daß ich auf die der Straßenbahn des Köln-Bonner Verkehrsverbunds würde zurückgreifen müssen. Immerhin war mir bereits im Vorfeld eine Empfehlung für die entsprechende Verbindung übermittelt worden.

Doch gestählt durch eine große Menge an Erfahrung im Reisen mit der Deutschen Bahn, traute ich dieser Empfehlung nicht so ohne weiteres und entschloß mich, etwas früher loszufahren. Etwas zeitlichen Puffer zu haben, ist ja immer gut, und bei der Bahn weiß man ja nie…

Den ersten „Ich hab’s ja gewußt“-Moment hatte ich bereits am Bonner Hauptbahnhof. Und ausnahmsweise konnte die Deutsche Bahn gar nichts dafür. Am Anzeiger der Straßenbahnhaltestelle entdeckte ich eine Laufschrift, die mir verkündete, daß am Bonner Bertha-von-Suttner-Platz ein Polizeieinsatz im Gange sei, aufgrund dessen die Linie 66 erhebliche Verspätungen erleide. Während ich schon überlegte, ob es nicht besser wäre, sofort auf ein Taxi umzusteigen, da die Linie 66 eben jene war, die mich nach Siegburg bringen sollte, lief die Meldung weiter und verriet mir, daß die Verspätungen nur in der Fahrtrichtung Bad Honnef zu erwarten wären. Puh, Glück gehabt.

Tatsächlich fuhr meine Bahn erst pünktlich ein und ich dann mit ihr los. Gute vierzig Minuten war ich nun früher unterwegs als von der Deutschen Bahn empfohlen. Das sollte wohl genügen, um pünktlich nach Köln zu kommen und meinen Zug nach Berlin zu erreichen.

Einige Minuten später verkündete die vor jeder Station erklingende Durchsage die in Kürze bevorstehende Ankunft am Bertha-von-Suttner-Platz. Herrje! Stimmte denn hier gar nichts? Wenn der Platz auf meiner Strecke lag, mußte der Polizeieinsatz doch wohl auch mich betreffen. Würde ich nun etwa doch aufgehalten?

Ich wurde nicht. Die Bahn hielt, Leute stiegen aus, andere Leute stiegen ein, die Türen schlossen sich und weiter ging’s. Ob ich einfach Glück gehabt und der Einsatz kurz zuvor geendet hatte oder ob die Meldung veraltet gewesen war – ich weiß es nicht. Ohne jegliche Verzögerung setzte die Bahn die Fahrt fort, überquerte den Rhein und langte nach reichlich zwanzig Minuten Fahrt glücklich am Siegburger Bahnhof an.

Wie ich nach einer kurzen Prüfung möglicher Verbindungen am Abend zuvor erfahren hatte, standen mir nun wenigstens vier Züge zur Auswahl. Genug Optionen, um von hier aus nach Köln Messe/Deutz zu kommen, wo ich meinen Zug nach Berlin heute erreichen würde, der aus mir nach wie vor unbekannten Gründen nicht am Kölner Hauptbahnhof halten konnte.

Da ich aus dem mir von der Bahn empfohlenen Plan noch wußte, daß mein Anschlußzug hier vom Gleis 1 verkehren sollte, lenkte ich meine Schritte dorthin. Es war ja durchaus anzunehmen, daß auch andere Züge in Richtung Köln dort verkehren würden. Ein Fahrstuhl brachte mich zum Bahnsteig hinauf. Als sich dessen Türen oben öffneten, fand ich mich unmittelbar vor einem Anzeiger wieder. Das erste, was ich dort zu lesen bekam, war die Information über die nächsten beiden Züge. Und die war alles andere als erfreulich, denn für beide wurde der komplette Ausfall der Fahrt verkündet.

Großartig! Das lief ja super!

Da ich keine Lust verspürte, jetzt den Informationsschalter oder einen Fahrplanaushang zu suchen, holte ich mein Handy hervor und rief die App der Deutschen Bahn auf. Eine kurze Suche über die nächsten zur Verfügung stehenden Verbindungen brachte mir nicht nur umgehend die Information, daß ich in einer Minute einen ICE nach Köln nehmen könnte, sondern auch die Erkenntnis, daß ich dafür auf dem falschen Bahnsteig stand. Ich befand mich am Gleis 1, der ICE, den ich nur wenige Meter von mir entfernt stehen sah, am Gleis 3. Eine Minute! Ob ich das schaffen würde?

Die Antwort auf diese Frage war: Nein.

Als ich mich dem Strom der den Zug verlassenden Menschen entgegen die Treppe zum Bahnsteig hinaufgekämpft hatte, konnte ich nicht mehr tun, als dem bereits abfahrenden Zug hinterherzuwinken.

Nun gut, der war weg. Die beiden nächsten, das wußte ich vom Anzeiger am Gleis 1, fielen aus. Da jedoch alle drei nicht auf meinem mir von der Bahn empfohlenen Plan gestanden hatten, machte ich mir keine Sorgen. Denn ein kurzer Blick auf eben diesen Plan, den ich in der App einsehen konnte, zeigte mir, daß der dort angekündigte Zug nicht ausfallen sollte. Allerdings wurde bereits eine Verspätung angezeigt, die jedoch nur eine Minute betrug. Und solange sie kleiner blieb als jene meines Zuges nach Berlin, für den bereits eine aktuelle Verzögerung um zehn Minuten angegeben wurde, war alles gut. Lediglich meine frühere Abfahrt in Bonn wäre dann nutzlos gewesen.

Doch ich hatte noch eine andere Option. Knapp zehn Minuten vor meinem geplanten Zug sollte hier am Gleis 3 noch ein weiterer ICE halten. Eigentlich waren es zwanzig, doch auch dieser ICE sollte gute zehn Minuten verspätet sein. Ich beschloß, es mit ihm zu versuchen. Sollte sich seine Verspätung noch vergrößern, könnte ich immer noch zurück zum Gleis 1 wandern, wo mein eigentlich geplanter Zug abgehen sollte.

Es war jetzt kurz nach halb zehn Uhr morgens. Eine gute halbe Stunde hatte ich nun Zeit. Ich setzte mich auf eine Bank und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

Zunächst waren das jede Menge Durchsagen. Offenbar war der heutige Tag für die Bahn wieder einmal voller Probleme. Es vergingen kaum einmal fünf Minuten, ohne daß es in den Lautsprechern knackte und irgendeine Meldung durchgegeben wurde. Hier fiel ein Zug aus, weil es einen Notarzteinsatz gab, dort fuhr ein anderer gar nicht, weil am Zug technische Defekte aufgetreten waren. Hier am Bahnhof in Siegburg konnte man der Deutschen Bahn jedenfalls nicht vorwerfen, ihre Fahrgäste über das Geschehen im Dunkeln zu lassen. Dachte ich zunächst, daß es angesichts all dieser Durchsagen offenbar ganz schön viele Probleme gäbe, stellte ich bald fest, daß die hier betriebene Informationspolitik einigermaßen merkwürdig war. Nicht nur, daß man alle fünf Minuten den Ausfall derselben Züge verkündete – das könnte man ja durchaus als beflissenen Informationsdienst am Kunden betrachten. Nein, man gab auch Meldungen durch, über deren Sinnlosigkeit sich kaum streiten lassen dürfte. So hörte ich um 9:53 Uhr bereits zum zweiten Mal die Durchsage, die mich davon in Kenntnis setzte, daß der Zug nach Au am Sieg heute nicht wie geplant um 7:32 Uhr fahren, sondern stattdessen wegen eines Notarzteinsatzes ausfallen würde. Selbiges verkündete man für den Zug um 8:32 Uhr. Wozu? Die Abfahrtszeiten waren doch lange vorbei! Und so brachten mich diese Durchsagen lediglich zu der Frage, was das wohl für ein Einsatz sein mußte, der wenigstens drei Stunden lang reihenweise Züge ausfallen ließ, denn auch für das Ausbleiben eines eigentlich um kurz nach halb zehn Uhr verkehrenden Zuges gab er den Grund ab.

Da ich keine Antwort auf diese Frage finden würde, freute ich mich stattdessen wenig später über das Eintreffen des ICEs, der seine zehnminütige Verspätung immerhin nicht vergrößert hatte. Als Grund für die Verzögerung verriet mir eine weitere Durchsage am Bahnsteig die Verspätung eines vorausfahrenden Zuges. Der mußte aber irgendwo abgebogen sein, denn solange ich mich an dem Bahnsteig aufhielt, kam nur einer hier vorbei, und der fuhr gute fünfzehn Minuten vorher durch.

Dieselbe Zeitspanne später langte ich glücklich in Köln an. Noch viel glücklicher war ich, als ich feststellte, daß sich die zehnminütige Verspätung meines Zuges nach Berlin bisher nicht nur nicht vergrößert hatte, sondern daß er auch noch von eben dem Gleis abfahren würde, an dem ich gerade angekommen war.

Die zehn Minuten blieben auch die ganze halbe Stunde lang erhalten, die ich wartend auf dem Bahnhof Köln Messe/Deutz verbrachte. Als der Zug dann kurz vor elf Uhr den Bahnhof verließ, schien die Welt also noch in Ordnung. Mehr oder weniger jedenfalls. Für Bahnverhältnisse. Wenn ich aber gedacht hatte, daß das so bliebe, sollte ich bald eines Besseren belehrt werden.

Keine Stunde später – es war 11:44 Uhr und der Zug hatte Wuppertal passiert – knackte es im Lautsprecher des Waggons, in dem ich saß, und eine weitere der an diesem Tag so reichlichen Durchsagen brachte uns Fahrgästen die frohe Kunde, daß wir Bielefeld heute nicht sehen würden. Ein Halt sei dort nicht möglich. Kurz dachte ich an die Sperrung des Bahnhofs, doch erfuhr ich gleich darauf, daß es nicht der Bahnhof war, den man gesperrt hatte. Es war die Strecke.

Ich muß gestehen, ich konnte ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken. Hatte ich etwas anderes erwartet?

Immerhin, so teilte man mit, würden wir nicht irgendwo herumstehen müssen, sondern stattdessen über eine andere Strecke umgeleitet werden. Leider würde das bedeuten, daß wir von Hagen aus ohne weiteren Halt bis Hannover durchfahren müßten. Alles in allem brächte uns das leider eine Verlängerung der Fahrt um hundert bis hundertzwanzig Minuten ein. Doch das, so beeilte man sich hinzuzufügen, sei nur eine Prognose.

Man ist offenbar vorsichtig geworden bei der Deutschen Bahn. Feste Zusagen macht niemand mehr, seit die Fahrpläne auch keine mehr darstellen. So war es auch nicht sonderlich verwunderlich, daß das Geschehen nicht nur von mir mit einem gewissen Galgenhumor quittiert wurde. Und das betraf nicht nur die Fahrgäste! Als ein Kellner durch den Waggon ging, um die zuvor bestellten Getränke auszuliefern, entspann sich zwischen ihm und dem hinter mir sitzenden Fahrgast folgender Dialog:

Kellner: „Wie möchten sie zahlen? Bar, mit Karte oder mit Gutschein?“
Fahrgast: „Ach, Gutschein geht auch? Stellen Sie mir einen aus?“
Kellner: „Haben sie keinen? Na, kriegen sie wahrscheinlich heute, wir werden ja zwei Stunden Verspätung haben…“

Inzwischen war es 11:55 Uhr geworden und wir hatten Hagen erreicht.

Da man sich über den Grund der Streckensperrung zunächst nicht weiter geäußert hatte, schaute ich ein weiteres Mal in die Handy-App der Deutschen Bahn, ob es irgendwelche diesbezüglichen Mitteilungen gäbe. Und tatsächlich wurde ich nicht nur fündig, sondern erhielt mehr Informationen, als mir lieb waren.

Die erste Meldung verkündete lapidar einen „Notarzteinsatz auf der Strecke“ und wurde unmittelbar gefolgt von einer zweiten, die die „Verspätung eines vorausfahrenden Zuges“ zum Besten gab. Na, Mensch, da war ja heute ganz schön was los bei der Bahn.

Doch damit nicht genug. Eine dritte Meldung griff den Notarzteinsatz der ersten auf und konkretisierte den Ort: es sei die Strecke zwischen Hamm und Bielefeld betroffen, irgendwo zwischen Rheda-Wiedenbrück und Oelde[1]Hier der etwas konfuse Originaltext der Meldung: „Notarzteinsatz auf der Strecke: Auf der Strecke Hamm (Westf) Hbf – Bielefeld Hbf zwischen Rheda-Wiedenbrück und Oelde. Es kommt zu … [Weiterlesen].

Für alle diese Meldungen war kein Zeitpunkt angegeben. Das änderte sich bei der vierten. Sie behauptete, von „Jetzt“ zu sein und lieferte einen dritten Grund:

Zwischen Hamm (Westf) Hbf und Bielefeld Hbf befinden sich Gegenstände in der Oberleitung. Die Züge halten am nächsten Bahnhof und warten dort die Dauer der Streckensperrung ab oder werden nach Möglichkeit umgeleitet.

Eine fünfte Meldung schließlich kam wieder auf den Notarzteinsatz zurück, verlegte aber dessen Ort:

Aufgrund eines Notarzteinsatzes zwischen Gütersloh Hbf und Hamm (Westf) Hbf ist die Strecke in beide Richtungen gesperrt. Die Streckensperrung dauert voraussichtlich bis 13:15 Uhr. Weitere Informationen folgen.

Tja. Da konnte ich mir jetzt wohl etwas aussuchen. Verwirrt studierte ich die fünf Meldungen und entdeckte dabei noch eine sechste, die als einzige einen konkreten Zeitpunkt nannte: 1. März 2024, 1:28 Uhr. Sie lautete: „Bauarbeiten. Der Zug hält ersatzweise in Köln Messe/Deutz Gl. 11-12. Bitte prüfen Sie Ihre Reiseverbindung kurz vor der Abfahrt des Zuges.“

Mal davon abgesehen, daß ich die Empfehlung im letzten Satz wenig hilfreich fand – das muß man meiner Erfahrung nach mittlerweile bei jeder Fahrt mit der Deutschen Bahn tun, egal, ob sie etwas meldet oder nicht -, wußte ich nun immerhin, warum ich so umständlich von Bonn nach Köln hatte fahren müssen.

Einer kurz nach dem Verlassen des Bahnhofs in Hagen durchgegebenen Meldung zufolge war unsere Verspätung nun bereits auf einundzwanzig Minuten angewachsen. Dabei hatten wir die Umleitung noch gar nicht erreicht. Immerhin wurde nun auch der Grund für die Streckensperrung durchgegeben. Es sei ein Personenunfall zwischen Rheda-Wiedenbrück und Oelde gewesen, der einen Notarzteinsatz erforderlich gemacht habe. Offenbar war Meldung Nummer Drei aus der Handy-App die richtige.

Reichlich zwanzig Minuten später – es war nun 12:20 Uhr – hielt der Zug überraschend in einem Bahnhof an. Sollten wir nicht bis Hannover durchfahren? Ich schaute aus dem Fenster und entdeckte ein Bahnhofsschild: Hamm. Das lag immer noch auf unserer Stammstrecke. Und eigentlich sollten wir laut den Informationen über die Fahrt des Zuges, die ich in der Handy-App gefunden hatte, heute hier gar nicht halten! Was war denn nun schon wieder los?

Wenn ich mich auf dieser heutigen Reise auch über vieles beschweren konnte – die Durchsagen in diesem Zug nach Berlin gehörten erfreulicherweise nicht dazu. Die Erklärung folgte prompt. Der Zugführer habe noch keinen Fahrplan für die Umleitungsstrecke erhalten. Da der aber erforderlich sei, müßten wir darauf jetzt warten. Nur auf die Frage, wie lange das dauern würde, schien auch der Schaffner keine Antwort zu haben. Jedenfalls äußerte er sich nicht dazu.

Sieben Minuten später folgte bereits die nächste Durchsage. Der Fahrplan sei jetzt eingetroffen, in Kürze gehe es weiter. Offenbar legte man sich mächtig ins Zeug.

Und tatsächlich: drei Minuten später waren wir wieder unterwegs und begaben uns auf die angekündigte Umleitung. Hatte ich angesichts der gegebenen Prognose eine Bummeltour durch die Lande erwartet, ging die Fahrt zu meiner Überraschung flott voran.

Als nach einer Weile – es war inzwischen 13:49 Uhr  – wieder eine Durchsage durch den Waggon schallte, gab es – zumindest unter den gegebenen Umständen – endlich einmal gute Nachrichten. Wir kämen, hieß es, sehr gut durch die Umleitung und bräuchten wohl noch etwa fünfundvierzig Minuten bis Hannover.

Als ich eine knappe Viertelstunde später aus dem Fenster blickte, bemerkte ich überrascht, daß hinter uns die Porta Westfalica dem Horizont entgegenrückte. Ganz offensichtlich befanden wir uns bereits wieder auf der Stammstrecke unseres Zuges. Na, das ging ja fix.

Auch das Zugpersonal hatte ganz offensichtlich diesen Eindruck und wollte nicht versäumen, die Fahrgäste daran teilhaben zu lassen. Die Prognose sei angepaßt worden, hieß es in einer entsprechenden Durchsage, wir würden Hannover bereits um 14:34 Uhr erreichen. Gegen 16 Uhr seien wir dann Berlin. Nun, wenn sich das tatsächlich bestätigte, wäre das eine knappe Stunde früher als ursprünglich vorhergesagt.

Als wir um 14:38 Uhr Hannover verließen, betrug unsere Verspätung gute siebzig Minuten. Wahrlich kein Grund zur Freude, doch angesichts der ursprünglich prognostizierten Ankunft war, wie mir schien, trotzdem niemand ernsthaft verärgert. Auch meine Verstimmung hielt sich in Grenzen. Zum einen lag die Ursache heute tatsächlich nicht in der Verantwortung der Bahn, zum anderen hatte man alles in allem die Situation gut gehandhabt. Die nötigen Informationen waren prompt durchgegeben worden und hatten stets über die Lage informiert. Und ganz offensichtlich hatte man auch alles Menschenmögliche dafür getan, die Auswirkungen so gut wie möglich zu minimieren. Lediglich die Handy-App hatte mit ihrem Verwirrspiel hinsichtlich der einander widersprechenden Meldungen das Bild etwas getrübt.

So kam ich trotz des holprigen ersten Teils der heutigen Fahrt zu guter Letzt doch noch gut und einigermaßen streßfrei in Berlin an. Dennoch muß ich, wenn ich rückblickend alle Umstände dieser Reise nach Bonn und zurück, von der Buchung bis zu den Fahrten, zusammen betrachte, wieder einmal feststellen, daß bei der Deutschen Bahn derzeit einiges im Argen liegt. Entspanntes Reisen sieht anders aus. Doch anstatt mich aufzuregen, nehme ich es lieber mit Humor. Schließlich habe ich heute von allem ein wenig mehr bekommen, als zu erwarten gewesen wäre: mehr Umstiege, mehr – teils verwirrende – Meldungen in der App, mehr – teils ebenso verwirrende – Durchsagen, mehr Strecke und schließlich mehr Zeit im Zug. Und das am Ende sogar noch für weniger Geld. Denn wegen der Verspätung darf ich mich auf eine teilweise Rückerstattung freuen. Und dann habe ich vielleicht auch einen Gutschein…

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1 Hier der etwas konfuse Originaltext der Meldung: „Notarzteinsatz auf der Strecke: Auf der Strecke Hamm (Westf) Hbf – Bielefeld Hbf zwischen Rheda-Wiedenbrück und Oelde. Es kommt zu Verspätungen in beide Richtungen im Fernverkehr der Deutschen Bahn.“

Vorfreude à la Deutsche Bahn

Dieser Beitrag ist Teil 5 von 6 der Beitragsserie "Aus den Notizen eines Bahnfahrers"

Wer nicht nur gelegentlich mit der Deutschen Bahn durch die Lande fährt, ist Kummer gewöhnt. Doch immer wenn man denkt, nun habe man wirklich alles erlebt, schlimmer könne es nun wirklich nicht mehr werden, sorgt die Bahn umgehend dafür, daß man seinen Irrtum erkennt. Denn schlimmer geht immer!

Wieder einmal ist es Mai. Wieder einmal ist es Zeit für die jährliche FedCon – das große Treffen der Fans und Stars der Science-Fiction-Szene in Deutschland, an dem ich nun schon das zweiundzwanzigste Mal teilnehme. Und wie jedes Mal fahre ich mit der Bahn zum Ort der Veranstaltung, der, wie in den letzten Jahren auch, das Maritim-Hotel in Bonn ist. Jedes Jahr bin ich auf’s neue gespannt, was die Freunde des Schienenstrangs diesmal für mich bereithalten. Denn eines ist sicher: Langweilig wird es garantiert nie. Doch was sie sich dieses Mal ausgedacht hatten, hatte ich wirklich noch nie erlebt. Denn dieses Mal begann das Chaos bereits weit vor der Fahrt…

Doch der Reihe nach.

In diesem Jahr hatte ich mich entschlossen, mit dem Kauf meines Tickets für die Convention auch gleich Hotel und Fahrkarte zu buchen. Das gestaltete sich via Internet recht unkompliziert und ermöglichte mir den Erwerb eines Spartickets, dessen Preisnachlaß so groß war, daß das Budget sogar eine Fahrt in der ersten Klasse hergab. Dafür mußte ich lediglich eine Einschränkung meiner Flexibilität in Form einer Zugbindung in Kauf nehmen, doch das war alles in allem akzeptabel. Und wenn es, wie sie behauptet, der Bahn half, besser zu planen, sollte es mir recht sein, auch wenn ich das Modell der Preisgestaltung, das die Bahn ihren Ticketverkäufen zugrundelegt, ja nie so recht verstanden habe. Insbesondere leuchtete mir nie richtig ein, inwiefern es bei der Planung hilft, wenn ich einen Zug früher buche, dessen Fahrt im Fahrplan doch bereits festgelegt ist, fährt er doch damit so oder so. Was sich allerdings in der Folge ereignete, zeigte mir, daß ich diese meine Grundannahme vielleicht doch noch einmal überdenken sollte.

So hatte ich also bereits am 22. Januar sämtliche Buchungen abgeschlossen – Veranstaltung, Hotel und Bahn – und blickte dem Termin der Convention entspannt und mit Vorfreude entgegen. Zumindest mit der Entspannung war es jedoch am Morgen des 2. April erst einmal vorbei. Um 9:02 Uhr nämlich schickte mir die Bahn eine Email mit dem Titel:

Fahrplanänderung auf Ihrer Reise nach Bonn Hbf am […]: Fahrt nicht wie geplant möglich

Als Grund wurde recht lapidar „eine Fahrplanänderung“ angegeben. Dachte ich zunächst an einen Fahrplanwechsel vom Winter- zum Sommerfahrplan, so wurde ich durch eine kurze Suche eines Besseren belehrt: der aktuelle Fahrplan der Bahn war noch bis zum 8. Juni 2024 gültig. War er etwa doch nicht so in Stein gemeißelt, wie ich bisher immer angenommen hatte? Wurden Züge, für die bis zu einem Stichtag ungenügend viele Buchungen eingegangen waren, etwa einfach aus dem Programm genommen? Oder gab es vielleicht einen anderen Grund? Ich konnte nur rätseln, denn weitere Auskünfte über die Hintergründe besagter Fahrplanänderung waren nirgendwo zu finden – weder in der Email noch auf der Website, auf der ich dem in ihr enthaltenen Link zufolge aktuelle Informationen abrufen können sollte.

Nun, es war kurz nach neun Uhr morgens, ich hatte zu arbeiten und zunächst keine Zeit, mich um das Problem zu kümmern. So hatte ich noch nichts unternommen, als mir die Bahn am Abend desselben Tages, genauer um 22:28 Uhr eine weitere Mail schickte, um mir folgendes mitzuteilen:

Fahrplanänderung auf Ihrer Reise nach Berlin Hbf am […]: Fahrt nicht wie geplant möglich

Das nenne ich mal konsequent! Nicht nur meine Hinfahrt, nein, auch meine Rückfahrt sollte es nun also nicht mehr geben. Der Grund für die zweite Absage, war derselbe wie für die erste: Fahrplanänderung. Welchen Grund allerdings diese hatte, mußte mich nach Meinung der Bahn offenbar nicht interessieren.

Immerhin teilte man mir erfreulicherweise mit, daß ich kein neues Ticket erwerben mußte. Man habe die Zugbindung, der ich bisher unterlegen hatte, aufgehoben. Ich könne also nun auch andere Fernverkehrszüge der Deutschen Bahn sowie Nahverkehrszüge und S-Bahnen nutzen. Lediglich eine neue Sitzplatzreservierung müsse ich vornehmen, da die alte natürlich nicht mehr aufrechtzuerhalten sei. Und auch zu der Frage, wie mit dieser zu verfahren sei, hielt man einige Hinweise bereit:

Sie können sich – soweit verfügbar – einen Sitzplatz für Ihre neue Verbindung buchen. Die Kosten für die nicht in Anspruch genommene, ursprüngliche Reservierung können Sie zur Erstattung einreichen. Dazu können Sie den digitalen Fahrgastrechte-Antrag Digitale Fahrgastrechte nutzen.

Auf die Idee, die Kosten für eine per Internet gebuchte und per Paypal oder Kreditkarte bezahlte, aber nun hinfällige Reservierung von allein und automatisch zu erstatten, kommt man bei der Bahn ganz offensichtlich nicht. Böswillige würden jetzt wohl unterstellen, man spekuliere dort darauf, daß die Leute das vergessen. Ich würde das natürlich nie denken!

Ich brauchte nun einige Tage, bis ich die Zeit fand, mich um die Buchung einer neuen Reservierung und die Erstattung der alten zu kümmern. Daß sich das nämlich nicht ganz so einfach gestalten würde, hatte ich recht schnell herausgefunden. Zwar versprach die Mail, daß mir der Klick auf den Link zu den aktuellen Informationen dabei helfen würde, eine alternative Zugverbindung zu finden, und tatsächlich war eine entsprechende Suchmöglichkeit auf der Website, zu der ich dann geleitet wurde, auch vorhanden, doch diese lieferte bei jedem meiner Versuche immer wieder nur ein und dasselbe Ergebnis: eine alternative Verbindung konnte nicht gefunden werden. Ich würde wohl oder übel das reguläre Buchungssystem mit seinem langwierigen Buchungsprozeß nutzen müssen.

So machte ich mich also am Abend des 17. April daran, neue Sitzplatzreservierungen vorzunehmen. Da sich die Bahn nach wie vor nicht in der Lage sah, mir die angekündigten alternativen Verbindungen zu meinen abgesagten Zügen herauszusuchen, mußte ich das wohl selbst tun. Also rief ich das Buchungssystem auf und nahm meine Einstellungen vor: Ausgangsbahnhof Berlin, Zielbahnhof Bonn, Datum, gewünschte Ankunftszeit, 1. Klasse, mit Rückfahrt, noch einmal Datum und gewünschte Ankunftszeit und zu guter Letzt noch auswählen, daß bitte nur Sitzplätze reserviert werden sollen. Klick auf „Suchen“. Los ging’s. Als nächstes mußte ich meinen Zug auswählen und erfuhr endlich, worin eigentlich die ominöse Fahrplanänderung bestand: zu dem von mir gewünschten Fahrtzeitpunkt gab es nun keine durchgehende Verbindung von Berlin nach Bonn mehr. Ich würde also in Köln umsteigen müssen.

Nun gut, ich wählte eine Verbindung und anschließend einen Sitzplatz aus. Seit ich von der automatischen Platzauswahl einmal einen Fensterplatz zugewiesen bekommen hatte, der gar keiner war, weil sich lediglich die Lehne des Sitzes am Fenster befand, mache ich das immer selbst. Ein Klick auf „Weiter“ und – nanu? Müßte jetzt nicht eigentlich die Auswahl der Rückreiseverbindung folgen? Stattdessen trat ich bereits in den Zahlungsprozeß ein. Da stimmte doch was nicht!

Also wieder zurück auf Anfang. Ich stellte alles nochmal ein, Hinreise, Rückreise, 1. Klasse und zu guter Letzt noch „Nur Sitzplatzreservierung“ auswählen. Und diesmal fiel es mir auf! Kaum aktivierte ich die Option, daß ich nur Sitzplätze reservieren möchte, wurden die für die Rückreise ausgewählten Daten kommentarlos gelöscht. Die Bahn ermöglichte es mir also, ein Ticket für Hin- und Rückreise zusammen zu buchen und dafür auch Plätze zu reservieren, wollte ich aber ausschließlich Platzkarten kaufen, dann ging das nur einzeln. Inklusive Kaufprozeß. Service vom Feinsten!

Nun gut. Es war ja nicht anders möglich. Ich klickte mich also zweimal durch den gesamten Buchungsvorgang, der nicht gerade kurz war, veranlaßte damit zwei getrennte Abbuchungen von meinem Konto und hatte am Ende glücklich zwei neue Platzkartenreservierungen erstanden. Uff! Es ist schon fast müßig zu erwähnen, daß natürlich auch für die Rückfahrt keine durchgehende Verbindung zum von mir gewünschten Zeitpunkt mehr existierte.

Nun noch die Rückerstattung. In den beiden Emails hatte man mir versprochen, daß ich das digital erledigen könne. Ich war gespannt und klickte erwartungsvoll den Link an, der mit „digitale Fahrgastrechte“ benannt war. Ich landete auf einer Seite, die mir detailliert die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten beschrieb, meine digitalen Fahrgastrechte – wie können Rechte eigentlich digital sein? – geltend zu machen. Neben dem Einsenden eines entsprechend ausgefüllten Formulars per Post standen mir zwei Wege offen, das online zu erledigen: auf der Website über mein Kundenkonto oder in der Handy-App der deutschen Bahn. Da ich nun schon mal am Computer saß und die Website vor mir hatte, wählte ich diese Option.

Als erstes sollte ich mich erstmal einloggen. Man wollte ja schließlich wissen, mit wem man es zu tun hatte. Nachdem ich mich der Bahn zu erkennen gegeben hatte, versuchte ich, der zuvor erhaltenen Anweisung zu folgen:

Wählen Sie in Ihrer Buchungsübersicht die entsprechende Reise oder Streckenzeitkarte aus, für die Sie Entschädigung beantragen wollen. Klicken Sie innerhalb des Reiters „Fahrgastrechte“ den Button „Entschädigung beantragen“ an.

Ich war absolut bereit, das zu tun, nur konnte ich nach der Auswahl der entsprechenden Reise den angesprochenen Reiter „Fahrgastrechte“ leider nirgendwo entdecken. Eigentlich gab es auf der Seite überhaupt keine Reiter. Das wäre ja auch zu einfach gewesen.

Ich fing nochmal von vorne an. Das Ergebnis blieb dasselbe. Wenn der Button da irgendwo war, schien er nicht so einfach zu finden zu sein[1]Hier muß ich fairerweise anmerken, daß ich heute, als ich den Artikel schreibe, die Seite noch einmal aufgerufen habe. Zwar sind dort immer noch keine Reiter zu finden, doch ganz unten, fast am … [Weiterlesen]. Aber es gab ja noch eine andere Option.

Ich griff zu meinem Handy, rief die als „DB Navigator“ bezeichnete App der Deutschen Bahn auf und wählte meine Reise aus. Unter „Weitere Aktionen“ wurde ich sofort fündig: Entschädigung beantragen. Klick! Und schon war ich wieder raus aus der App. Mein Webbrowser startete. Da hatte jemand Entwicklungskosten gespart. Wozu die Funktion in der App noch einmal realisieren, wenn man sie schon auf der Website hat? Aber wenn es funktionierte, sollte es mir egal sein.

Tat es natürlich nicht. Stattdessen wurde mir eine Seite angezeigt, auf der lediglich stand, daß ich die Erstattung erst beantragen könne, wenn der Zeitraum meiner Reise in der Vergangenheit läge. Bitte was? Es war bereits jetzt klar, daß ich die Reservierung nicht würde wahrnehmen können, weil es die Fahrt, für die der Platz reserviert wurde, nicht mehr geben würde. Ich mußte jetzt aber trotzdem warten, bis der Termin der abgesagten Fahrt verstrichen war, bevor ich die Erstattung beantragen konnte? Warum genau? Weil der Fahrplan bis dahin vielleicht nochmal geändert werden und es die Fahrt dann plötzlich doch wieder geben könnte, oder was? Kann ich die böswillige Unterstellung von vorhin bitte nochmal sehen?

Da ich der Bahn das Geld für die obsoleten Reservierungen keinesfalls zu schenken gedachte, ich die Rückerstattung aber derzeit auch nicht beantragen konnte, blieb mir nichts anderes übrig als in meinem Kalender eine entsprechende Erinnerung zu hinterlegen.

Wenn ich nun allerdings dachte, daß die Bahn sich mit diesem Chaos zufriedengeben würde, so hatte ich mich geirrt. Obwohl ich jetzt neue Reservierungen vorgenommen hatte, schickte sie mir von nun an in unregelmäßigen Abständen immer wieder einmal eine Information, daß meine Zugverbindung nicht wie geplant fahrbar sei und ich mich doch bitte um alternative Reisemöglichkeiten bemühen solle. Diese Informationen trudelten mal per Email und mal über die Handy-App ein, manchmal auch in beiden Medien gleichzeitig, und jedesmal mußte ich genauestens prüfen, was genau nicht mehr funktionieren würde. Es war ja schließlich möglich, daß auch meine neu gebuchten Verbindungen plötzlich nicht mehr fahrbar waren. Bei der Bahn weiß man ja nie…

Wie recht ich mit dieser Befürchtung hatte, erwies sich einige Tage später. Der Monat April sollte wohl nicht vorübergehen, ohne daß die Bahn noch etwas mehr Chaos produzierte. Am 30. April trudelte nach 22 Uhr wieder eine Email ein, die ich fast schon geneigt war zu ignorieren, dann aber glücklicherweise doch noch einmal genauer in Augenschein nahm. Diesmal teilte man mir mit, daß es weitere Fahrplanänderungen gäbe, die eine meiner neuen Reiseverbindungen beträfen. Der Link zu den aktuellen Informationen half genauso wenig weiter wie beim letzten Mal und einen Grund für die Änderung suchte ich erneut vergeblich. Diesmal hatte man mir aber immerhin bereits in der Email einen alternativen Reiseplan mitgeliefert. Diesem konnte ich entnehmen, daß nun die Zugverbindung von Bonn nach Köln gestrichen worden war, und zwar offenbar so gründlich, daß die Alternative darin bestand, von Bonn nach Siegburg die Straßen- beziehungsweise U-Bahn[2]Im Verkehrsverbund von Köln und Bonn sind Straßen- und U-Bahn gewissermaßen dasselbe. Insbesondere an den unterirdischen Streckenabschnitten als U-Bahn bezeichnet, fahren die Züge aber an anderen … [Weiterlesen] zu nehmen, um von dort dann mit der Regionalbahn nach Köln zu gelangen. Davon waren nun immerhin meine Sitzplatzreservierungen nicht betroffen, so daß keine weiteren Aktivitäten meinerseits mehr erforderlich waren. Immerhin. Bei der Bahn muß man sich ja mittlerweile auch über die kleinen Dinge freuen…

Noch immer steht die Reise erst bevor. Ich darf also weiterhin gespannt darauf sein, was die Deutsche Bahn bis dahin noch für mich bereit hält.

Referenzen

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1 Hier muß ich fairerweise anmerken, daß ich heute, als ich den Artikel schreibe, die Seite noch einmal aufgerufen habe. Zwar sind dort immer noch keine Reiter zu finden, doch ganz unten, fast am Ende der Seite, entdecke ich dann doch noch den mit „Entschädigung beantragen“ beschrifteten Button. Ob er bei meinem ersten Versuch noch nicht da war oder ob ich ihn aufgrund der irreführenden Beschreibung des Vorgehens schlicht übersehen hatte – was ich durchaus bereit bin einzuräumen -, kann ich heute nicht mehr sagen.
2 Im Verkehrsverbund von Köln und Bonn sind Straßen- und U-Bahn gewissermaßen dasselbe. Insbesondere an den unterirdischen Streckenabschnitten als U-Bahn bezeichnet, fahren die Züge aber an anderen Stellen wie anderswo Straßenbahnen.

Und der Wind weht allzeit über’s Meer…

Dieser Beitrag ist Teil 7 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Um so schneller eilt die Zeit, je mehr wir wünschen, daß sie sollt‘ verweilen.

Dieser Erfahrung, die sich zwar physikalisch nicht belegen läßt, doch trotzdem von kaum jemand bestritten werden dürfte, der auch nur über ein Mindestmaß an Lebenserfahrung verfügt, muß auch ich mich an diesem siebten Tag meines Urlaubs in Prerow stellen, denn er ist bereits der letzte meines kleinen Ausflugs, der mich nicht nur hierher auf den Darß geführt hat, sondern auch zu einer Reise zurück in die Erinnerungen an die Zeit meiner Kindheit und Jugend geworden ist, als ich gemeinsam mit meinen Eltern jedes Jahr hier im Urlaub gewesen bin.

Nachdem ich meine gestrige Fahrt nach Barth des ausgesprochen hartnäckigen Regens wegen schließlich hatte abbrechen müssen, ist das Wetter heute wieder zur Ruhe gekommen. Zwar ziehen nach wie vor dicke, mal mehr, mal weniger graue Wolken über den Himmel, wobei sie nach meinem Eindruck eine recht beachtliche Geschwindigkeit an den Tag legen, doch behalten sie die Wasser, die sie in ihrem Inneren tragen mögen, für sich, so daß es heute weidlich trocken bleibt. Allerdings hatte ich mir nach der Erfahrung vom Vortage für heute noch keinen rechten Plan für eine Unternehmung zurechtgelegt, hatten sich doch die einschlägigen Wettervorhersagen samt und sonders geweigert, einen regenfreien Tag zu garantieren. Daher wird sich mein heutiges Programm mehr oder minder spontan gestalten müssen. Doch das muß ja nichts Schlechtes sein…

Meine gestrige ausgiebige Besichtigung der großen Barther Sankt-Marien-Kirche hatte mir etwas wieder in Erinnerung gerufen, das noch auf meiner Wunschliste steht, für das ich aber im Zuge der Ausflüge der letzten Tage noch keine Zeit gefunden hatte: ein Besuch in der alten Seemannskirche von Prerow. Und mangels anderweitiger konkreter Planungen habe ich heute definitiv genug Zeit, diesen Besuch abzustatten.

Gleich nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg. Da ich keinesfalls Gefahr laufen möchte, wieder vor verschlossener Tür zu stehen, wie es nach meinem Prerower Rundgang am späten Nachmittag einige Tage zuvor der Fall gewesen war, ziehe ich es diesmal vor, bereits am Vormittag an der Kirche zu erscheinen. Auf dem vor dem Prerower Strom gelegenen Deich wandere ich zum östlichen Ende des Ortes. An der kleinen Märchenhütte vorbei erreiche ich den Abzweig des Weges, der mich in den Kirchenort hineinführt, wo sich der alte Friedhof befindet, in dessen Mitte sich die Seemannskirche erhebt. Wieder öffne ich das schmiedeeiserne Tor, wieder quietscht es leicht, und wieder gewährt es mir ohne weiteres den Zugang zum Friedhof. Und doch ist, wie ich fasziniert bemerke, die Atmosphäre, die mich dahinter umfängt, heute anders als einige Tage zuvor. Zwar verspüre ich auch heute das Empfinden, eine Welt der Ruhe, der Andacht und der Erinnerung zu betreten, doch wirkt sie jetzt irgendwie zurückgezogener, melancholischer. Ob das an den grauen Wolken liegt, die noch immer über den Himmel jagen? Vielleicht. War bei meinem letzten Besuch der Himmel strahlend blau gewesen und von der abendlichen, dem Horizont entgegenstrebenden Sonne hell erleuchtet worden, die die Kirche und den Friedhof mit seinen Bäumen, Büschen und Hecken in bunte Farben hüllte, so wirken diese heute gleichförmig düster. Von bunten Farben keine Spur. Eher dominieren Grau- und Brauntöne. Melancholie und Traurigkeit scheinen die Atmosphäre zu bestimmen.

Auch die Kirche ist davon nicht ausgenommen. Auch sie scheint heute eher gedrückter Stimmung zu sein. Der hölzerne Turm wirkt dunkel, von dem freundlichen Rot, mit dem das Dach einige Tage zuvor im Licht der untergehenden Sonne so hell leuchtete, ist heute keine Spur zu sehen. Einzig die gelben Ziegel des Hauptweges bringen etwas Farbe in die Szenerie. Schnurgerade führen sie auf die kleine Tür zu, die sich in der Seite des Kirchenschiffes befindet und, wie ich erfreut bemerke, einen Spaltbreit offensteht. Dort angekommen, schiebe ich sie zur Gänze auf und trete ein.

Ich finde mich in einem kleinen Vorraum wieder, nicht viel größer als eine Kammer. Ein Aufsteller präsentiert eine Reihe von Faltblättern mit Informationen zur Kirche, zu stattfindenden Veranstaltungen und vielem mehr, das mich angesichts meiner bevorstehenden baldigen Abreise allerdings nicht sonderlich interessiert, so daß ich meine Aufmerksamkeit alsbald der zweiten Tür zuwende, die auf der gegenüberliegenden Seite des Vorraums weiter in das Kircheninnere hineinführt. Sie gibt meinem Druck nach und gestattet mir einzutreten[1]Leider kann ich auch hier aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Auch wenn ich in der Prerower Seemannskirche kein solches Verbotsschild wie tags zuvor in der Barther … [Weiterlesen].

Nach dem etwas düsteren Eindruck, den die Kirche mit ihrem dunkelbraunen, hölzernen Turm und den rötlich-braunen Backsteinmauern von außen hinterlassen hatte, bin ich ein wenig von der strahlenden Helligkeit überrascht, die mich in ihrem Inneren empfängt. Große Fenster, die ich von außen in den Mauern gar nicht recht wahrgenommen hatte, lassen reichlich Licht einfallen, das eine zusätzliche Beleuchtung des Kirchenschiffes weitestgehend unnötig macht. Lediglich an dessen westlichem Ende, wo sich aufgrund des sich anschließenden Turms keine Fenster befinden, verbreiten ein paar Lampen freundliches gelbes Licht.

Meine Aufmerksamkeit gilt jedoch zunächst dem Ostende des Schiffes und dem dort aufragenden Altar. Auch er sorgt bei mir für einige Überraschung, ist er doch weit von der Schlichtheit entfernt, die man sonst für gewöhnlich in evangelischen Gotteshäusern antrifft. Gut, auch der Altar der Barther Sankt-Marien-Kirche war mit seinem einen Sternenhimmel imitierenden Baldachin nicht gerade ein Ausbund an Schlichtheit gewesen, doch jene Kirche war immerhin im Auftrag eines preußischen Königs gestaltet worden. Bei der Prerower Seemannskirche handelt es sich jedoch um eine reine Dorfkirche, wenn auch eine mit ausgeprägter Tradition, wie ich bei meinem Rundgang feststellen werde. Dies drückt sich auch in dem Altar aus, der nicht nur ausgesprochen schön ist, sondern überdies eine kleine Besonderheit darstellt. Er ist nämlich Altar und Kanzel in einem. Der Altartisch, den eine vor ihm aufgestellte niedrige hölzerne Barriere zum Kirchenraum hin abschließt, befindet sich vor einer hohen Rückwand, die in die Ostwand des Kirchenschiffs integriert ist, an die sich die als Sakristei genutzte Apsis des Gotteshauses anschließt. Diese Rückwand wird nach oben hin von einem Rundbogenaufsatz und zu beiden Seiten von runden Säulen abgeschlossen, zwischen denen sich in etwa eineinhalb Metern Höhe die Kanzel befindet. Auf dem sie bekrönenden Baldachin ist eine kleine Statue zu sehen, deren Kopf ein Strahlenkranz umgibt. Da die Kanzel über keinen sichtbaren Zugang verfügt, muß dieser sich in der Apsis befinden, die durch zwei Türen zugänglich ist, die sich je eine zu beiden Seiten des Altars befinden. Dieser sogenannte Kanzelaltar wurde im Jahre 1728 von dem Stralsunder Meister Elias Keßler geschaffen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß von dieser Kanzel auch der hier von 1813 bis zu seinem Tode im Jahre 1825 tätige Pastor Joachim Gottfried Danckwardt seine Predigten unter das Volk brachte, der ein Lehrer des berühmten Lyrikers und Historikers Ernst Moritz Arndt gewesen ist.

Auf der rechten Seite des Kirchenschiffs, ebenfalls direkt an seinem östlichen Ende, befindet sich der Taufstein der Kirche. Und ebenso wie der Altar ist auch dieser eine Besonderheit, die ich so noch nirgendwo zu sehen bekommen habe. Das liegt allerdings weniger daran, daß es sich gar nicht um einen Stein, sondern vielmehr um ein Taufbecken handelt, das sich auf einem kunstvoll geschnitzten Ständer befindet. Nein, das allein wäre noch nichts sonderlich Außergewöhnliches. Diesen Status erlangt das Taufbecken jedoch durch sein sogenanntes Taufgehäuse. Ich würde es am ehesten als kleinen Pavillon beschreiben, der am Boden von einer umlaufenden Brüstung umgeben ist, die in vier große und acht kleine ornamental durchbrochene Felder unterteilt ist. Vier Pfeiler, an denen sich ebenso viele Figuren befinden, die Engelhermen darstellen, tragen das Dach des Gehäuses, auf dem kleine, allerliebst anzusehende Engelputten sitzen, die Inschriftkartuschen halten und in deren Mitte eine Jesus-Figur steht. Die üppige Vergoldung der Figuren und Brüstungsfelder kontrastiert sehr hübsch mit dem tiefen Blau der Pfeiler, des Daches und des Rahmens der Brüstung. Im Zentrum des Gehäuses befindet sich der geschnitzte Taufständer. Geschaffen wurde dieses beeindruckende Kunstwerk, dessen Positionierung vor zwei großen Eckfenstern es im hellen Tageslicht erstrahlen läßt, im Jahre 1740 von dem Stralsunder Meister Michel Müller.

Nachdem ich mir diese beiden außergewöhnlichen Kunstwerke eingehend angesehen habe, wobei ich über die Kunstfertigkeit ihrer Schöpfer und die Schönheit der Gestaltung angemessen beeindruckt bin, wende ich mich nun dem Kirchenschiff zu, das rund dreißig Meter lang und etwa halb so breit ist. Und hier finde ich nun auch die Schlichtheit vor, die ich in einer evangelischen Kirche erwartet habe. Obwohl die Seemannskirche ein eher kleines Gotteshaus ist, schließen sich links und rechts an das von einem Tonnengewölbe nach oben hin abgeschlossene Mittelschiff zwei kleine Seitenschiffe an. Sie besitzen jeweils eine flache Decke und werden vom Hauptschiff durch schlanke, mit breiten Rundbögen verbundene Holzpfeiler getrennt. Eine auf schlichten Pfosten aus demselben Material ruhende Empore umläuft das Kirchenschiff an den Längs- und der Westseite. Sie nimmt der Länge nach etwa das halbe Schiff ein. Daß sich auf ihr an den Seiten weitere Sitzplätze befinden, kann ich nur vermuten, denn von hier unten ist von dem, was sich auf der Empore befindet, lediglich die am westlichen Ende des Kirchenschiffs aufgestellte kleine Orgel des Gotteshauses zu sehen.

Der gesamte untere Raum der drei Schiffe wird dort, wo sich an den Seiten die Empore befindet, vom Kirchengestühl eingenommen. Während sich dieses im hinteren Teil auf einfache Kirchenbänke beschränkt, ist es im vorderen, dem Altar zugewandten Bereich als Kastengestühl ausgeführt. Hier befinden sich offenbar die besseren Plätze, die in der Vergangenheit wohl den höhergestellten Mitgliedern der Prerower Einwohnerschaft vorbehalten gewesen sein mögen. Sowohl Gestühl als auch Empore sind in einem hellen Grau gestrichen, wobei in die Begrenzungswände des Kastengestühls ebenso wie in die Brüstung der Empore verzierende Felder eingelassen wurden, deren Innenfläche jeweils in einem hellen Blau gehalten ist und von einem dunkelblauen Rahmen eingefaßt wird. Diese doch recht einfache Farbgestaltung verleiht dem Innenraum eine helle, freundliche Atmosphäre von ausgeprägter Schlichtheit, in der ich mich jedoch ausgesprochen wohlfühle. Abgerundet wird dieser Eindruck durch die dazu passenden Sitzauflagen auf den Kirchenbänken, die das Blau der Felder in Empore und Gestühleinfassungen aufnehmen.

Als ich meinen Blick nach oben hebe und ihn von der Orgel die Empore entlang in Richtung Altar gleiten lasse, entdecke ich in der Mitte des Kirchenschiffs, direkt über den vorderen Reihen der Bänke, ein großes Schiffsmodell, das von der Gewölbedecke herabhängt. Es stellt ein Dreimast-Segelschiff mit Bug- und Hecksegel dar. Votivschiffe wie dieses gibt es in der Kirche mehrere. Und nicht nur hier. Sie repräsentierten in evangelischen Kirchen des Ostseeraumes den Berufsstand des Schiffers beziehungsweise Seemanns und wurden der jeweiligen Kirche gewöhnlich aus Dankbarkeit für die Rettung aus Seenot gestiftet. Das gilt auch für das Schiff, das ich hier im Mittelschiff vor mir sehe und das das größte der drei ist, die die Kirche heute besitzt. Dem Segler Napoleon nachempfunden, wurde es um das Jahr 1850 von einem Kapitän an die Kirche übergeben.

Zu erwähnen sind noch die beiden Kronleuchter, die ebenfalls im Mittelschiff der Seemannskirche aufgehängt sind. Im westlichen Teil des Innenraums entdecke ich einen sechsarmigen, aus Messing bestehenden Leuchter, während vor dem Altar ein – wenn ich mich nicht verzählt habe – zehnarmiger Leuchter aus Kristallglas zu sehen ist. Beide fanden als Stiftungen ihren Weg in die Kirche. Der Messingleuchter wurde 1733 von Prerower Bauern und Fischern übergeben, während um 1800 eine Mannschaft, deren Schiff vor der Küste Prerows strandete und gerettet wurde, den Kristallglasleuchter in die Kirche brachte.

An all diese Kunstwerke und Gegenstände habe ich ebenso wie an den gesamten Innenraum der Kirche keinerlei Erinnerungen aus der Zeit meiner Kindheit und Jugend, als wir uns des öfteren hier in Prerow aufhielten. Wenn wir dabei auch einmal der Seemannskirche einen Besuch abgestattet haben sollten – was ich für durchaus wahrscheinlich halte -, so habe ich mich damals allerdings nicht sonderlich dafür interessiert, weshalb kein bleibender Eindruck entstehen konnte, an den ich mich heute noch erinnern würde. Um so froher und zufriedener bin ich, daß es mir heute möglich war, den Besuch nachzuholen, denn ich bin durchaus der Meinung, daß mir andernfalls etwas Wertvolles und Interessantes entgangen wäre.

Mit diesem Gedanken wende ich mich wieder der Tür zu, durch die ich die Kirche zuvor betreten hatte, und verlasse Gotteshaus und Friedhof auf demselben Wege, auf dem ich gekommen bin.

Und nun? Einen Moment stehe ich unschlüssig auf dem Platz vor dem Friedhof und überlege, was ich als nächstes unternehmen soll. Da die Sonne es mittlerweile schafft, immer wieder einmal durch die nach wie vor recht schnell über den Himmel ziehenden Wolken zu lugen, lenke ich meine Schritte zum nahegelegenen Prerower Hafen. Vielleicht, kommt es mir in den Sinn, könnte ich ja zum Abschluß des Urlaubs noch eine kleine Wanderung durch die von Prielen und Fließen durchzogenen Wiesen und Felder unternehmen, durch die der Prerower Strom seine vielfach gewundene Bahn zieht, die ihn hinüber zum Bodstedter Bodden führt. Das könnte doch eigentlich ganz schön sein, und vielleicht schaffe ich es ja tatsächlich bis hinüber zum Bodden und in das an diesem gelegene Örtchen Wieck. Von dort ließe es sich dann am Nachmittag ganz bequem mit dem Bus nach Prerow zurückkehren.

Je länger ich auf meinem Weg hin zum Hafen über diese Idee nachdenke, desto verlockender erscheint sie mir. So schenke ich dem heftigen Wind, der mich plötzlich von der Seite her umweht, als ich gerade den Prerower Strom überquere, keine große Beachtung. Doch das soll sich kurze Zeit später ändern. Kaum habe ich den Hafen hinter mir gelassen und den kleinen, parallel zum Strom verlaufenden Deich erreicht, auf dem ich die ersten Meter meiner Wanderung zurückzulegen gedenke, muß ich feststellen, daß der Wind durchaus kein Ereignis eines einzelnen Moments zu bleiben gedenkt, sondern hier, wo er durch den Strom und die nahen Wiesen über ausreichend freie Fläche verfügt, nicht nur ausgesprochen beständig weht, sondern sich auch als recht steife Brise entpuppt, die dem Wanderer einen gewissen Widerstand entgegenzusetzen in der Lage ist. Doch noch will ich mich nicht geschlagen geben. Als ich das Ende des Prerower Ortsteils Krabbenort erreicht habe, wo mich ein Schild recht bestimmt darauf hinweist, daß das Weitergehen auf dem Deich von hier an untersagt ist, folge ich einer kleinen Straße, die zwischen die Häuser hineinführt und mich hoffen läßt, über sie auf deren anderer Seite die Wiesen und einen über jene hinwegführenden Weg zu erreichen. Kaum befinde ich mich zwischen den Häusern, ist der Wind verschwunden. Als die Straße sich nach wenigen Schritten – der Krabbenort ist hier an seinem nahen Ende nur noch zwei bis drei Grundstücke breit – schließlich als Sackgasse erweist, von deren Ende kein Weg in die Wiesen weiterführt, muß ich wohl oder übel umkehren, um mir eine andere Möglichkeit des Weiterkommens zu suchen. Irgendwo wird hier schon ein Weg in die Wiesen zu finden sein.

Kaum habe ich den Deich wieder erreicht, ist auch der Wind wieder da. So langsam wird mir klar, daß der Grund dafür, daß ich ihn bisher nur gelegentlich zu spüren bekommen hatte, wohl darin zu suchen ist, daß mich mein Weg durch Prerow hierher praktisch nie über größere Freiflächen, sondern immer zwischen Häusern und kleinen oder größeren Waldstücken hindurchgeführt hatte. Dabei waren doch die geschwind über den Himmel ziehenden Wolken die ganze Zeit ein recht deutlicher Hinweis auf die Wetterlage und die mit ihr verbundenen Luftbewegungen gewesen. So komme ich zu guter Letzt zu dem Schluß, daß ich wohl, sollte ich bei meinem Vorhaben einer Wanderung über die Wiesen bleiben, mit dem Wind als ständigem Begleiter, wenn nicht gar Gegner würde rechnen müssen. Angesichts der am heutigen Tag nicht allzu hohen Temperaturen, die ich auf höchstens acht Grad Celsius schätze, kommt mir die Aussicht darauf auf einmal gar nicht mehr so verlockend vor wie noch vor etwa einer halben Stunde. Bereits bei dem Gedanken an eine Wanderung in unablässig wehendem steifen Wind vermeine ich ein leichtes Frösteln zu spüren. Dem wäre mit einem dickeren Pullover sicher abzuhelfen, nur liegt dieser im Schrank meines Zimmers. Ihn jetzt von dort zu holen, bedeutete, den ganzen Weg hierher erst zurück- und dann wieder herlaufen zu müssen. Und dazu verspüre ich dann doch eher weniger Lust.

Nachdem ich mich ein wenig für meine unzureichende Tagesplanung gescholten und mich über mich selbst geärgert habe, was mir für eine kleine Weile eine gewisse Mißstimmung beschert, stelle ich schließlich fest, daß das am Ende auch nichts bringt außer schlechte Laune. Und weil ich die nicht haben will, beschließe ich, mit dem zufrieden sein, was ich habe. Und das ist nicht nur der Besuch, den ich der kleinen hübschen Seemannskirche am Vormittag abgestattet hatte, sondern auch die Tatsache, daß mir immer noch ein ganzer Nachmittag zur Verfügung steht. Und da ich mich nun von der Idee freigemacht habe, an diesem letzten Tag noch irgendeine größere Unternehmung in Angriff nehmen zu müssen, ist mir auf einmal völlig klar, was ich mit der verbleibenden Zeit wirklich tun möchte.

Genau wie mir das Begrüßen des Meeres noch am Tage meiner Ankunft eine liebe Tradition geworden ist, die ich aus der Zeit meiner Kindheit und unseren damaligen Urlauben hier in Prerow übernommen habe, so ist auch der Abschied am letzten Tag zu einer solchen geworden. Egal, welches Programm für diesen letzten Tag auch immer vorgesehen war, am Ende gingen wir stets noch einmal an den Strand, um der Ostsee Lebewohl zu sagen – bis zum nächsten Mal. So will ich es auch diesmal halten.

Und so mache ich mich langsamen Schrittes auf den Weg zurück in den Ort, um mich zu verabschieden. Langsam spaziere ich durch die mir inzwischen wieder vertrauten Straßen, komme vorüber an den vielen neuen Häusern und an jenen, die ich noch von damals kenne, wandere ein Stück den Deich und den dahinterliegenden Prerower Strom entlang, den ich auf einer der schmalen Brücken überquere, die hinüber in den Dünenwald führen, in dem sich der altvertraute Ziegelweg unter meine Füße legt. Schließlich gelange ich noch einmal zum Hauptübergang mit seinen zahlreichen Buden, an denen alles verkauft wird, was der geneigte Tourist und Strandbesucher vielleicht brauchen oder zumindest haben wollen könnte, von Souvenirs über Kleidung und Schmuck bis hin zu Bratwurst und Crêpes. Dann stehe ich wieder auf der Düne, wo ich überrascht feststelle, daß man inzwischen die Aussichtsplattform, von der ich vier Tage zuvor noch auf die Pfeiler der Seebrücke und bis hinüber nach Hiddensee geblickt hatte, abgerissen hat. Von ihr ist keine Spur mehr zu sehen.

Hier oben ist natürlich auch der Wind wieder da, von dem während meines Spaziergangs durch den Ort und den Dünenwald so gut wie nichts mehr zu spüren gewesen war, so daß ich ihn inzwischen völlig vergessen hatte. Doch hier, wo die weite Wasserfläche des Meeres ihm keinerlei Hindernis in den Weg stellt, geht er nun voller Inbrunst zu Werke. Das bleibt natürlich nicht ohne Folgen für die in den letzten Tagen so überaus friedliche See. Bereits von hier oben ist deutlich zu erkennen, daß von der spiegelglatten, wellenlosen Meeresoberfläche, die sie mir stets präsentiert hatte, wann immer ich in den vergangenen Tagen zu ihr gekommen war, heute keine Rede sein kann. Zwar wäre es auch völlig übertrieben, davon zu sprechen, daß sich das Meer in Aufruhr befände – so stürmisch ist der Wind dann auch wieder nicht -, doch lassen sich heute immerhin die Wellen sehen, die ich bisher stets hatte vermissen müssen.

Ich stapfe durch den Sand den Strand hinunter zum Wasser, das in heftiger Bewegung ist. Mutwillig dringt es auf den Strand vor und versucht, möglichst große Areale des weißen Sandes zu bedecken, bis ihm die Puste ausgeht und es sich widerwillig wieder zurückziehen muß, nur um sofort einen neuen Anlauf zu wagen. Weiter draußen, wo die Oberfläche des Wassers stark gekräuselt ist und wabernd hin- und herwogt, rollen Wellen auf das Ufer zu, die sich urplötzlich überschlagen und weiße Schaumkronen bilden, wo sie auf Sandbänke treffen, die sich im Meeresboden angehäuft haben und sie in ihrem Vorwärtsdrängen aufhalten. Wirken sie hier noch vergleichsweise harmlos, zeigen sie kurz darauf, wieviel Energie sie tatsächlich in sich tragen. Da sich die Bauschiffe am heutigen Sonnabend wieder in den Nothafen am Darßer Ort zurückgezogen haben, ist der Weg entlang der Pfeilerreihe der im Entstehen begriffenen neuen Seebrücke für die Wellen frei, bis sie auf die aus irgendeinem Grund in den Meeresboden gerammten metallenen und parallel zum Ufer verlaufenden Spundwände treffen. Als wären sie über das unverhoffte Hindernis unvermittelt in Wut geraten, setzen die Wellen von einem Moment auf den anderen die ihnen innewohnende Energie frei, als wollten sie versuchen, es aus dem Weg zu räumen. Doch die metallene Front ist hartnäckig und weicht keinen Zentimeter, so daß den Wellen keine andere Wahl bleibt, als sich in hoch aufspritzenden Gischtfontänen über sie hinwegzusetzen. Das ist jedesmal ein phantastischer Anblick. Keine dieser Fontänen ist wie die andere und eine jede scheint die Höhe ihrer Vorgänger noch überbieten zu wollen. Nicht jeder gelingt es, doch alle versprühen sie Myriaden großer und kleiner Tröpfchen, die über die Spundwände spritzen und auf die dahinterliegende Wasseroberfläche aufschlagen. Doch die Macht der Welle ist gebrochen. Hinter der Spundwand findet sie sich nicht wieder und das Wasser ist ungleich ruhiger. Dieses sich ewig wiederholende Spiel der Wellen entfaltet, je länger ich ihm zusehe, eine schon fast hypnotische Wirkung, die durch das es begleitende rhythmische Rauschen des Wassers noch verstärkt wird.

An der Seebrücke in Prerow
Hoch schäumt die Gischt, wenn sich die Welle bricht.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Am Ende weiß ich gar nicht, wie lange ich hier gestanden und dem Meer in seiner endlosen Bewegung, mit der es, getrieben vom Wind, unverdrossen gegen das Land anbrandet, zugesehen habe. Mir ist, als erblickte ich darin ein Stück der Ewigkeit. Wir kommen in diese Welt und müssen sie irgendwann wieder verlassen, doch das Meer wird auch dann noch dem Spiel seiner Wellen frönen und sie unverdrossen in Richtung Land schicken, wenn wir und Generationen nach uns schon längst nicht mehr sind. Und aus irgendeinem Grund hat dieser Gedanke, obwohl er mich an meine eigene Endlichkeit erinnert, nichts Bedrohliches, sondern etwas sehr Beruhigendes.

Im Geiste verabschiede ich mich von der See und verspreche ihr – und auch mir selbst -, bald einmal wiederzukommen. Vielleicht schon im nächsten Jahr. Vielleicht wird es nicht in Prerow sein, sondern irgendwo anders. Usedom vielleicht. Oder Rügen. Und vielleicht – sicher bin ich mir im nachhinein darüber nicht – spreche ich diese Abschiedsworte auch laut aus und lasse sie vom Wind davontragen.

Mach’s gut, Ostsee. Es war schön. Bis bald mal wieder…

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1 Leider kann ich auch hier aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Auch wenn ich in der Prerower Seemannskirche kein solches Verbotsschild wie tags zuvor in der Barther Sankt-Marien-Kirche vorfinde, bin ich mir nicht sicher, ob ich dies rechtlich als Freifahrtschein für die Veröffentlichung meiner Fotos ihres Innenraums ansehen darf. So muß auch in diesem Falle das Wort genügen, um einen Eindruck des Kircheninneren zu vermitteln.

Barther Kirchentag

Dieser Beitrag ist Teil 6 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Bomm!
Bomm!
Bo-bomm!
Bo-bomm!
Bomm!

Von irgendwo läßt sich ein sanftes Trommeln vernehmen. Zuerst nur ganz leise, doch dringt es, sich in seiner Vehemenz beharrlich durchsetzend, lauter und lauter durch die Schleier hindurch, die der Schlaf um mich gewoben hat, bis sich diese endlich verflüchtigen und mich aus meinen Träumen in die reale Welt zurückführen. Noch wehre ich mich dagegen, doch schließlich kann ich nicht mehr umhin, die Traumwelt endgültig zu verlassen und meine Aufmerksamkeit diesem unablässigen Trommeln zuzuwenden.

Bomm!
Bomm!
Bo-bomm!

Ein Weile lausche ich dem Geräusch, das mich aus dem Schlaf geholt hat. Was könnte das sein? Ein tropfender Wasserhahn vielleicht? Nein, dazu ist es zu vielfältig. Das müßten schon mehrere Wasserhähne zugleich sein, die da so stetig vor sich hin tropfen. Und es kommt ja auch gar nicht aus dem Badezimmer. Nein, das Geräusch kommt definitiv von draußen. Es dringt durch das geöffnete Fenster und zwischen den schweren Vorhängen hindurch, die das Zimmer in einem beständigen Halbdunkel halten. Nur durch den schmalen Spalt zwischen ihnen fällt ein wenig Licht des bereits angebrochenen Tages. Von dort kommt auch das ewige Trommeln.

Mein Gehirn kommt nur langsam in die Gänge. Doch schließlich findet es den Gedanken, nach dem es gesucht hat, seit ich von dem Geräusch geweckt worden bin: Regen! Das muß Regen sein.

Auf einmal erscheint mir das Bett als ein ausgesprochen sympathischer Aufenthaltsort für den Tag. Ich könnte mich ja nochmal auf die andere Seite drehen und eine weitere Runde schlafen…

Andererseits ist das Verschlafen des hellichten Tages keine Option, die sehr unterhaltsam und interessant klingt. Und so wirklich müde bin ich eigentlich auch nicht mehr…

Ach, was soll’s! So ein bißchen Regen wird mir nicht den Tag verderben. Und wer weiß, vielleicht hört er ja auch bald auf. Entschlossen schlage ich die Decke zurück und stehe auf. Zunächst will ich mir doch einmal ansehen, was denn das eigentlich für ein Regen ist, der da vor meinem Fenster herumtrommelt. Ich tappe durch das Halbdunkel des Raumes um das Bett herum und ziehe die Vorhänge zurück. Licht strömt ins Zimmer, doch ist es nicht gerade blendend. Dafür ist der Tag, der vor dem Fenster herumlungert, viel zu grau. Und naß.

Das Trommeln, das mich geweckt hat, kommt von irgendwo dort draußen, ohne daß ich genau ausmachen kann, woher eigentlich. Es hört sich so an, als befände sich an irgendeiner Stelle des Hauses in der Nähe meines Fensters ein Blech, auf das Wasser tropft. Daß es der feine Regen ist, der unaufhörlich herniederströmt, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Offenbar sammelt er sich jedoch irgendwo und verursacht stetig fallende Tropfen. Den Klängen nach an gleich mehreren Stellen.

Egal. Ich bin wach. Laß es tropfen.

Ich suche nicht weiter. Stattdessen starte ich frohen Mutes in den Tag. Von dem bißchen Regen lasse ich mir nicht die Laune verderben. Zunächst stehen Waschen, Zähneputzen und Frühstücken auf dem Programm. Und wer weiß, wenn ich damit fertig bin, hat der Regen ja vielleicht auch schon aufgehört.

Tatsächlich ist das der Fall. Als ich den Frühstücksraum meiner Pension verlasse, auf mein Zimmer zurückkehre und einen Blick aus dem Fenster werfe, sind die Regenschleier verschwunden. Der Himmel sieht zwar immer noch so aus, als habe er sich heute in Asche gewandet, doch das stört mich nicht weiter. Solange es einigermaßen trocken ist, wird mich nichts davon abhalten, vor die Tür zu gehen. Allerdings erscheint es mir klug, dem regenschwangeren Wetter doch Rechnung zu tragen und keine Ausflüge in Gegenden zu unternehmen, in denen es vor vom Himmel herniederstürzendem Wasser keinerlei Schutz gibt. Da kommt es mir sehr zupaß, daß sich auf der Liste meiner Ausflugsziele für diesen Urlaub noch eines findet, das sich ganz wunderbar für solch einen Tag eignen könnte: Barth. Die auf dem Festland am südlichen Ufer des nach ihr benannten Boddens gelegene Kleinstadt ist, orientiert man sich an ihrer ersten urkundlichen Erwähnung, fast so alt wie Berlin. Tatsächlich ist sie älter, denn in eben jener Urkunde aus dem Jahr 1255 ist bereits von einer Stadt die Rede. Das könnte also ein für mich als an Geschichte Interessiertem ein lohnendes Ziel sein.

Auch sagen mir meine Erinnerungen, daß wir in unseren Urlauben zu den Zeiten meiner Kindheit und Jugend mehrfach in Barth gewesen sind. Ein Besuch dort gehörte in jedem Jahr einfach dazu. Vieles habe ich zwar mittlerweile vergessen, doch an die bereits geschilderte Fahrt über die Meiningenbrücke erinnere ich mich noch gut. Auch die Passage einer engen Durchfahrt durch eine Art Stadttor taucht aus den Tiefen meines Gedächtnisses auf, wenn ich an Barth denke; und aus irgendeinem Grund weiß ich noch, daß wir pro Besuch stets nur ein einziges Mal hindurchfuhren. In die Gegenrichtung führte der Weg immer an dem Stadttor vorbei, wohl weil es so eng war. Zwar erinnere ich mich noch gut, daß ich das jedesmal irgendwie enttäuschend fand, doch könnte ich heute nicht mehr sagen, ob das auf der Fahrt in die Stadt hinein gewesen ist oder beim Verlassen derselben. Nun, das werde ich ja vielleicht ergründen können, wenn ich mich jetzt auf den Weg dorthin mache.

Ein kurzer Blick auf den Busfahrplan, den ich über mein Smartphone abrufen kann, belehrt mich, daß ich mehr als ausreichend Zeit habe. Und weil ich weder große Lust verspüre, diese auf meinem Zimmer zu verbringen, noch ein langes Herumstehen an der nahegelegenen Bushaltestelle im Zentrum des Ortes sonderlich verlockend finde, entschließe ich mich zu einem Spaziergang zur Hafenstraße, wo sich, wie ich von meinem Prerow-Rundgang ein paar Tage zuvor weiß, eine weitere Busstation befindet. Bis ich dort bin, dürfte die Zeit bis zur Abfahrt des Busses schon fast heran sein.

Wegweiser in Prerow
Jede Menge Ziele. Mitten im Zentrum, an der Ecke Wald- und Bergstraße, steht dieser bunte, typische Prerower Wegweiser.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Vorüber an den bunten Prerower Wegweisern, die ich dieses Mal allerdings lediglich zu fotografischen Zwecken beachte, da ich sie zum Auffinden des mir bereits bekannten Weges nicht benötige, spaziere ich durch Berg- und Lange Straße der Hafenstraße entgegen.

An selbiger angekommen, habe ich wider Erwarten doch noch mehr Zeit übrig als erwartet. Eine reichliche Viertelstunde muß ich noch auf den Bus warten. Angesichts des nach wie vor tiefgrauen Himmels und der sich beharrlich hinter der Wolkendecke verbergenden Sonne erscheint es mir nicht sehr sinnvoll, diese Zeit mit Herumstehen an der Haltestelle zu verbringen, denn ohne die wärmenden Strahlen der Sonne wird mir an diesem Apriltag doch recht schnell recht kühl. So spaziere ich ein wenig in der Gegend herum und nehme sie in Augenschein. Zunächst fällt mir erneut das Wartehäuschen auf. Mit mir warten einige Personen, die trotz dieses sauertöpfischen Tages recht fröhlich gestimmt scheinen. Ein junges Mädchen in rotem T-Shirt und knielanger blauer Sommerhose, ausgestattet mit Sonnenbrille und Strohhut sitzt auf seinem blauen Koffer direkt neben drei Sitzen, die sämtlich frei sind. Auf deren anderer Seite steht eine junge Familie mit zwei Kindern. Die Eltern tragen beide lange blaue Hosen und schulterfreie Tops, die Kinder, ein Mädchen und ein Junge, stehen brav vor ihren Eltern und sind ebenfalls recht sommerlich angezogen. Etwas abseits wartet noch ein junger Mann mit Vollbart, der einen Rucksack über die Schulter geworfen hat und einen Koffer in der Hand trägt. Auch er ist lediglich mit knielangen Hosen bekleidet. Daß diese Gesellschaft Wartender bei diesem kühlen Wetter nicht friert und auch die freien Sitze beharrlich meidet, hat seinen Grund. Denn genau wie die Fenster des Häuschens sind alle diese Personen lediglich auf dessen Wand aufgemalt. Eine hübsche und durchaus passende Gestaltung für eine Bushaltestelle.

Die Bushaltestelle "Hafenstraße" in Prerow
Gemeinschaft im Wartestand – Das Wartehäuschen der Bushaltestelle an der Prerower Hafenstraße.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

In Berlin versucht man dergleichen auch immer wieder einmal, doch leider erweist sich ein solches Unterfangen stets als verlorene Liebesmüh, die Perlen vor die Säue streut, denn innerhalb kürzester Zeit sind tumbe Graffiti-Schmierfinken zur Stelle, um die mit viel Liebe gestalteten Wandbilder mutwillig zu beschmieren und so zu zerstören. Und das ist nicht nur in Berlin so. Auch andere der größeren deutschen Städte haben mit diesem Problem zu kämpfen. Es ist mir unbegreiflich, warum es nicht möglich ist, das in den Griff zu bekommen. Andere Städte dieser Welt schaffen das doch schließlich auch. Weder in Singapur noch in Auckland, Sydney, Melbourne, Adelaide oder auch Vancouver und Quebec habe ich derartiges in dem Ausmaß zu Gesicht bekommen, wie es in den Städten unserer heimischen Gefilde gang und gäbe zu sein scheint. Wenn es sich dabei wenigstens um Bilder mit zumindest etwas gestalterischem Anspruch handeln würde, ließe sich noch trefflich darüber streiten, ob das nun Ausdruck einer Art Subkultur oder einfach nur Geschmiere und Sachbeschädigung fremden Eigentums ist. Doch schaut man sich an, was da beispielsweise in Berlin an Hauswänden, Brückenpfeilern, Mauern, auf Fahrzeugen des öffentlichen Nahverkehrs und an sonstigen Flächen aufgesprüht wird, handelt es sich meist um irgendwelches unentzifferbares Gekrakel, mit dem seine Verursacher vermutlich lediglich eine Marke setzen wollen, die ihr Revier kennzeichnen oder auch nur ein profanes „Ich bin hier gewesen“ mitteilen soll. Am Ende ist es auch wieder nur eine neue Form des heute so allgegenwärtigen Hangs zur Selbstdarstellung. Solche Graffitis offenbaren lediglich die Geist- und Ideenlosigkeit ihrer Urheber. Vermutlich von ihnen ungewollt, doch dafür um so entlarvender. Besonders dreist und unverschämt wird es natürlich, wenn sie dabei die ästhetisch schönen und wertvollen Werke wirklicher Könner auf diesem Gebiet zerstören. Der Stadt und ihren Verantwortlichen scheint es egal zu sein. Ihnen fehlen ganz offenbar nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch der Wille, dies wirksam zu unterbinden. Doch wahrscheinlich ist dies nicht nur ein administratives, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Man kann wohl mit einigem Fug und Recht davon sprechen, daß eine Gesellschaft, die Derartiges widerspruchslos geschehen läßt, sich selbst längst aufgegeben hat – eine Feststellung, die ich einmal irgendwo gelesen habe, wobei mir leider entfallen ist, wo das gewesen ist und von wem sie stammt. Trotzdem erscheint sie mir wahr.

Auf meinem kleinen Streifzug durch die Umgebung der Bushaltestelle bin ich mittlerweile an der Straßenkreuzung angekommen, an der Hafen- und Strandstraße einander begegnen. Als ich ein paar Tage zuvor auf meinem Rundgang durch Prerow hier vorübergekommen war, hatte ich mich nicht allzu lange aufgehalten, denn viel gibt es wirklich nicht zu sehen. Der große Parkplatz, der nur eine zerfahrene Wiese ist, gegenüber die Darss-Passage mit dem Supermarkt und die Straßenkreuzung, an der sich ein kleiner Imbißstand befindet, der sich De lütt Eck nennt und als Prerows Snackbar bezeichnet. Viel mehr ist da nicht. Und doch, nun, da ich hier gewissermaßen die Zeit totschlagend herumlungere, bemerke ich zu meinen Füßen am Straßenrand, zwischen Fahrbahn und Gehsteig, eine Reihe von Blumenrabatten, die ganz offensichtlich liebevoll gepflegt werden und den Frühling in den Ort einladen. Und der hat das Anerbieten dankend angenommen und ist mit einer Reihe von Narzissen als Frühlingsboten in Prerow eingezogen, die mit ihren üppigen gelben Blüten dem heutigen Grautag einen willkommenen Farbtupfer bescheren.

Narzisse in Prerow
Bote des nahenden Frühlings – Narzisse am Prerower Straßenrand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Und als ich gerade noch sinnend auf die hübschen Blumen herunterschaue, entdecke ich ein Stück voraus in Richtung Ortsausgang den Bus. Die Tatsache, daß ich mich ein Stück von der Bushaltestelle entfernt befinde, muß mich allerdings nicht in Hektik versetzen, denn mittlerweile bin ich nach mehreren bereits absolvierten Busfahrten gut darüber informiert, wie sich die Sache mit den Fahrten des öffentlichen Personennahverkehrs in Prerow verhält. Zunächst wird der Bus die Haltestelle an der Hafenstraße ignorieren und direkt ins Zentrum fahren. Nachdem er alle dort wartenden Fahrgäste aufgenommen hat, wird er wenden und schließlich hierher zurückkommen, einen kleinen Abstecher zur Haltestelle an der Hafenstraße einlegen und mir so die Möglichkeit geben, ebenfalls zuzusteigen und die Fahrt nach Barth anzutreten. Bis dahin bin ich ganz gemütlich und in Ruhe zu der Haltestelle zurückgelaufen. Und genauso geschieht es dann auch.

Die Fahrt ist mir bereits hinlänglich bekannt. Wieder einmal passiere ich den Prerower Hafen, den Alten Bahnhof, die Hohe Düne, die Engstelle zwischen Ostsee und Prerower Strom und die Haltestelle Prerow Hertesburg, an der es auch heute keinen Halt gibt. Dann bin ich auch schon wieder in Zingst. Von hier aus geht die Fahrt weiter zur Meiningenbrücke, die wir überqueren, um über Bresewitz und Pruchten schließlich nach Barth zu gelangen. Nun, da ich nach meiner zwischenzeitlichen Beschäftigung mit der Darßbahn und ihrer früheren Route weiß, worauf ich zu achten habe, gelingt es mir, ihre einstige Trasse während der Fahrt nahezu die gesamte Wegstrecke über in der Landschaft auszumachen, folgt die Straße in ihrem Verlauf doch im wesentlichen dem der einstigen Darßbahn. Ab Bresewitz ist das sogar bedeutend leichter, da hier zu großen Teilen noch die alten Gleise liegen. Von Barth bis Bresewitz war die Bahn noch einige Jahre länger in Betrieb gewesen, bis dieser 1947 auch hier eingestellt wurde und man die Gleise entfernte. Allerdings hatte, wie ich bereits weiß, die Nationale Volksarmee der DDR genau zwanzig Jahre später diesen Abschnitt wiederaufgebaut, um ihn für Truppen- und Materialtransporte zu nutzen. Dafür errichtete sie nahe Bresewitz eine Laderampe, über die ihr Übungsplatz in den Sundischen Wiesen und ihr Stützpunkt in Zingst versorgt werden konnten. Bis zur sogenannten Wende im Jahre 1989 blieb die Strecke in Betrieb und ist daher heute noch samt Gleisen vorhanden. Als mein Bus Bresewitz im Süden des Ortes verläßt, kann ich auf der rechten Seite den einstigen Darßbahn-Haltepunkt des Ortes erkennen, an dem es zwar kein Bahnhofsgebäude gibt, wohl aber drei alte Güterwaggons, die dort noch herumstehen und langsam vor sich hinrotten. Und auch das alte Bahnhofsschild und ein Formsignal sind noch vorhanden.

Rund fünfundvierzig Minuten dauert die Fahrt. Als wir die Barthe, einen in den Barther Bodden mündenden, knapp fünfunddreißig Kilometer langen Fluß, überqueren und kurz darauf die ersten Häuser Barths erreicht haben, beginne ich zu überlegen, wo genau ich aussteigen will. Ich beschließe, nicht bis zum Bahnhof mitzufahren, sondern möglichst nah am Zentrum der kleinen Stadt auszusteigen. Gespannt warte ich darauf, irgendwo voraus das alte Stadttor zu entdecken, das heute morgen bereits aus meinen Erinnerungen aufgetaucht war. Werden wir hindurchfahren? Oder drumherum?

Kurz darauf habe ich die Antwort. Gerade als ich durch das Frontfenster des Busses weit voraus ein hohes turmartiges Gebäude mit einer Toröffnung am Boden ausmachen kann, schwenkt der Bus nach links, verläßt die darauf zuführende Straße und umfährt das Zentrum der Stadt weiträumig in Richtung Bodden. Wenige Minuten später kommt er an der am Hafen der Stadt gelegenen Haltestelle zum Stehen. Die Türen öffnen sich und ich steige aus.

Just diesen Moment sucht sich der Himmel aus, um den Regen wieder einsetzen zu lassen. Zwar nieselt es nur leicht, doch ich verspüre dennoch nur wenig Lust, draußen herumzulaufen, während unablässig Wasser von oben auf mich herunterfällt. Wollte ich lediglich ein paar Besorgungen machen, wäre das nicht weiter schlimm, doch für einen Stadtbummel eignet sich Regenwetter eher weniger. So beschließe ich, den Hafen später einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen, und mache mich auf den Weg zum nahegelegenen Marktplatz, wo, wie ich weiß, die Sankt-Marien-Kirche zu finden ist. Eine eingehende Besichtigung des Gotteshauses sollte dem Himmel ausreichend Gelegenheit geben, den Regen wieder einzustellen. Stadt und Hafen würde ich danach noch ausgiebig besichtigen können.

Von der am Hafen vorüberführenden Straße, in der der Bus gehalten hatte und die passenderweise den Namen Hafenstraße trägt, biege ich in die Fischerstraße ein. Bereits nach wenigen Metern passiere ich die einstige mittelalterliche Stadtmauer, was allerdings kaum zu bemerken ist, da sie nicht mehr steht. Lediglich die hier die Fischerstraße kreuzende Mauerstraße erinnert mit ihrem Namen an das historische Bauwerk, das die Stadt einst vollständig umgeben hat. Genau hier hat sich auch eines der vier Tore befunden, die damals Zugang zur Stadt gewährten. Im Pflaster der Straße hat man dessen Standort markiert, indem man links und rechts der mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Fahrbahn die diese begrenzenden Mauern des Turms angedeutet hat. Warum man dafür auf der rechten Straßenseite allerdings erhöhte, in die Fahrbahn hineinragende und sie so verengende Bordsteinkanten verwendet hat, während sich die Markierung auf der linken Seite eben in das Straßenpflaster einfügt, erschließt sich mir nicht so ganz. Aber wie heißt es doch: Die Genossen werden sich schon was dabei gedacht haben. Ich muß unwillkürlich schmunzeln, als mir diese Redewendung aus vergangenen DDR-Tagen durch den Kopf geht.

Die meisten Häuser in der Fischerstraße haben drei Stockwerke, deren oberes durch ein Spitzdach nach oben hin abgeschlossen wird. Bis auf wenige wenden sie ihre Giebelseite der Straße zu. Die Fassaden sehen nahezu alle wie aus dem Ei gepellt aus. Hier hat man in den letzten Jahren und Jahrzehnten ganz offensichtlich viel gemacht. Die Häuserfronten sind sauber verputzt, allerdings meist in nur einer Farbe, was sie ein wenig langweilig macht. Einige wenige Häuser durchbrechen dieses Einerlei jedoch. Eines präsentiert stolz seine Ziegelfassade, ein anderes zeigt sich in schlichtem Fachwerk. Und eines ist dabei, das wohl als das schwarze Schaf der Straße bezeichnet werden muß, denn es scheint ihm nicht gelungen zu sein, es zu etwas zu bringen. Der Putz ist fleckig braun und bröckelt hier und da bereits ab, wodurch er die darunter liegenden Ziegel freilegt. Die Fenster im Erdgeschoß hat man mit Brettern und Sperrholzplatten verrammelt, in den oberen Stockwerken ersetzen, wie es scheint, blinde Plastiktafeln die Scheiben der ansonsten leeren Fenster. Und an der Giebelspitze bröckelt bereits die Dachkante nach und nach weg. Hier wohnt ganz offensichtlich niemand mehr.

Als ich das Ende der Fischerstraße erreicht habe, stehe ich an der nordöstlichen Ecke des Marktplatzes. Sein großes Areal wird an allen vier Seiten von ebensolchen Häusern umstanden, wie ich sie bereits in der Fischerstraße angetroffen habe, allerdings mit dem Unterschied, daß den hiesigen ein viertes Stockwerk gestattet wurde. Doch auch hier sehen allesamt so aus, als seien sie nagelneu. Der Markt besitzt eine rechteckige Grundform, wobei die Ost-West-Ausdehnung die größere Länge aufweist. Nord- und Südseite werden jeweils von einer Baumreihe gesäumt, wobei man die Bäume so zurechtgestutzt hat, daß sie nicht nur einheitlich hoch sind, sondern daß ihre Kronen auch an der Unterseite eine gerade Linie bilden. Zwar sind die Äste um diese Jahreszeit noch kahl, doch wird trotzdem sehr deutlich, daß die Baumreihen wie zwei große, auf mehreren Baumstammstelzen ruhende Balken aussehen. Es ist mir ein ewiges Rätsel, warum sich Menschen die Mühe machen, Pflanzen in ihrem Wachstum so zu dressieren, daß sie strenge Formen und Linien, einheitliche Höhen und strikte Symmetrie einhalten. Das ist in meinen Augen nicht nur gemein, sondern auch ausgesprochen langweilig anzusehen. Mehr Glück hatte da der Baum, der auf der Ostseite des Marktes allein stehen darf. Ihm ist es gestattet, so zu wachsen, wie er will. Der Verzicht auf jegliche Symmetrie, jede Beschränkung in Breite und Höhe und die Wahrung irgendeiner vorgegebenen Form läßt ihn trotz seiner momentanen Laublosigkeit ungleich viel interessanter aussehen als seine bedauernswerten in Reih und Glied gezwungenen Artgenossen an den Seiten des Platzes.

Aufgrund des regnerischen Wetters wirkt der Platz heute etwas trist. Weil er, sieht man einmal von dem einzelnen Baum, dem achteckigen Brunnen mit den drei auf einer Ziegelsäule aufragenden Fischen in der Mitte und ein paar vereinzelt parkenden Autos ab, weitgehend leer ist, dominiert sein rotes Ziegelpflaster das Erscheinungsbild des Platzes. Es glänzt in der Nässe, die der Regen ausgiebig darauf verteilt. Kaum eine Menschenseele ist zu sehen. Wie es scheint, haben es die meisten Bewohner der Stadt vorgezogen, sich im Inneren der Häuser aufzuhalten, wo es warm und trocken ist. Nur wer unbedingt muß, ist jetzt draußen unterwegs. Und ich.

Über den Dächern der Häuser an der Westseite des Marktes, meinem Standort genau gegenüber, kann ich das Dach und den Turm der Sankt-Marien-Kirche aufragen sehen, die sich dahinter befindet. Und weil ich angesichts des Regens keine Veranlassung sehe, mich länger als unbedingt nötig draußen aufzuhalten, lenke ich meine Schritte zielstrebig dorthin. An der Nordwestecke des Marktes angekommen, gehe ich an den Häusern vorbei in die Papenstraße hinein und bin nach wenigen weiteren Schritten an der nördlichen Längsseite der Kirche angekommen.

Eine kleine Grünanlage trennt die Kirche von der ebenfalls mit Kopfsteinen ausgelegten Fahrbahn der Straße. Direkt an der Wand des Gotteshauses führt ein Weg entlang, den ich einschlage. Links neben mir ragen die Backsteinmauern des Kirchengebäudes in die Höhe, die in regelmäßigen Abständen von riesigen, dreigeteilten und nach oben hin in einem spitzen Bogen auslaufenden Kirchenfenstern unterbrochen werden – unmißverständliche Hinweise auf den Baustil der norddeutschen Backsteingotik, der dem Bau zugrundeliegt.

Wann der Grundstein für die Sankt-Marien-Kirche, die das bedeutendste Gotteshaus Barths ist, gelegt wurde, weiß man nicht genau. Vermutet wird, daß es um das Jahr 1250 herum geschah. Aus dieser Zeit stammt der Chor der Kirche, an dem ich als erstes vorübergekommen bin, denn er ist dem Marktplatz zugewandt. Den Namen Sankt-Marien-Kirche trug das in Bau befindliche Gotteshaus damals noch nicht. Dessen erste urkundliche Erwähnung findet sich erst 1340. Gebaut hat man gute zweihundert Jahre. Mit der Vollendung des Turms waren die Bauarbeiten im 15. Jahrhundert schließlich abgeschlossen. Zu dieser Zeit war die Kirche natürlich noch katholisch, schlug doch Martin Luther seine 95 Thesen erst im Jahre 1517 an die Tür der Wittenberger Schloßkirche, womit die Reformation offiziell begann. Und da die Bürger der Stadt damals recht wohlhabend waren und die katholische Kirche gegen Prunk nichts einzuwenden hatte, war die Innenausstattung des Gotteshauses zu jener Zeit noch recht prachtvoll. Das änderte sich jedoch, als die Reformation schließlich auch nach Vorpommern kam und Fuß zu fassen begann. Offiziell eingeführt wurde sie hier um 1535. Das hatte eine erste und gleichzeitig radikale Umgestaltung des Kircheninneren zur Folge. Entsprechend den neuen Ansichten hatte die Ausstattung einer Kirche schlicht zu sein. So entfernte man die prächtige Innenausstattung, die die Bürger der damals reichen Hafenstadt über die Jahre  der Kirche hatten angedeihen lassen, und ersetzte sie durch eine bedeutend einfachere Ausgestaltung.

Als sich Anfang des 19. Jahrhunderts die Aufklärung auch in den deutschen Landen durchzusetzen begann, erfuhr das Gotteshaus eine weitere Umgestaltung. 1820 wurde sie im Stil der Aufklärung renoviert und erhielt eine neue Orgel, die der Berliner Orgelbauer Johann Simon Buchholz gemeinsam mit seinem Sohn Carl August Buchholz schuf. Fast vierzig Jahre später kam es dann zu einer erneuten gravierenden Veränderung. Seit dem Jahre 1815 gehörte Pommern zum Königreich Preußen, dessen König Friedrich Wilhelm IV. der Provinz immer wieder einmal einen Besuch abstattete. Als er bei einer dieser Reisen auch einmal nach Barth kam und die Sankt-Marien-Kirche aufsuchte, mißfielen ihm deren in schlichtem Weiß gehaltene Innenbemalung und die nüchterne Ausstattung offenbar derart, daß er im Jahre 1857 eine umfassende Neugestaltung des Gotteshauses veranlaßte. Den Auftrag dazu vergab er an keinen Geringeren als den Architekten Friedrich August Stüler, einen Schüler Karl Friedrich Schinkels. Berliner sollten ihn als den Schöpfer des Neuen Museums, der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoje, der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel sowie der Kuppel des Berliner Stadtschlosses kennen. Passend zum gotischen Baustil des Kirchengebäudes verhalf Stüler dessen Innenraum zu seinem heutigen Erscheinungsbild, das er im Stile der Neugotik entwarf. Dieses selbst in Augenschein zu nehmen, bin ich mehr als gespannt.

Mittlerweile habe ich eine genau in der Mitte der Nordseite des Kirchenschiffes gelegene zweiflügelige Eingangspforte erreicht, deren Tür sich bei einem Druck auf die Klinke als offen erweist. Somit steht einem Besuch des Inneren der Sankt-Marien-Kirche nichts mehr im Wege und ich trete ein[1]Leider kann ich aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Gleich neben der Eingangstür stoße ich auf ein kleines Hinweisschild, das mir in strengem Ton das Folgende … [Weiterlesen].

Hatte ich erwartet, in einen von Dämmerlicht erfüllten Kirchenraum zu gelangen, so bin ich einigermaßen überrascht, als ich mich stattdessen in einem Kirchenschiff wiederfinde, das zwar von Licht nicht gerade überflutet wird, doch einen ausgesprochen hellen und freundlichen Eindruck macht. Verantwortlich dafür sind nicht nur die hohen, dreiteiligen und nach oben spitz zulaufenden Bogenfenster in den beiden Seitenschiffen, sondern auch die farbenprächtige Gestaltung des Raumes. Die Wände und die mächtigen, die drei Schiffe voneinander trennenden und das Gewölbe der Decke tragenden Pfeiler sind in einem hellen, sandsteinfarbenen Ton gehalten. Die einander kreuzenden Rippen dieses Gewölbes sind ebenso wie die spitz zulaufenden Bögen zwischen den Pfeilern rot und blau bemalt und teilweise mit Ornamenten verziert.

Auf dem Boden des Hauptschiffes stehen die Kirchenbänke, die zwischen den Pfeilern bis in die Seitenschiffe hineinragen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einfache, hintereinander aufgereihte lange Bänke, wie man sie aus vielen Kirchen kennt. Zwar sind die hiesigen, in hellem Grau gehaltenen Sitzgelegenheiten ebenfalls aus Holz und sehen mit ihren senkrechten Lehnen, die in strengen rechten Winkeln zur Sitzfläche stehen, auch genauso unbequem aus wie anderswo, doch hat man hier jeweils mehrere dieser Bänke zu Blöcken zusammengefügt, eingefaßt von hölzernen Wänden, die die gleiche Höhe wie die Banklehnen aufweisen und in denen Türen den Zugang zu den einzelnen Bänken gewähren. Es handelt sich um ein sogenanntes Kastengestühl.

Über dem Mittelgang, der zwischen den Kirchenbänken durch das gesamte Hauptschiff verläuft, hängen drei große Kronleuchter aus einem Metall, das ich für Messing halte. Der mittlere, heißt es, sei eine Stiftung Kaspar Kümmelbergs gewesen, der von 1577 bis 1655 lebte und in Barth Bürgermeister war. Die anderen beiden Leuchter hat der Stralsunder Gelbgießer Dominicus Slodt in den Jahren 1589 und 1590 geschaffen. Das Material dafür gewann man aus dem Deckel des Tauffasses, der dafür eingeschmolzen wurde.

Dieses Tauffaß ist ebenfalls noch in der Kirche vorhanden. Ich entdecke es direkt vor der Kanzel, die sich an der nördlichen Längsseite des Hauptschiffes am vom östlichen Ende aus zweiten Pfeiler befindet. Taufbecken habe ich in Kirchen schon viele gesehen, doch ein Tauffaß wie dieses noch nie. Auch als Tauffünte bezeichnet, gehört es zu den ältesten Stücken des Kircheninventars. Vollständig aus sogenanntem Rotmessing beziehungsweise Bronze bestehend, wurde es in der Zeit nach 1360 geschaffen. Daß mir ein so altes Taufbecken aus Metall ungewöhnlich erscheint, kommt nicht von ungefähr. Der ansonsten gebräuchliche Begriff Taufstein hat schließlich durchaus seinen Grund. Und tatsächlich ist das hiesige Exemplar die einzige erhaltene Bronzetaufe in ganz Vorpommern. Im Grundriß achteckig, zeigt das Faß, dessen Höhe ich auf etwa einen Meter und zwanzig Zentimeter schätze, an seinen acht Seiten jeweils zwei übereinanderliegende Reliefbilder. In jedem von ihnen stehen immer zwei Personen, die dem Kreis der Apostel, der christlichen Heiligen und der Figuren biblischer Geschichten entstammen. Am oberen Rand ragt an jeder der acht Kanten ein kleiner Kopf hervor. Menschen und Tiere sind dabei bunt gemischt. Unten ruht das Faß auf einem großen Fuß, dessen Standfläche den achteckigen Grundriß wiederholt. An vier der acht Seiten stehen darauf Figuren, die so gestaltet sind, daß sie das Faß auf ihren Schultern zu tragen scheinen.

An dem Pfeiler, vor dem das Tauffaß steht, windet sich eine steinerne Treppe zum Korb der Kanzel hinauf. Dieser zeigt an seinen Außenseiten in Feldern mit gotischen Formen als Relief gestaltetes steinernes Blattwerk. Die Felder wurden mit einem tiefblauen Hintergrund versehen, über dem sich die Ranken zu winden scheinen. Während an der unmittelbaren Vorderseite des Kanzelkorbes ein aufgeschlagenes Buch mit den beiden griechischen Buchstaben Alpha und Omega in das Blattwerk eingearbeitet wurde, sind es an den Seiten links und rechts davon Spruchbänder, ein Engel und ein Kelch. Am unteren Rand des Kanzelkorbes, der auf einem mächtigen Sockel ruht, blicken kleine Engelsköpfchen dem Betrachter entgegen. Nach oben hin wird die Kanzel durch eine Abdeckung abgeschlossen, die die Form eines gotischen Turmes besitzt und reich gegliedert ist. Im Gegensatz zum steinernen Kanzelkorb besteht diese Abdeckung aus tiefdunklem Holz.

Ausmalung und ornamentale Gestaltung wurden ebenso wie die Kanzel und die Emporen im Zuge der von Stüler vorgenommenen Umgestaltung entweder erneuert oder gänzlich neu geschaffen. Die Emporen befinden sich an den Seitenwänden der äußeren Kirchenschiffe sowie am westlichen Ende des Hauptschiffs. Während erstere aus Holz bestehen und nur eine Etage besitzen, ist die Westempore aus Stein gemauert und weist zwei Ebenen auf, von denen die obere die Orgel trägt. Das bereits vorhandene gewaltige Instrument hatte Stüler mit einem neuen Prospekt versehen lassen, der seinem Gesamtkonzept entsprechend im Stile der Neugotik geschaffen wurde. So bilden insbesondere Kanzel und Orgel eine gestalterische Einheit.

An einem der Pfeiler, deren Grundriß im übrigen ebenfalls achteckig ist – das scheint ein wiederkehrendes Motiv zu sein -, hat man an fünf seiner Seiten lange Tafeln angebracht, deren Form ebenfalls Elemente der Neugotik aufweist. Die darauf zu lesenden langen Namenslisten weisen sie ebenso wie die am oberen Ende sichtbaren Darstellungen von Kränzen und Eisernem Kreuz als Erinnerungsstätte für im Krieg gefallene Soldaten aus. Die Daten aus den Jahren 1914 bis 1918 zeigen, daß es sich um Soldaten handelt, die ihr Leben im Ersten Weltkrieg verloren und sicherlich alle aus Barth stammten. Insgesamt sind es 286 Namen, die für jedes Jahr nach den Ländern gruppiert sind, aus denen ihre Träger nicht zurückkehrten. Frankreich, Flandern, Rußland, Rumänien, Mazedonien – der Orte sind viele. Und wo man kein Land zuordnen konnte, hat man Gruppen wie „Lazarett“ oder „Auf See“ verwendet. Fast dreihundert Männer, an die der damalige Kriegerverein der Stadt mit diesen Tafeln erinnern wollte. Liest man anderswo, daß der Weltkrieg Millionen tote Soldaten zeitigte, ist das stets eine Größenordnung, die nur schwer Eingang in die eigene Vorstellungskraft findet. Doch die Zahl Dreihundert in Bezug zu einer Kleinstadt wie Barth läßt mit einem Mal deutlich werden, wie groß die Verluste an Menschenleben in diesem Krieg wirklich waren und wie sehr sie die Bevölkerung des Landes betrafen. Männer, die in fremde Lande auszogen, um dort irgendeinen Kampf zu kämpfen, der sie und ihr Leben eigentlich nicht betraf, und aus denen sie niemals zurückkehrten – zu ihren Familien, ihren Frauen und Kindern, ihren Müttern und Vätern, ihren Geschwistern, die von nun an ohne sie weiterleben mußten, betroffen von dem Verlust und dem vielleicht nie ganz zu verwindenden Schmerz darüber. Und dennoch wird die Menschheit nicht klüger. Dennoch werden bis zum heutigen Tage immer wieder Kriege geführt, in denen sich Soldaten gegenüberstehen und gegenseitig töten, die sich nicht einmal kennen und einander vorher nie etwas zuleide getan haben, die jedoch durch Kriegspropaganda so aufgehetzt wurden, daß sie ernsthaft glauben, sie kämpften für irgendeine gerechte Sache oder gegen einen bösartigen Feind und helfen, den Frieden zu sichern, indem sie Gewalt ausüben und töten. Und die Bevölkerung zu Hause wähnt sich derweil an der Heimatfront und übt sich in Haß auf den Gegner, in dem sie das personifizierte Böse zu erkennen glaubt, weil es in den Medien der Mächtigen tagtäglich so steht oder gesagt wird. Und keiner erinnert sich daran, was die älteren Generationen über vergangene Kriege erzählten, wieviel Leid sie brachten, wieviel sie unwiederbringlich zerstörten und welche Lehren man doch einst daraus gezogen zu haben glaubte, als man aus voller Überzeugung „Niemals wieder!“ gelobte. Hassen ist ja so einfach, besonders, wenn man über den vermeintlichen Gegner so gut wie nichts weiß, doch alles glaubt, was einem über ihn gesagt wird. Und so kommen zu den vergessenen Denkmälern vergangener Kriege nach und nach neue hinzu, wenn es denn nach den nächsten Kriegen noch Orte gibt, an denen man sie aufstellen kann, und wenn dann noch jemand da ist, der es tut. Nach dem zweiten der großen Weltkriege war das wohl schon nicht mehr der Fall, denn ein ähnliches Denkmal für die darin zu Tode gekommenen Männer Barths findet sich in der Kirche nicht. Vielleicht gab es einfach nur keinen Kriegerverein mehr, der das hätte tun können. Vielleicht waren es auch einfach zu viele Namen, die man hätte auflisten müssen, als daß sie an einen Pfeiler gepaßt hätten. Und wer weiß – wenn es demnächst erneut zu einem großen Krieg kommt, weil die Deutschen wieder einmal glauben, gegen den Russen in den Kampf ziehen zu müssen, weil die Medien ihnen das gesagt haben, dann wird es in dieser Kirche vielleicht nicht einmal mehr einen Pfeiler geben, an dem man ein weiteres Denkmal für die Gefallenen anbringen könnte…

Ich wende mich von den Tafeln mit den Namenslisten ab und gehe den Mittelgang des Kirchenschiffs entlang in Richtung des Chores, der sich am Ostende des Gotteshauses befindet. Ganz traditionell steht hier der Altar. Handelt es sich dabei zumeist um einen großen, mit einem Tuch verhängten Tisch, auf dem ein Kruzifix und vielleicht ein paar Kerzen stehen, so ist dieser hier etwas ganz Besonderes. Zwar gibt es auch hier einen großen Altartisch, doch ist dieser nicht komplett verhängt. Das große weiße Tuch, das ihn bedeckt, hängt nur an den Schmalseiten wenige Zentimeter herunter, doch insbesondere die Vorderseite läßt es frei. Hier hängt lediglich ein etwa ein Meter breites, hellgraues Leinentuch herab, auf dem ein goldfarbenes Kreuz und darüber eine ebensolche Krone eingestickt sind. Links und rechts davon kann man an den beiden seitlichen Enden des Tisches die beiden steinernen Säulen sehen, die ihn tragen, während die hintere Seite von einer massiven Rückwand abgeschlossen wird. Da diese lediglich unter der Tischplatte zu sehen ist und somit in tiefem Schatten liegt, kann ich leider nicht erkennen, ob sie aus Holz oder Stein besteht. Dafür ist die Kante der Altarplatte um so besser zu erkennen. Sie ist mit dicht aneinandergereihten goldenen Sternen verziert. Auf dem Altar stehen zwei große Kerzen auf schwarzen Leuchtern, zwischen denen man eine Vase aufgestellt hat, in der einige dicht mit weißen Blüten besetzte Zweige stecken. Hinter der Vase ragt ein übermannshohes Kruzifix mit einer marmornen Jesusfigur auf. Das beeindruckendste Accessoire des Altars ist jedoch der hohe Sandsteinbaldachin, der ihn überwölbt. Auf vier in einem Quadrat angeordneten starken Pfeilern ruhend, ist er ebenso wie Kanzelhaube und Orgelprospekt im neugotischen Stil gestaltet und sieht aus wie eine kleine Kirche in der großen. An jedem der vier Pfeiler befindet sich am Ansatz des Baldachin-Daches eine steinerne Statue. Die vier Seiten sind mit großen, spitz zulaufenden Bögen versehen, über denen sich jeweils ein dreieckiger Giebel befindet, auf dessen Spitze eine Engelsfigur steht. Im Inneren des Baldachins ist das Dach als Gewölbe gestaltet, dessen in der Mitte befindlicher Schlußstein die Figur einer weißen Taube trägt. Die Felder des Gewölbes sind mit tiefem Blau ausgemalt, auf dem sich eine Vielzahl goldfarbener Sterne befindet, was den schönen Eindruck erweckt, der Tisch des Altars befände sich unter einem prächtigen Sternenhimmel.

Einen solchen sogenannten Ziborium-Altar hatte Stüler ein paar Jahre zuvor bereits in der alten Berliner Garnisonkirche gestaltet[2]Ich habe darüber ausführlich in meiner Serie zur Geschichte der Berliner Garnisonkirche berichtet, die auf meiner Website Anderes.Berlin zu finden ist. Die Beschreibung des dortigen von Stüler … [Weiterlesen]. Dort war es ihm allerdings nicht möglich gewesen, ihn freistehend in der Mitte des Raumes zu plazieren, wie er das hier getan hatte, so daß der Altar gewissermaßen das Zentrum des Chorraumes bildet. In der Garnisonkirche hatte er ihn stattdessen mit der Rückseite an eine Wand anschließen müssen, was ihm andererseits jedoch die Möglichkeit geboten hatte, den Altar mit einem großen Altarbild über dem Tisch zu versehen. Heute wäre es sicher interessant, diese beiden Werke Stülers miteinander zu vergleichen, doch leider ist die Berliner Garnisonkirche im Zweiten Weltkrieg untergegangen – ein Schicksal, das ihr Ziborium-Altar teilte, auch wenn er sich zu dieser Zeit bereits nicht mehr im Kirchenraum befunden hatte, da er bei einem Umbau im Jahre 1899 von dort entfernt worden war.

Die Wände des Chorraums sind mit Scheinemporen versehen. Im unteren Bereich reihen sich als Spitzbögen ausgeführte Felder aneinander, die von als runde Säulen gestalteten Pilastern voneinander getrennt werden. Darüber ist eine Balustrade zu sehen, die den Anschein erweckt, als befände sich darüber eine Empore. Tatsächlich setzen sich jedoch, sieht man einmal vom ersten Drittel des Chorraumes ab, wo das tatsächlich der Fall ist, die Wände unmittelbar fort. Sie zeigen lebensgroße Darstellungen der zwölf Apostel, die der Maler Karl Gottfried Pfannschmidt, der in hiesigen Gefilden auch als Barths Michelangelo bezeichnet wird, im Rahmen der von Stüler konzipierten und geleiteten Neugestaltung der Kirche geschaffen hat. Die Freskenmalereien sind von beeindruckender Natürlichkeit und wirken regelrecht lebensecht. Die Apostel sind dabei jeweils paarweise angeordnet und scheinen in von gotischen Baldachinen überdachten Nischen zu stehen, die jedoch ebenfalls aufgemalt sind. Jeder von ihnen ist an charakteristischen Gegenständen zu erkennen, mit denen er in der biblischen Geschichte verbunden ist und die er in der hiesigen Darstellung bei sich trägt. Jacobus der Ältere beispielsweise trägt die Jakobsmuschel sowie Pilgerhut und -stab, während Petrus an dem Schlüssel zu erkennen ist. Paulus hält das Schwert und Johannes der Evangelist den Kelch mit der Schlange. Bei einigen von ihnen bedarf es allerdings der Kenntnis ihrer Attribute nicht, denn ihre Namen sind in die steinernen Sockel zu ihren Füßen eingemeißelt.

Die östliche Rückwand des Chores wird in der Mitte von einem riesigen Fenster eingenommen. Es ist wohl das einzige Buntglasfenster der Kirche und vorwiegend mit roten und blauen Ornamenten gestaltet. Nur in seiner Mitte ist eine große Mandorla[3]Eine Mandorla ist eine Glorie oder Aura beziehungsweise Aureole, die eine ganze Figur umgibt. zu sehen, in deren Innerem sich das Bildnis Der auferstandene Christus befindet. Es wurde im Jahre 1889 nach Entwürfen von Professor Andreas Müller geschaffen.

Als ich den Chorraum wieder verlassen will, komme ich an einem kleinen Ständer vorüber, der ein einfaches Textblatt trägt. Es weist mich auf zwei weitere von Karl Gottfried Pfannschmidt geschaffene Bildnisse hin, die sich im sogenannten Gurtbogen des Chores befinden. Der Gurtbogen ist der große steinerne Bogen, der gewissermaßen den Eingang in den Chor bildet und diesen vom Kirchenschiff abtrennt. Da ich meinen Blick beim Betreten des Chores auf den in dessen Zentrum befindlichen Altar gerichtet hatte, waren mir die beiden Gemälde völlig entgangen, obwohl sie sich doch in Augenhöhe und damit bedeutend tiefer als die Apostelfresken befanden. Aus dem Text erfahre ich, daß die Nordseite des Bogens Die Menschwerdung Christi zeigt, während auf der Südseite Die Auferstehung Christi zu sehen ist. Folgerichtig ist auf ersterem Gemälde die von den Hirten umgebene Maria zu sehen, die den neugeborenen Jesus auf ihrem Schoß hält, während das letztere den auferstandenen Heiland zeigt. Die Wahl der Themen für die beiden Gemälde, so heißt es in dem Text, geht auf Pfannschmidt selbst zurück, der sie vorschlug, nachdem Stüler im Anschluß an die Besichtigung der gerade fertiggestellten Apostelfresken angeregt hatte, daß man doch auch den unteren Teil des Gurtbogens noch mit weiteren Malereien Pfannschmidts versehen solle, um zu ermöglichen, daß die großartige Malkunst des Künstlers auch aus der Nähe gesehen werden könne. Und tatsächlich, so beeindruckend und schön die Darstellungen der Apostel im Chor der Sankt-Marien-Kirche auch sind, erst die Betrachtung dieser beiden Gemälde, die ich gewissermaßen direkt vor Augen nehmen kann, läßt mich die großartige Malkunst des Barther Michelangelo so richtig würdigen. Derart lebensechte Darstellungen habe ich in einer Kirche auf den dort üblichen Bildwerken selten zu sehen bekommen. Meist scheinen mir die Malereien religiös stark überhöht, die Figuren entrückt und weit jenseits gewöhnlicher Menschen zu sein. Ein Eindruck, der wahrscheinlich durchaus gewollt ist. Hier jedoch kann ich nicht umhin zu meinen, ganz gewöhnliche Menschen – im besten Sinne – vor mir zu sehen, wie man sie in jenen Zeiten allerorten hätte treffen können. Und doch strahlen die Gemälde gleichzeitig etwas Erhabenes aus, jedoch auf eine Weise, daß man sich als Betrachter nicht klein und weit davon entfernt fühlt.

Über ihren Schöpfer, den Maler Karl Gottfried Pfannschmidt, erfahre ich später noch, daß er, der ursprünglich aus Mühlhausen in Thüringen stammte, sein Leben in meiner Heimatstadt Berlin beendet hat und auf dem Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof bestattet wurde, wo sein Grab seit 1984 ein Ehrengrab der Stadt Berlin ist. Zu seinen Lebzeiten hatte er gemeinsam mit Peter von Cornelius an der Ausschmückung der Vorhalle des Alten Museums gearbeitet und mit Wilhelm von Kaulbach die Ausmalung des Treppenhauses des Neuen Museums vorgenommen. Manchmal muß man erst ein Stück in die Ferne reisen, um etwas über die eigene Heimat zu erfahren.

Ich bewundere die Bildnisse, den Altarraum und die gesamte Kirche noch eine Weile, doch schließlich habe ich alles eingehend in Augenschein genommen, so daß es Zeit ist, das Gotteshaus wieder zu verlassen. Langsam begebe ich mich zum Ausgang, wo ich durch ein Hinweisschild noch auf die Bibliothek der Kirche aufmerksam werde, die sich in der nördlichen Seitenhalle des Turmes befindet. Sie wurde bereits im Jahr 1398 erstmals erwähnt und umfaßt etwa viertausend vorwiegend kirchengeschichtliche Werke – Handschriften, Bücher und Drucke. Darunter sind nicht nur die umfangreiche Sammlung des Barther Reformators Johannes Block, sondern auch die Erstausgaben sämtlicher Schriften Martin Luthers sowie einige Schriften Philipp Melanchthons. Zwei Weltkriege hatten ihr glücklicherweise nichts anhaben können, so daß sie heute weitgehend vollständig erhalten ist. Leider ist sie nicht öffentlich zugänglich, so daß ich sie nicht selbst in Augenschein nehmen kann.

Als ich schließlich durch die seitliche Kirchentür, durch die ich hereingekommen war, wieder ins Freie trete, muß ich feststellen, daß der Wettergott die Zeit weidlich genutzt hat, um den Regen noch zu verstärken. Nun nieselt es nicht mehr nur, sondern pladdert regelrecht. Zwar kann ich auf dem Straßenbelag noch keine Blasen sich  bilden sehen, doch kann das auch daran liegen, daß dieser hier konsequent aus Kopfsteinpflaster besteht, von dem ich nicht weiß, ob Regen darauf üblicherweise Blasen bildet.

Nun, das ist weniger schön. Doch will ich mich davon nicht abschrecken lassen. Das wäre ja noch schöner, denke ich. Wie heißt es doch so treffend? Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unangepaßte Kleidung. Genau! Das bißchen Regen wird mich nicht davon abhalten, mir die Stadt anzusehen.

Mutig laufe ich los. Zunächst geht es zur Westseite der Kirche, denn in dieser Richtung muß, wie ich weiß, das alte Stadttor liegen. Schließlich war mein Bus vorhin von Westen aus in die Stadt hineingefahren. Dort angekommen, finde ich mich vor einem großen Eingangsportal wieder, dessen Spitzbogen von einer dreifach abgestuften Ziegeleinfassung gebildet wird und das damit dem Seitenportal, durch das ich die Kirche zuvor betreten hatte, recht ähnlich ist. Dort waren es allerdings vier Abstufungen gewesen. Die große, zweiflügelige Holztür ist fest verschlossen. Hier kommt niemand hinein oder hinaus. Glücklicherweise hatte ich den an der Nordseite gelegenen offenen Eingang zur Kirche bereits vorher gefunden.

Das westliche Eingangsportal der Barther Sankt-Marien-Kirche
Tag der geschlossenen Tür – Das Westportal der Sankt-Marien-Kirche in Barth läßt an diesem Tag niemanden in die Kirche.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Das Kopfsteinpflaster der Papenstraße, auf der ich unterwegs bin, glänzt vor Nässe, die vom niederprasselnden Regen beständig erneuert wird. Nur wenige Schritte weiter stoße ich auf eine Kreuzung, an der die Papenstraße auf die Dammstraße trifft. An der Ecke steht ein Wohnhaus, dessen prächtige rote Fassade aus einfachen Ziegeln besteht. Über und unter den Fenstern hat man mittels gelber Steine Verzierungen eingemauert. Und zwischen der oberen Etage und dem Erdgeschoß verläuft ein breiter Streifen aus ebensolchen gelben Ziegeln, als habe man das Gebäude mit einer Art zick-zack-gemusterten Bordüre versehen wollen. Das Haus ist der Länge nach entlang der Papenstraße ausgerichtet und wendet der Dammstraße seine schmale Giebelfront zu. Es wirkt mit seinen Verzierungen sehr hübsch, strahlt aber gleichzeitig mit seiner rohen Ziegelfassade eine gewisse Rustikalität aus. Obwohl seine sich in der Dammstraße anschließenden Nachbarhäuser alle eine ähnliche Form aufweisen, ist es leider nur noch eines von zweien unter ihnen, die über eine Backsteinfassade verfügen. Alle anderen Häuser wurden von ihren Besitzern verputzt. Zum Teil hat man dabei auch die klassische Aufteilung in Fensterachsen aufgegeben und stattdessen großformatige Fensteröffnungen geschaffen, die derart riesige Ausmaße haben, daß an den schmalen Giebelfronten nur je eine pro Etage Platz gefunden hat. Dafür ist jedes der Häuser in einer anderen Farbe gehalten, was dem Anblick eine angenehme Buntheit verleiht. Jedes der Gebäude wird nach oben hin durch einen dreieckigen Giebel abgeschlossen. Während sich einige dabei an die klassische geometrische Form halten, bevorzugen andere abgestufte Treppengiebel.

Die Dammstraße in Barth
Kleinstädtische Häuserfront in der Barther Dammstraße.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Der Blick in die Straße hinein offenbart mir nicht nur, daß ich weit und breit der einzige Mensch zu sein scheine, der bei diesem Wetter in der Stadt unterwegs ist, sondern auch die Richtigkeit meiner Annahme, daß sich in dieser Richtung das alte Stadttor befinden müsse, kann ich es doch weiter hinten aufragen sehen. Es nimmt die ganze Breite der schmalen Straße ein.

Es sind nur wenige Schritte zu gehen, dann habe ich das Tor auch schon erreicht. Steht man unmittelbar davor, wirkt es in seiner Wuchtigkeit unglaublich beeindruckend. Trotzig ragt der fünfunddreißig Meter hohe Torturm in den grauen, wolkenverhangenen Himmel auf. Die Straße führt direkt auf ihn zu. Nur widerwillig scheint er ihr Durchlaß gewähren zu wollen, denn die spitzbogige Toröffnung ist, obwohl schon die kopfsteingepflasterte Fahrbahn nicht eben breit genannt werden kann, noch einmal schmaler als diese. Darüber ragt die glatte, aus Ziegeln festgefügte Turmwand auf, bis sich im dritten Stock endlich zwei kleine Bogenfenster zeigen. Ob sie über Fensterscheiben verfügen oder einfach die schwarzen Löcher sind, als die sie von hier unten erscheinen, kann ich nicht erkennen. Der vierte Stock tut es dem dritten gleich, allerdings scheinen hier die Fenster schmaler zu sein. Die fünfte Etage besitzt anstelle von Fensteröffnungen nur mehr ein kleines Guckloch, das sich in einem Erker befindet, dessen unteres Ende ebenfalls eine Öffnung zu haben scheint. Und in der Tat – diese sogenannten Trauferker, von denen es an jeder Seite des Turmes einen gibt, waren als sogenannte Pechnasen gestaltet, durch die man auf etwaige Angreifer hätte siedendes Pech hinabgießen können. Darüber erhebt sich das Spitzdach des Turmes, das von einer Wetterfahne bekrönt wird und an jeder Ecke ebenfalls einen Erker aufweist. Diese vier weiteren Vorsprünge sind diagonal ausgerichtet, besitzen ihr eigenes kleines Spitzdach sowie Gucklöcher.

Das Dammtor in Barth
Trutzturm ohne Funktion – der Turm des Dammtores ist der letzte verbliebene Rest der einstigen mittelalterlichen Wehranlagen der Stadt Barth.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Natürlich war dieser Turm einst nicht als Einzelstück errichtet worden. Vielmehr war er Bestandteil der mittelalterlichen Stadtmauer, in der er gemeinsam mit seinen vier Kameraden, dem Langen Tor im Süden, dem Wiecktor im Osten und dem Fischertor am Hafen im Norden, einen gesicherten Durchgang in die Stadt bot. Er selbst trägt den Namen Dammtor, der auf den Hochwasserschutzdamm Bezug nimmt, der unmittelbar vor ihm begann. Errichtet wurde das Dammtor um das Jahr 1425 herum. Was man von außen natürlich nicht sehen kann, ist der Umstand, daß es im Inneren des Stadttores keine Treppen gab. Von Etage zu Etage gelangte man nur über Leitern, die man jeweils hochziehen mußte, wollte man die nächste Ebene erreichen.

Heute ist nur noch der trutzige Torturm erhalten. Zu Zeiten der Stadtmauer hatte das Dammtor jedoch noch ein vorgelagertes Vortor besessen, von dem der Weg bis zum eigentlichen Haupttor durch Mauern eingefaßt wurde. Auch einen doppelten Wassergraben hatte es gegeben, der vor der Stadtmauer lag und auf dem Weg vom Vor- zum Haupttor überquert werden mußte. Davon ist heute leider nichts mehr zu sehen. Vielmehr wirkt es so, als hätte jemand einst einen großen Turm errichten wollen, sich aber nicht sonderlich darum geschert, ob er mit ihm jemanden behindern oder stören würde, und ihn so mitten auf der Straße plaziert. Weder Stadtmauer noch Vortor noch Wassergraben sind heute noch vorhanden. Lediglich ein paar Reste schmiedeeiserner Torangeln in den Mauern der Durchfahrt zeugen davon, daß diese nicht immer so offengestanden hatte wie heute, sondern mit schweren Holzbohlentoren verschlossen werden konnte.

Warum das Dammtor nicht wie seine anderen drei Pendants und die Stadtmauer insgesamt im 19. Jahrhundert abgerissen wurde, scheint heute nicht ganz klar zu sein. Die an seinen Mauern angebrachten Texttafeln, die ein wenig aus der Geschichte der Barther Wehranlagen plaudern, wissen dazu leider nichts Genaueres zu berichten. Noch im 20. Jahrhundert hatte man Pläne dafür gemacht, doch letztlich lediglich ein paar angrenzende Häuser abgerissen. So blieb das Dammtor als einziges der einstigen vier Stadttore Barths bis zum heutigen Tag erhalten. Daß hier allerdings der Bus, der mich in die Stadt gebracht hatte, nicht versuchte, durch die Toröffnung zu fahren, leuchtet mir angesichts ihrer Enge unmittelbar ein. Er wäre, hätte er es getan, wohl geradewegs steckengeblieben. Mit unserem kleinen Trabant 601 S war das hingegen damals kein Problem gewesen, und so ist mir die Durchfahrt durch das Tor nach wie vor in Erinnerung. Heute kann ich immerhin hindurchlaufen. Und das tue ich auch. Schon, um wenigstens für ein paar Sekunden einmal nicht im Regen zu stehen.

Da es in der Barthestraße, die die Dammstraße auf der anderen Seite des Torturms fortsetzt, nichts weiter zu sehen gibt, was für mich von Interesse wäre, wende ich mich wieder um und gehe in die Stadt zurück. An der Ecke Dammstraße und Papenstraße würdige ich noch einmal den prachtvollen Anblick der Sankt-Marien-Kirche, von dem ich vorher, als ich in der Gegenrichtung unterwegs gewesen war, keine Notiz genommen hatte.

Die Sankt-Marien-Kirche in Barth
Norddeutsche Backsteinromantik – die Barther Sankt-Marien-Kirche.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich gehe nun auf dieser, der Südseite der Kirche entlang, die ebenfalls durch eine kleine Grünanlage von der Straße getrennt ist. Auch hier gibt es ein in der Mitte der Kirchenwand gelegenes zweiflügeliges Portal, das den anderen beiden stark ähnelt, sich andererseits jedoch von ihnen dadurch unterscheidet, daß auf den Türflügeln zwei große preußische Kreuze zu sehen sind. Auch ist der Spitzbogen hier wieder mit vier Abstufungen versehen. Die Prüfung, ob die Tür offen oder verschlossen ist, spare ich mir diesmal allerdings und gehe weiter an der Grünanlage entlang. An ihrem östlichen Ende stoße ich auf einen großen metallenen Gegenstand, der hier auf der Rasenfläche abgelegt worden ist. Es handelt sich um eine große Glocke, die bei mir mit ihren beeindruckenden Ausmaßen einigen Eindruck schindet.

Eine Grünanlage scheint mir allerdings ein eher ungewöhnlicher Aufbewahrungsort für eine Kirchenglocke – denn um eine solche handelt es sich bei dem guten Stück unzweifelhaft – zu sein. Ganz sicher wird sie hier an diesem Ort keinen Ton mehr produzieren. Doch das muß sie auch nicht, denn sie ist eine der beiden Eisenglocken, mit denen man im Jahre 1925 die zwei kleineren der insgesamt drei Glocken der Kirche ersetzte. Weil Eisen jedoch als Glockenmaterial nicht sonderlich gut geeignet ist, da es nach nicht allzu langer Zeit ermüdet, mußte man die beiden Glocken bereits runde siebzig Jahre später stillegen. Das war 1997. Während die eine von ihnen im Stockwerk unterhalb der Glockenstube in der Kirche verblieb, legte man die andere an dieser Stelle vor der Kirche ab. Die dritte im Bunde, die große Glocke, wurde im Jahre 1911 gegossen, wobei man sich allerdings – wie bereits zweimal zuvor – an der 1585 gegossenen ersten Glocke orientierte. Vielleicht wollte man neben der Rücksicht auf Traditionen auch den mit ihr verbundenen Superlativ nicht verlieren, ist sie doch die zweitgrößte Bronzeglocke Vorpommerns.

Die Sankt-Marien-Kirche in Barth
Was macht eine Glocke auf dem Rasen? – Die ausrangierte Kirchenglocke von Sankt Marien in Barth.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nach wie vor prasselt der Regen ununterbrochen hernieder. Und wie ich mir nun eingestehen muß, ist es ihm mit seiner unverminderten Stärke mittlerweile gelungen, meinen Trotz, den ich ihm zuvor beim Verlassen der Kirche entgegengebracht hatte, Stück für Stück aufzuweichen. Zwar hält ihn meine Regenjacke nach wie vor wirksam von mir ab, doch erweist sich ein Stadtbummel bei Dauerregen dann doch als wenig erbauliche Angelegenheit, zumal inzwischen auch die Kälte beginnt, vom Boden aufzusteigen, meine Schuhe und Strümpfe zu überwinden und meine Beine hinaufzuklettern. So erkenne ich denn zähneknirschend den Sieg des Wetters über meine Pläne und meinen Willen, ihm zu trotzen, an und beschließe schweren Herzens, meinen Ausflug abzubrechen und zurückzufahren.

Ist eine Entscheidung, so ungeliebt sie auch sein mag, einmal gefallen, setzt sie doch neue Energie frei. Und auch das Denken und die eigene Stimmung passen sich unmittelbar daran an, wie ich interessiert an mir selbst beobachten kann. War ich zuvor noch voller Enthusiasmus gewesen, mir alles in der Stadt anzusehen, Neues zu entdecken oder auch auf alte Erinnerungen zu stoßen, so bin ich nun, da ich beschlossen habe, den Regen Regen sein zu lassen und nach Prerow zurückzukehren, nur noch daran interessiert, zu einer Bushaltestelle zu gelangen, wo ich mich in einen Bus setzen und Kälte und Regen für eine Weile entkommen kann. Nun, vielleicht ist es aber auch das Mißempfinden, das mich angesichts fortdauernder Nässe und aufsteigender Kälte befallen hat, das es mir jetzt verleidet, irgendwo noch einmal anzuhalten und eine schöne Hausfassade oder einen anderen interessanten Ort zu bewundern. Nicht gerade mißmutig, doch konsequent verfolge ich mein neues Vorhaben und gehe raschen Schrittes zurück zum Marktplatz und von dort durch die Lange Straße direkt zum Bahnhof. Ich hätte auch zurück zum Hafen gehen können, was vielleicht geringfügig näher gewesen wäre, doch erscheint mir das Warten auf den Bus am Ufer des Boddens, wo der Wind ungehindert wehen und mir den Regen um die Ohren schlagen kann, als die weniger attraktive Alternative.

Von der Langen Straße registriere ich auf meinem Weg eigentlich nur noch, daß sie wohl die Hauptgeschäftsstraße der Stadt ist, denn ich komme an einer Vielzahl von Geschäften aller Art vorüber. Auch daß es hier einige sehenswerte Gebäude gibt, deren eingehendere Betrachtung sich lohnen würde, bemerke ich zwar durchaus wohlwollend, doch weil der Regen seine Intensität nun sogar noch einmal verstärkt hat, weiche ich von meinem gefaßten Entschluß dennoch nicht ab. Ihre Besichtigung wird einem zukünftigen weiteren Besuch in Barth ebenso vorbehalten bleiben müssen wie die des Hafens, den ich eigentlich nach meiner Besichtigung der Kirche noch einmal hatte aufsuchen wollen. Ich setze daher gedanklich einen weiteren Barth-Besuch auf die Liste meiner zukünftigen Vorhaben.

Am Ende der Langen Straße angekommen, befinde ich mich direkt am Bahnhof. Ich setze mich in eines der Wartehäuschen, die sich an dem angeschlossenen großen Parkplatz befinden. Als einige Zeit später der Bus vor mir hält, steige ich ein und fahre den Weg zurück, den ich gekommen bin. Der Regen hört während der gesamten Fahrt nicht auf und prasselt auch auf mich herunter, als ich in Prerow von der Bushaltestelle im Zentrum des Ortes zu meiner Pension gehe. Wie es scheint, umfaßt das Regengebiet mittlerweile nicht nur Barth, sondern die gesamte Region der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst.

Es ist früher Nachmittag, als ich schließlich mit leidlich nasser Regenjacke, doch nicht durchnäßt durch die Tür meines Zimmers trete. Ich werde wohl den Rest des Tages hier verbringen müssen. Nun gut, dann soll es eben so sein.

Ich verfolge einige Zeit das Fernsehprogramm, das mir eindrücklich vermittelt, warum es vor einigen Jahren eine ausgesprochen gute Idee war, den Fernseher aus meiner Wohnung zu verbannen. Was man dort an einem Nachmittag wie diesem geboten bekommt, ist kaum anders zu bezeichnen als mit Volksverblödung.

Da gibt es Quizsendungen, in denen die Fragen entweder so trivial sind, daß man sie auch noch beantworten kann, wenn man sein Gehirn im Tanzbein aufbewahrt, oder so abgehoben, daß selbst ein Hochschulstudium einem keine Chance einräumt, über derartiges Nischenwissen zu verfügen.

Auf einem anderen Kanal läuft eine Sendung, in der sich die Protagonisten redlich mühen, eine Gerichtsverhandlung zu simulieren. Weil das aber so billig wie nur irgend möglich produziert wird, sind die Darbietungen der Darsteller, bei denen es sich ganz offensichtlich um Laienschauspieler handelt, derart schlecht, daß jede Schulaufführung dagegen als hohe Schauspielkunst durchgeht. Von der hanebüchenen Story gar nicht zu reden. Wäre diese wirklich wahr, wie man offenbar den Anschein erwecken möchte, müßte man sich als Zuschauer ernsthaft fragen, ob es bei der Polizei eigentlich noch Ermittler gibt, die ihren Beruf verstehen. Offenbar nicht, denn in jeder dieser simulierten Gerichtsverhandlungen müssen die Anwälte und Richter es übernehmen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, was ihnen natürlich stets durch ihre überragenden Fragen gelingt. Und wo die doch einmal nicht weiterhelfen, tritt garantiert irgendein unglaublicher Zufall auf den Plan, der sich natürlich immer genau zum Zeitpunkt dieser Gerichtsverhandlung ereignet. Der Stuß könnte größer nicht sein und beleidigt die Intelligenz des Zuschauers.

Der Rest des Angebots fällt allerdings auch in diese Kategorie oder, was noch schlimmer ist, in die der regelrechten Menschenverachtung. Wer will, kann dabei zusehen, wie Leute aus den untersten Schichten der Gesellschaft, die dafür wahrscheinlich ein paar dürftige Euro kriegen, vor die Kamera gezerrt und bloßgestellt werden. Hier versuchen schwer Übergewichtige abzunehmen und scheitern dabei, dort probieren notorisch Abgebrannte dies und das, um ihre Schulden zu vermindern, was ihnen jedoch nicht gelingt. Und stets sind scheinbar selbstlose Helfer zur Stelle, die letztlich jedoch nichts anderes tun, als diese Menschen vorzuführen und der allgemeinen Lächerlichkeit preiszugeben.

Und dann sind da noch die ganzen anderen Formate, die als Realitätsfernsehen beziehungsweise Reality TV angepriesen werden und doch nur aus einer Aneinanderreihung genauso gestellter Szenen bestehen, wie es bei den Gerichtsshows bereits der Fall ist. Da kann man als Zuschauer Polizisten auf Streife begleiten oder Anwälten bei ihren Ermittlungen über die Schulter sehen, die sie mit der Hilfe von Privatdetektiven offenbar selbst anstellen müssen, weil die Polizei dafür keine Zeit mehr hat, da sie doch das Fernsehen auf Streife mitnehmen muß.

Das Nachmittagsprogramm des deutschen Fernsehens ist nach meinem Empfinden mittlerweile durch die Bank so dämlich, daß es definitiv besser ist, man schaltet den Fernseher umgehend wieder aus. Und weil es mit dem Programm zu anderen Tageszeiten nicht viel besser aussieht, habe ich den Fernseher bereits vor einigen Jahren komplett aus meinem Leben verbannt.

Nachdem ich mich nun also davon überzeugt habe, daß es in der Zeit seitdem mit dem Fernsehen nicht besser, sondern eher noch schlimmer geworden ist, schalte ich den Kasten, der heute ja keiner mehr ist, sondern genauso flach wie das Programm, das er zeigt, aus. Mir gefällt der Gedanke, daß sich das Empfangsgerät gewissermaßen dem Inhalt angepaßt hat.

Ich greife zu einem guten Buch und verbringe den Rest dieses regnerischen Tages zufrieden und ohne Gram über die widrigen Umstände in dem Zimmer meiner Pension. So ein Nachmittag der Ruhe ist ja eigentlich auch mal ganz schön…

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Referenzen

Referenzen
1 Leider kann ich aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Gleich neben der Eingangstür stoße ich auf ein kleines Hinweisschild, das mir in strengem Ton das Folgende verkündet:
„Ton-, Film-, Foto- und Videoaufnahmen sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Die Veröffentlichung von Aufnahmen, auch im Internet, ohne Genehmigung ist verboten!“
So muß in diesem Falle das Wort genügen, um einen Eindruck des Kircheninneren zu vermitteln.
2 Ich habe darüber ausführlich in meiner Serie zur Geschichte der Berliner Garnisonkirche berichtet, die auf meiner Website Anderes.Berlin zu finden ist. Die Beschreibung des dortigen von Stüler geschaffenen Ziborium-Altars nebst einem Bild findet sich im fünften Teil der Serie, der den Titel Die zweite Garnisonkirche: Neuanfang und Wiederaufstieg trägt.
3 Eine Mandorla ist eine Glorie oder Aura beziehungsweise Aureole, die eine ganze Figur umgibt.

Volle Fahrt voraus und Kurs auf’s Riff!

Dieser Beitrag ist Teil 8 von 9 der Beitragsserie "Gedanken zum Jahreswechsel"

Wieder einmal ist ein Jahr vorüber.

Wieder einmal steht der Jahreswechsel kurz bevor. Fast schon höre ich seine Schritte vor meiner Tür. Gleich wird er anklopfen und, ob ich ihn nun hereinlassen möchte oder nicht, kurz darauf vor mir stehen und mir ein enthusiastisches „Hallo, da bin ich!“ entgegenrufen.

Könnte ich ihn doch auch nur so ausgelassen und unbeschwert begrüßen…

Doch irgendwie will mir das in diesem Jahr nicht gelingen.

Daß ich an diesem Silvesterabend des Jahres 2023 allein an meinem Schreibtisch sitze und diesen Text schreibe, hat allerdings nichts mit dieser eher gedämpften Stimmung zu tun, die mich momentan umfängt. Vielmehr ist mir das mittlerweile eine liebgewordene Tradition geworden, den letzten Abend eines jeden Jahres allein zu verbringen, mich bei einem Glas roten Weins ein wenig zu besinnen und Rückschau zu halten auf die zurückliegenden 365 Tage, fernab von Partytrubel und Knallerei.

Nein, der Dämpfer, den meine Stimmung gerade erfährt, ist eher das Ergebnis der Situation, in der ich mich am Ende dieses Jahres wiederzufinden das Mißvergnügen habe und die mir eben diese Rückschau deutlich vor Augen führt. Da hilft es auch nicht gerade, noch einmal einen Blick in meinen Text zum vorangegangenen Jahreswechsel zu werfen, offenbart mir dieser doch, daß die Entwicklung dieses Jahres keine neue, sondern lediglich die konsequente Fortsetzung jener des Vorjahres ist. Der damals von mir zitierte Pessimist hat offenbar recht behalten. Leider.

Denke ich über das vergangene Jahr nach, fallen mir, was die allgemeine Lage der Welt anbetrifft, eigentlich nur Dinge ein, die mein Fazit von vor einem Jahr, daß jene vollkommen verrückt geworden sei, nur bestätigen.

Noch immer ist Krieg. Im europäischen Osten hat er nicht aufgehört. Im Nahen Osten ist einer dazugekommen. Und weil im Fernen Osten noch viel zu wenig los ist, versucht man offenbar auch dort, einen herbeizuführen. Nur eines macht man nicht: Konflikte friedlich lösen. Denn Frieden bekommt man schließlich nur mit Waffen, oder? Warum sonst liefern wir die andauernd überall hin?

Und damit keiner auf die Idee kommt, das zu hinterfragen, wird bei jedem Konflikt vehement verlangt, daß man sich als Erstes mal auf eine Seite schlägt. Und zwar auf die richtige. Also paßt man am besten genau auf, welche das gerade wieder ist. Und wer es ganz richtig machen will, schwenkt auch noch eine Fahne dazu. Oder hängt sie irgendwo auf, wo sie auch jeder sieht.

Muß ich auch?
Ja!

Na gut, dann tue ich das. Ich bin auf der Seite des Friedens. Das ist auch wieder falsch? Wieso? Ach, die steht gar nicht zur Wahl? Bringt wohl zu wenig Profit und Gewinne ein… Nun, dann mache ich da eben wieder mal nicht mit. Das kenne ich ja schon aus den letzten drei Jahren.

Was war noch? Pleiten gab’s. Jede Menge davon. Benko und Signa, Real, Peek & Cloppenburg, Reno, Hallhuber, Gerry Weber, Klingel… Die Liste ist lang und wird beinahe tagtäglich länger, wie man in den Medien lesen kann. Das Wort „einwecken“ hätten wir fast aus dem deutschen Wortschatz streichen müssen, denn das Unternehmen Weck konnte nur gerade so gerettet werden.

Aber so schlimm ist das ja nicht. Pleite, ach was! Da hören halt mal ein paar Unternehmen auf zu produzieren. Was macht das schon? Da sind die doch nicht gleich insolvent. Machen die halt irgendwann später weiter. Sagte der Wirtschaftsminister. Und der muß es ja wissen, oder?

Komisch nur, daß das mittlerweile im Alltag spürbar wird. In meiner näheren Umgebung schließen mehr und mehr Läden ihre Pforten. Und irgendwie sieht es stets so gar nicht danach aus, als wollten sie ihre Geschäfte irgendwann später wieder aufnehmen. Kurze Zeit darauf sind die Schaufenster leer und die Verkaufsräume komplett ausgeräumt. Und das bleibt dann so. Woran das wohl liegt? Vielleicht ist man ja doch recht schnell insolvent, wenn man nichts mehr produziert und verkauft…

Sind wir froh, daß wenigstens Reparaturen noch stattfinden, wenn mal was kaputtgeht. Das kann dann halt nur ein wenig dauern. Mitte dieses Jahres wurde in meinem Wohnhaus ein Fahrstuhl repariert. Der war nur ein reichliches Jahr kaputt. Auf die Reparatur des zweiten, der sich kurz danach in eine Betriebspause verabschiedet hat, warte ich allerdings noch. Wird wahrscheinlich erst im nächsten Sommer was. Und ich bin schon sehr gespannt, wie lange es dauert, bis die Hauseingangstür repariert wird, die sich nicht mehr öffnen läßt. Wenn ich die Zeit von einem knappen Jahr für die Renovierung der Kellerräume nach dem Brand im Jahr 2022 als Maßstab nehme, wird das wohl noch eine Weile so bleiben. Dafür haben wir jetzt eine Zentrale, die wir Mieter anrufen können, wenn etwas in unseren Wohnungen kaputtgeht. Die organisieren dann die Reparatur. Komisch nur, daß ich denen manchmal, wenn ich anrufe, erstmal erklären muß, wo sich mein Haus überhaupt befindet…

Von Bahn und Post will ich hier gar nicht erst anfangen. Zu letzterer habe ich in diesem Jahr bereits einen längeren Erlebnisbericht verfaßt, ersterer habe ich mittlerweile eine eigene Artikelserie gewidmet, die allein in diesem Jahr um drei neue Beiträge gewachsen ist. Was ich dort zu beschreiben die Ehre hatte, zeigt: da ist mittlerweile Scheitern der Normalzustand.

Auch von der Klimapanik und den Klimaklebern mit ihren Aktionen will ich hier nur schreiben, daß ich sie fragwürdig finde – ein Ausdruck, der zwar nicht annähernd zutreffend beschreibt, was mir wirklich durch den Kopf geht, doch die drastischeren Ausdrücke, die das täten, wären an dieser Stelle nicht druckfähig. Stets, wenn ich etwas über sie lese, frage ich mich, welche Vorstellung diese Leute von der Wirkung ihrer Aktionen eigentlich haben. Wieso glauben sie, ihrem selbsterklärten Ziel, die Gesellschaft bezüglich der Dringlichkeit des Handelns gegen den Klimawandel aufzurütteln, auch nur einen Millimeter näherzukommen, wenn sie die Bürger dieses Landes gegen sich aufbringen und in Wut versetzen. Denn viel mehr haben sie zumindest bei mir nicht erreicht. Wie auch soll ich mich bemüßigt fühlen, sachlich über dieses Thema – für wie sinnvoll man es auch immer halten mag – nachzudenken, wenn ich wütend darüber bin, daß zwei Wahrzeichen meiner Heimatstadt, das Brandenburger Tor und die Weltzeituhr, stark verschmutzt und teilweise schwer beschädigt wurden? Da ist mir die Motivation aber so was von egal!

Ich denke, ich höre an dieser Stelle lieber auf damit, das Jahr 2023 in größeren Kontexten Revue passieren zu lassen. Sollte ich dafür ein Fazit ziehen, würde ich es gar nicht erst versuchen, sondern einfach auf das Lied „Das Narrenschiff“ von Reinhard Mey verweisen, das er im Jahr 1997 veröffentlicht hat. Wer hätte damals wohl gedacht, daß es 2023 eine exakte Zustandsbeschreibung unserer Zeit und unseres Landes abgeben würde.

Schaue ich also auf der Suche nach Erfreulicherem in diesem Jahr 2023 auf eigene Erlebnisse.

Nun, da wäre zunächst eines, das definitiv nicht in diese Kategorie fällt, bin ich doch im April knapp einem Wohnungsbrand entgangen. Eine Steckdose, die nicht einmal benutzt wurde, hatte sich einfach so selbst entzündet. Sie dachte wohl, sie paßt sich mal der allgemeinen Lage an und löst sich in Rauch auf. Glücklicherweise war ich gerade zu Hause, so daß ich den Brand noch rechtzeitig bemerken und selbst löschen konnte. Eine Renovierung war dennoch erforderlich. Ich nutzte die Gelegenheit, gleich die ganze Wohnung wieder auf Vordermann zu bringen – oder besser: bringen zu lassen. Und da ich das nicht selbst tun wollte – das letzte Mal zehn Jahre zuvor saß mir gewissermaßen immer noch in den Knochen -, entschloß ich mich dazu, eine Malerfirma zu beauftragen. Meine Wahl fiel auf „Die Anstreicherinnen“ und ich habe sie nicht bereut, denn sie erledigten den Job in nur drei Tagen schnell und in erstklassiger Qualität! Mag das hier auch ein wenig Werbung sein, so ist es mir egal, denn: Ehre, wem Ehre gebührt!

So brachte mir das Jahr 2023 also eine schön renovierte Wohnung – etwas, das ich gar nicht hoch genug schätzen kann! Und weil das natürlich für mich dennoch nicht ganz ohne Arbeit abging – immerhin mußte für die Malerarbeiten ja Platz geschaffen werden -, gönnte ich mir im Herbst dann noch einen Urlaub. Und dieser war für mich gleich doppelt nötig und wichtig, denn es war der erste richtige Urlaub seit mehr als drei Jahren. Als jemand, der – wie bereits erwähnt – in diesen drei Jahren bei dem großen Treiben nicht mitgemacht hat, war es mir in dieser Zeit nicht möglich gewesen, Urlaubsreisen zu unternehmen. Doch nun, da die leidige Pandemie endlich besiegt war – wenn auch eher bedingt durch die Kriegsereignisse, die nun die Medienkanäle füllten, als daß sich wirklich etwas am Erkältungsgeschehen geändert hätte -, war es soweit. Und zur Feier dieses Anlasses hatte ich mir etwas für mich ganz Besonderes ausgewählt: eine Flußkreuzfahrt!

Etwas Derartiges hatte ich noch nie unternommen. Zwar befürchtete ich, daß ich bei einem solchen Unternehmen den Altersdurchschnitt der Teilnehmer ganz entschieden senken würde – was auch tatsächlich der Fall war -, doch das spielte keine Rolle. Warum auch? Es gibt in jeder Altersgruppe nette Leute – und ich lernte auf der Reise auch solche kennen. Diese startete in Regensburg, führte die Donau ein Stück flußauf, dann durch den Main-Donau-Kanal an Nürnberg vorüber nach Bamberg, von wo es den Main flußabwärts ging. Würzburg, Wertheim und Frankfurt lagen auf dem Weg und waren mir natürlich jeweils einen Ausflug wert. Weiter ging es nach Mainz, wo das Schiff in den Rhein einbog. Von Rüdesheim ging es durch den vielleicht schönsten Abschnitt des Flusses: das Mittlere Rheintal. Von Koblenz an führte die Fahrt die Mosel flußauf, an Cochem vorüber bis nach Trier. Zehn Tage war ich unterwegs, an die ich dann noch eine Woche Trier anhängte. Alles in allem eine wunderschöne Fahrt mit herrlichen Eindrücken, nicht nur von phänomenal schönen Landschaften mit Flußtälern, Weinbergen und Wäldern, sondern auch von teils pittoresken, teils majestätischen mittelalterlichen Städten. Gerade in diesen Zeiten, in denen man um Ängste, Unruhe und Streß kaum noch herumkommt, war diese Reise ein echtes Erlebnis voller Ruhe und Entspannung, weit abseits von den Irrungen und Wirrungen dieser Welt. Es kam gar nicht darauf an, irgendwo hinzukommen, irgendwo zu sein, irgendetwas gesehen haben zu müssen. Vielmehr war es schön, das Gefühl zu haben, einfach nur unterwegs zu sein und sich die Welt anzusehen, die sich auf einmal als gar nicht so verrückt erwies, wie man sie tagtäglich erlebt, sobald man die Zeitung aufschlägt, den Fernseher oder das Radio anschaltet und von überallher hört, welche Katastrophen sich gerade wieder irgendwo ereignet haben. Und so habe ich neben den vielen schönen Eindrücken eben auch dies von meiner Reise mitgenommen: von Zeit zu Zeit ist es nicht nur ganz erholsam, sondern regelrecht lebensnotwendig, sich eine Auszeit zu nehmen – eine Auszeit von den Medien, ob digital oder analog, und eine Auszeit von der Angst und von der Panik, die sie ständig verbreiten. Stattdessen muß man sich den schönen Dingen widmen. Spazieren oder Wandern in der Natur, Treffen mit guten Freunden, mit denen man gute und bereichernde Gespräche führt und gemeinsame Aktivitäten betreibt, der Genuß eines guten Glas Weins, das Lesen eines guten Buches und noch vieles mehr gehören dazu. Man muß sich bewußt machen, daß sie auch noch da sind, sonst gehen sie in all dem Chaos, all den Wirren, all den Ängsten und negativen Dingen, die Tag für Tag auf uns einprasseln, völlig unter. Und das sorgt für eine permanente, unterschwellige Nervosität, für Unruhe, für Streß, für Anspannung. Und das mag alles sein, keinesfalls aber gesund. Mein Tip ist daher, Fernseher und Radio, wenn nicht ganz zu entsorgen, so doch aber wenigstens aus der täglichen Routine zu entfernen und nur noch gelegentlich und dann ganz bewußt zu nutzen, wenn man sich dem gewachsen fühlt und sich darauf einstellt. So können all die negativen Einflüsse, die sie verbreiten, nicht unbewußt auf uns wirken.

Und so mag das Jahr 2024 vielleicht genauso chaotisch werden wie das zurückliegende Jahr, möglicherweise wird es sogar verrückter – es gibt gegenwärtig leider genug Grund zu der Annahme, daß das Ziel unserer Steuerleute das Riff ist – ob aus Unkenntnis, Unvermögen oder Absicht, spielt eigentlich keine große Rolle. Doch wenn wir für uns selbst, den entsprechenden Ausgleich mit den schönen Dingen des Lebens und damit für unser eigenes Wohlbefinden sorgen, wenn wir uns auf die für uns wichtigen Personen besinnen und sie mit unserem Leben verbinden, so daß wir Teil einer guten Gemeinschaft sind, dann sorgen wir auf diese Weise vielleicht für das nötige Rettungsboot und werden auch das überstehen.

In diesem Sinne wünsche ich Euch ein schönes, ein gesundes, streß- und angstfreieres Jahr 2024.

Unterwegs auf dem Zingst

Dieser Beitrag ist Teil 5 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

War ich in den vorausgegangenen Tagen zumindest in Teilen auf den mal mehr, mal weniger ausgetretenen Pfaden meiner Erinnerungen an vergangene Zeiten auf dem Darß unterwegs gewesen, so gedenke ich an diesem fünften Tag meines Urlaubs, mich einmal auf neue Wege zu begeben und mir den sich durchaus einiger Bekanntheit erfreuenden Nachbarort von Prerow anzusehen: Zingst. Wie neu diese Wege allerdings wirklich sind, kann ich dabei eigentlich gar nicht genau sagen, denn ich muß immerhin die Möglichkeit einräumen, daß wir diesem Ort in einem unserer damaligen Urlaube doch einmal einen Besuch abgestattet hatten, dies aber – aus welchen Gründen auch immer – nur keinen Eingang in meine Erinnerungen gefunden hat. Doch wie dem auch sei, im Ergebnis läuft es auf dasselbe hinaus: mein heutiger Ausflug nach Zingst wird für mich eine kleine Reise in unbekannte Gefilde sein.

Der Beschluß ist also gefaßt, nun heißt es, ihn in die Tat umsetzen. Und das gestaltet sich ausgesprochen einfach, selbst für mich, der beständig ohne eigenen fahrbaren Untersatz hier unterwegs ist. Denn wie ich bereits von meiner Ankunft in Prerow weiß, verkehrt auf der Fischland-Darß-Zingst genannten Halbinsel ein Bus, der Barth mit Ribnitz-Damgarten verbindet und dabei so ziemlich alle auf ihr existierenden Orte anfährt. Und so war ich auf meiner Fahrt hierher in der Tat bereits mit dem Bus durch Zingst hindurchgefahren. Daß nun dieser mich auch in der entgegengesetzten Richtung von Prerow aus dorthin würde bringen können, daran habe ich nicht den kleinsten Zweifel – und behalte Recht damit.

Die Fahrt dauert nicht lange. Gerade einmal zwanzig Minuten braucht der Bus von Haltestelle zu Haltestelle – Prerow Mitte bis Zingst Zentrum. Zum Prerower Hafen geht die Fahrt, dann über den Prerower Strom, am Alten Bahnhof und kurz darauf an der Hohen Düne vorüber, und schon haben wir, also der Bus und ich, die schmale Landenge zwischen Strom und Ostsee passiert. Die Haltestelle Prerow Hertesburg wird angekündigt und ist auch schon vorüber. Hier hält der Bus offenbar so gut wie nie. Nun, viel gibt es hier ja auch nicht zu sehen, wie ich seit dem Vortage weiß. Auf der linken Seite begleitet uns seit der Hohen Düne ein Deich, rechts stehen entlang der Straße Bäume, zwischen denen hin und wieder, mit viel Phantasie und auch nur, wenn man von seiner Existenz weiß, der alte Bahndamm der einstigen Darßbahn zu erahnen ist. Als die Straße schließlich einen weiten Bogen nach rechts vollzieht, um den Ort Zingst zu umgehen, nimmt der Bus einen Abzweig nach links und folgt weiter dem Deich. Kurze Zeit später passieren wir die ersten Häuser und die Straße, auf der wir unterwegs sind, trägt nun einen Namen, mit dem sie an die ehemalige – und vielleicht auch wieder zukünftige – Eisenbahnlinie erinnert: Am Bahndamm. Auch sie führt alsbald vom Deich weg und in das Innere des Ortes hinein. Der Bus fährt am alten Bahnhof von Zingst vorüber, was mir allerdings völlig entgeht, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, daß er noch existiert. Tatsächlich ist das aber der Fall, und das Bahnhofsgebäude beherbergt heute das Wirtshaus Zingst. Von hier aus fahren wir weiter auf der Bahnhofstraße – noch eine aus früheren Zeiten verbliebene Reverenz an die Darßbahn -, die uns mitten hinein ins Zentrum des Seebades bringt. Ein paar Kurven und Abzweige später hat der Bus die Haltestelle Zingst Zentrum erreicht und ich steige aus.

Als der Bus sich wieder entfernt hat, stehe ich zunächst etwas verloren herum. Wie ein Zentrum sieht das hier eigentlich nicht aus. Ganz im Gegenteil. Die Haltestelle bildet das Ende der Straße, die in einem großen Wendekreis ausläuft, mittels dessen der Bus gerade wieder dorthin verschwunden ist, wo er hergekommen war. Rings um den Wendekreis stehen ein paar moderne Gebäude in der Gegend herum, die auf einen ortsfremden Besucher wie mich nicht sehr einladend wirken. Eines trägt über seinem Eingang den Schriftzug Max Hünten Haus Zingst und stellt sich mir damit namentlich vor. Zumindest nehme ich das an. Angesichts der völligen Abwesenheit jeglicher Bindestriche könnte es sich auch einfach nur um die Aneinanderreihung einiger Wörter handeln und damit vielleicht ebenso eine Art Kunstwerk sein wie die vor dem Eingang auf dem Rasen liegende riesige schwarze Brille, die offenbar auf irgendetwas hinweisen soll, das sich mir aber nicht erschließt. Auch als ich später herausfinde, daß sich in dem Gebäude das Zingster Zentrum der Fotografie befindet, wird mir der Sinn dieser Brille nicht viel klarer. Allerdings geht mir das mit moderner Kunst des öfteren so, und so mache ich mir nichts daraus[1]Auf der Suche nach einer Erklärung finde ich auf verschiedenen Seiten im Internet und auch in den sozialen Netzwerken Fotos, die die von Marc Moser geschaffene Brille mal am Strand und mal am … [Weiterlesen].

Ich laufe ein Stück dem Bus hinterher und gelange nach wenigen Schritten über die Jordan- in die Hafenstraße, die mich auf einem kurzen Stück Wegs zu genau dem Ort bringt, nach dem sie benannt ist: dem Zingster Hafen. Genau wie der in Prerow befindet er sich nicht an der Ostsee, sondern an den Boddengewässern. Und genau wie in Prerow liegt er an einem Wasserlauf, der hier allerdings Zingster Strom heißt. Im Gegensatz zum Prerower Strom ist dieser hier allerdings kein Seegatt, sondern lediglich ein Wasserarm des Barther Boddens. Er trennt Zingst von der Insel Kirr, die dem Seebad im Bodden vorgelagert ist. Genau wie sein Prerower Pendant hatte der Strom einstmals auch eine direkte Verbindung zur Ostsee, die sich auf der Ostseite des Ortes befand. Sie war als Folge des großen Sturmhochwassers entstanden, das sich im Februar des Jahres 1625 ereignet hatte. Mit der Zeit versandete sie jedoch wieder und schloß sich schließlich ganz.

So ist der am Ende der Hafenstraße gelegene Hafen von Zingst eben kein Ostsee-, sondern ein Boddenhafen. Besonders groß ist er nicht, doch das ist auch gar nicht notwendig, denn er dient heute vorwiegend nur als Anlegestelle für Ausflugsschiffe. Das war jedoch nicht immer so. Die Anfänge des Hafens reichen ein ganzes Stück in die Geschichte zurück, denn wie man heute vermutet, legten bereits in der Zeit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts hier regelmäßig Segelschiffe an. Als dann im Jahre 1858 die erste regelmäßige Dampferverbindung eingerichtet wurde, die Zingst verkehrstechnisch mit Barth und Stralsund verknüpfte und täglich bedient wurde, brach die große Zeit des Zingster Hafens an. Gemeinsam mit diesem neuen Verkehrsweg gewann er insbesondere für Urlauber schnell an Bedeutung, bildeten die Dampfer doch lange Zeit die einzige Möglichkeit zur Anreise in einigermaßen vertretbarer Zeit. Die Inbetriebnahme der Darßbahn im Jahre 1910 machte der Dampfschiffahrt jedoch schnell den Garaus. Die Verbindungen wurden innerhalb kürzester Zeit vollständig eingestellt. Zwar verlor der Hafen, sieht man einmal von den hier an- und ablegenden Ausflugsschiffen ab, nun seine Bedeutung für die Personenschiffahrt nahezu vollständig, für den Güterverkehr blieb er jedoch weiterhin wichtig. Und auch Fischer- und Sportboote frequentierten ihn nach wie vor.

Der Zingster Hafen
Panorama-Ansicht des Zingster Hafens. Beim ersten Blick darauf kann man das Hafenbecken leicht übersehen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Als der Zweite Weltkrieg dann zum Ende der Darßbahn führte, kam es dennoch nicht zu einer Wiederbelebung der Personenschiffahrt. Zunächst hatten die Menschen anderes im Kopf, als an der Ostsee Urlaub zu machen. Und als später der Tourismus schließlich doch wieder zunahm, hatte das Auto als Verkehrsmittel längst die Oberhand gewonnen. Und dennoch gibt es heute wieder ein paar Fahrgastschiffe, die im Zingster Hafen anlegen. Sie bedienen die Fährverbindungen nach Barth, Stralsund und Hiddensee. Und natürlich gibt es auch die Ausflugsschiffe noch, die die Urlauber auf die beliebten Boddenrundfahrten mitnehmen. Diesem eher überschaubaren Schiffsverkehr gemäß ist der Zingster Hafen, ebenso wie sein Prerower Bruder, nicht allzu groß.

Als ich den Hafen erreiche, liegt gerade ein Schiff darin vor Anker, das mir einigermaßen bekannt vorkommt. Schon glaube ich, die Baltic Star vor mir zu sehen, und beginne mich zu wundern, warum sie sich wohl nach meiner gestrigen Fahrt mit ihr auf den Weg hierher nach Zingst gemacht hat, da entdecke ich an ihrer Seite den großen Schriftzug mit dem Schiffsnamen darauf. River Star steht dort in großen blauen Buchstaben auf knallrotem Grund. Es ist das Schwesterschiff der Baltic Star und wie diese ein Schaufelraddampfer im Stil der  nordamerikanischen Flußschiffe, der die Urlauber auf Ausflugsfahrten durch die hiesige Boddenlandschaft mitnimmt. Hier von Zingst aus gehen die Fahrten allerdings nicht in den Bodstedter, sondern in den Barther Bodden.

Nun, mein Bedarf an Boddenrundfahrten ist vorerst hinreichend gedeckt, und so wende ich mich, nachdem ich mich noch ein wenig am Ufer rings um das einzige Hafenbecken umgeschaut habe, wobei es, sieht man einmal von ein paar Läden, drei Restaurants, einigen Fahrradständern, einer Informationstafel zur Historie des Hafens und einer terrassenartigen Kombination aus Treppe und Sitzgelegenheit ab, nicht sonderlich viel Erwähnenswertes zu entdecken gibt, wieder dem Zentrum des Ortes zu, dem mich die Hafenstraße hilfreich entgegenbringt.

Zurück an der Jordanstraße, finde ich mich an einem kleinen, namenlosen, dreieckigen Platz wieder, der von einer Grünanlage eingenommen wird, die ein einzelner riesiger Baum dominiert, um den herum sich ein paar von Rasen umgebene Büsche gruppieren. Welcher Art dieser Baum ist, kann ich nicht mit völliger Sicherheit ausmachen, da sich an seinen Ästen noch kein einziges Blatt sehen läßt. Anhand der Beschaffenheit seiner Rinde tippe ich allerdings auf eine Eiche. Ich überquere die Jordanstraße und schicke mich gerade an, auf ihrer gegenüberliegenden Seite der Hafenstraße weiter zu folgen, da bemerke ich inmitten der Grünanlage ein metallenes Etwas, dessen blankpolierte Oberfläche die grünen Büsche spiegelt, die allerdings gar keine sind, wie ich feststelle, als ich nähertrete, denn sie geben sich als niedrigwachsende Nadelgehölze zu erkennen. Offenbar habe ich das metallische Konstrukt zuerst von seiner rückwärtigen Seite bemerkt, an der ich nicht erkennen kann, um was es sich handelt. Von der Straßenecke aus gesehen kann ich lediglich eine Wand identifizieren.

Ich laufe also um die kleine Grünfläche herum, um auf die andere Seite dieses Was-auch-immer-es-ist zu gelangen. Dort angekommen, werde ich jedoch zunächst auch nicht schlauer. Ich sehe tatsächlich eine glatte, hohe Wand aus Metall vor mir, die auf der Rasenfläche unter dem hohen Baum steht und deren Oberfläche derart stark poliert ist, daß sie wie ein Spiegel wirkt. Auf’s kleinste Detail genau kann ich darin die Szenerie hinter mir und natürlich mich selbst erkennen, einschließlich des strahlend blauen Himmels mit den schneeweißen Wolken, der sich über mir wölbt.  Vor der Wand ist der Boden bis fast an den Weg, auf dem ich stehe, ebenfalls mit einer Metallplatte ausgelegt, die allerdings mit kleinen, langgezogenen metallischen Noppen versehen ist, die in parallelen, diagonal verlaufenden Reihen angeordnet sind. Und weil es Reihen in beiden Diagonalrichtungen gibt, kreuzen sie einander und bilden so ein interessantes Muster. Auf dieser Bodenplatte befinden sich zwei niedrige, parallel zur Wand ausgerichtete Sockel, die die ganze Breite der Platte einnehmen und von denen der eine sie vorn, wo ich stehe, abschließt. Diese etwa sitzhohen Sockel sind, genau wie die Wand, an allen Seiten spiegelglatt poliert, so daß auch sie Spiegelbilder ihrer näheren Umgebung zeigen. Offenbar handelt es sich um irgendeine Art Kunstwerk, doch kann ich mir zunächst keinen Reim darauf machen. Das ändert sich jedoch, als ich die an der Spiegelwand angebrachte und auf deren Oberfläche fast schwarz wirkende Bronzetafel entdecke, auf der sich offenbar eine Aufschrift befindet. Neugierig gehe ich darauf zu, um zu lesen, was dort steht.

DEN OPFERN
VON
KRIEG
UND
GEWALT-
HERRSCHAFT

Daneben sind zwei als Relief gestaltete ernste Gesichter zu sehen, deren Augen geschlossen sind und sich leicht nach vorn neigen, der Schrift entgegen. Ein Denkmal also. Mit seinen sitzhohen Sockeln lädt es ein, hier einen Moment zu verweilen. Doch unabhängig davon, ob man dieser Einladung nun folgt oder nicht, wird man als Betrachter mit seinem Abbild, das die Spiegelflächen erzeugen, gewissermaßen in das Denkmal integriert. Während man über die Opfer vergangener Kriege und Gewaltherrschaften nachdenkt, sieht man sich selbst und wird so daran erinnert, wie schnell man selbst zu einem dieser Opfer werden könnte, sollte die Gesellschaft es noch einmal zulassen, daß sie sich in diese Richtung fehlentwickelt.

Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in Zingst
Gedenken mit Spiegel – das Denkmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in Zingst.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Dieses Denkmal steht an dieser Stelle seit dem 19. November 2006. An diesem Tage eingeweiht, ersetzt es eine vorher an dieser Stelle an einer kleinen Mauer angebrachte Gedenktafel, die zu Zeiten der DDR hier plaziert worden war und an die Opfer des Faschismus erinnerte, was sich insbesondere auf die faschistische Herrschaft in Deutschland in der Zeit von 1933 bis 1945 bezog. Weil sowohl Mauer als auch hölzerne Tafel mit den Jahren recht marode geworden waren, so daß eine Restaurierung nicht mehr möglich war, entschloß sich die Gemeinde dazu, das Denkmal zu schaffen, das ich nun hier vor mir sehe. Damit einher ging dann auch die Umwidmung von einer Erinnerungsstätte, die konkret den Opfern des Faschismus gewidmet war, zu einem verallgemeinerten Gedenkort für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Es war nicht die erste Umwidmung dieser Art. Die vielleicht bekannteste hatte es bereits mit der Neuen Wache in Berlin gegeben. Diese war in der DDR zu einem Mahnmal für die Opfer des Faschismus und des Militarismus gestaltet worden. Nachdem das kleine Land in der BRD aufgegangen war, hatte man sie 1993 neu gestaltet und zu deren zentraler Gedenkstätte für die Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft umgewidmet. Doch wie positiv man den Einbezug aller Opfer jeglicher Kriege und Gewalt in das Gedenken immer sehen mag – und damit wird diese Verallgemeinerung schließlich oft genug begründet -, so ist er doch auch problematisch. Denn damit geht auch stets etwas verloren. Es ist der Bezug auf die ganz konkrete Schuld, die das deutsche Volk in der Zeit des deutschen Faschismus in den Jahren 1933 bis 1945 auf sich geladen hat, auf Verbrechen wie den Holocaust, die in der Menschheitsgeschichte aufgrund ihres außerordentlichen und kaum vorstellbaren Umfangs eine traurige Ausnahmestellung besitzen. Und daher wäre es auch heute noch notwendig, die daran erinnernden Gedenkstätten zu erhalten und nicht mit anderen Kriegen und Gewaltherrschaften in einen Topf zu werfen und so zu verallgemeinern. Das Gedenken an die in jener faschistischen Zeit von Deutschen verübten Verbrechen und an deren Opfer mag in die neue Widmung eingeschlossen sein, doch weil es in dieser Verallgemeinerung einfach aufgeht, geht es darin auch unter. Es wird unsichtbar, eines von vielen. Und weil es das eben nicht war, empfinde ich das als hochproblematisch, gerade in Deutschland und gerade in einer Zeit, in der wieder vermehrt Stimmen laut werden, die meinen, es wäre doch nach all der Zeit nun endlich einmal genug mit der Erinnerung an die Schuld. Doch das ist es nicht. Sonst kommt dereinst wieder der Tag, wo all das wiederkehrt, weil niemand die Gefahr mehr kennt und rechtzeitig zu erkennen in der Lage ist.

Von dem Denkmal und der kleinen Grünanlage, in der es steht, gehe ich weiter die Hafenstraße entlang, auf der ich mich nun gemächlich dem Zentrum des Ortes nähere. Wie bereits auch schon am Hafen entdecke ich vereinzelt Informationstafeln, die mich über die Geschichte des Ortes, an dem sie stehen, aufklären. Wie in Prerow markieren sie einen historischen Rundgang durch den Ort. Zwar sind sie weniger zahlreich als jene des Nachbarortes, doch dafür meist etwas ausführlicher in ihrer Beschreibung. Als ich an einem Supermarkt vorüberkomme, stoße ich auf eine dieser Tafeln. Sie erinnert an die einstige HO-Kaufhalle[2]HO stand in der DDR für Handelsorganisation. Das war ein staatliches Unternehmen des Einzelhandels, das mit der Bandbreite der von ihm angebotenen Waren und der ihm unterstehenden Läden alle … [Weiterlesen], die sich zu Zeiten der DDR an seiner Stelle befunden hat und im Jahre 1969 eröffnet worden war. Hier gab es sowohl für die Zingster als auch für die Urlauber die Möglichkeit, die benötigten Waren des täglichen Bedarfs käuflich zu erwerben. Diese Erinnerung an einen Ort des alltäglichen Lebens hat durchaus ihren Charme, und ich registriere interessiert die Unterschiede in der Bewertung, was dem der Geschichte zugeneigten Besucher auf dem jeweiligen Historischen Rundgang in Prerow und Zingst präsentiert wird. Auch in Prerow hatte es, wie ich aus eigener Erinnerung weiß, eine solche Kaufhalle gegeben. Eine diesbezügliche Rundgangstafel suchte ich dort allerdings vergebens. Sicher hätte es auch da irgendetwas Interessantes darüber zu berichten gegeben. Für mich hatte diese Kaufhalle in einem oder zwei unserer Urlaube jedenfalls einige Bedeutung besessen, versuchte ich doch jedes Mal, wenn wir dort einkauften, meine Eltern zu nötigen, verschiedene der regionalen Getränke zu erwerben. Dabei waren weniger die Inhalte der Flaschen für mich wichtig, von denen ich einige, insbesondere die alkoholischen, gar nicht selbst trinken konnte oder wollte. Ich war vielmehr an den Etiketten der Flaschen interessiert, die ich meiner Sammlung einverleiben wollte, die ich damals anzulegen gedachte. Sorgfältig weichte ich sie von den Flaschen ab, trocknete und glättete sie und klebte sie in ein Notizbuch ein. So frönte ich schon als Kind und Jugendlicher leidenschaftlich meinem Sammeltrieb. Irgendetwas habe ich eigentlich immer gerade gesammelt. Mal waren es kleine Eislöffel aus Plastik, auf deren Stiel aus irgendwelchen Gründen Vornamen aufgeprägt waren, dann wieder Kronkorken. Ein anderes Mal sammelte ich die bereits erwähnten Flaschenetiketten, dann, als ich älter wurde, die Programmhefte und Eintrittskarten von mir besuchter Konzert- und Theatervorstellungen. All diese Sammlungen gingen alsbald jedoch wieder den Weg alles Irdischen, denn zum einen fehlte mir der Platz, zum anderen aber auch die zündende Idee, wie ich denn Systematik in die jeweilige Sammlung bringen könnte. So gab ich sie schließlich bald alle wieder auf, nicht jedoch das Sammeln an sich. Hatten die erwähnten Sammelobjekte den Nachteil, daß ihnen kein rechter Unterhaltungs- oder ideeller Wert innewohnte – was sollte man mit Flaschenetiketten, Kronkorken oder Eislöffeln letztlich schon groß anfangen? -, so sah das bei Büchern, Romanheften, Schallplatten oder Briefmarken schon anders aus. Irgendwas habe ich über viele Jahre hinweg eigentlich immer gesammelt. Bis ich irgendwann, schon längst erwachsen, dann doch einmal einsah, daß es besser ist, sich zu beschränken, und zwar auf das, was einem wirklich wichtig ist. Und so sammle ich heute nicht mehr im eigentlichen Sinne, sondern beschränke mich auf einige wenige Dinge, die mir auch wirklich am Herzen liegen; bei Büchern beispielsweise auf einige sehr ausgewählte Autoren, die ich auch tatsächlich lesen will.

Ist es nicht interessant, wie die Gedanken auf Wanderschaft gehen können, wenn man, nichtsahnend durch einen fremden Ort streifend, plötzlich auf eine Informationstafel stößt, die in ihrem kurzen Text über etwas so Alltägliches wie eine einstige HO-Kaufhalle berichtet? Etwas daran hatte eine Erinnerung aus meinem Gedächtnis hervorgeholt und mich in der Zeit zurückversetzt…

Ich reiße mich los und spaziere weiter die Hafenstraße entlang, die sich jetzt zunächst scharf nach links, alsbald aber wieder sanft nach rechts wendet. Kurz darauf finde ich mich erneut auf einem dreieckigen Platz wieder, der ebenfalls eine Grünanlage besitzt. Deutlich größer als der letzte, hat er auch einen eigenen Namen: Postplatz. Und auch die Grünanlage ist erheblich umfangreicher und mit einer stattlichen Anzahl Bäume versehen, die aber ebenfalls alle noch völlig kahl sind. In ihrer Mitte finde ich einen großen Stein, der Ähnlichkeit mit jenem hat, der sich in Prerow auf dem Gemeindeplatz befindet. Nur ruht dieser hier im Gegensatz zu jenem auf einem deutlich weiträumigeren Sockel aus vermauerten Feldsteinen, der zudem auch noch nach beiden Seiten in die Grünanlage ausgreift. Die Aufschrift an der Vorderseite des großen Findlings ist nicht ganz leicht zu entziffern. Mühsam lese ich:

Zum Gedächtnis
der Helden
1914 – 1918

Darüber prangt das Symbol des eisernen Kreuzes. Noch ein Kriegerdenkmal also. Doch anders als in Prerow, wo man offenbar ein mahnendes Gedenken bevorzugt, wie die dortige Inschrift „Die Toten mahnen“ auf dem Stein nahelegt, werden die bei den Eroberungsfeldzügen des Ersten Weltkriegs zu Tode gekommenen Soldaten, wenn ich die Aufschrift richtig entziffert habe, hier als Helden verehrt, eine Auffassung, der ich mich allerdings weder anschließen kann noch will.

Kriegerdenkmal in Zingst
„Helden“-Verehrung in Zingst – das Kriegerdenkmal auf dem Postplatz.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich lasse das Denkmal hinter mir und setze meinen Weg fort. Dort, wo der Postplatz – man hat hier gleich noch ein Stück der von ihm fortführenden Straße mit diesem Namen versehen – auf die Friedenstraße trifft, laufe ich an vier einander außerordentlich ähnlich sehenden Häusern vorüber, von denen drei direkt an der Straße stehen, während sich das vierte, etwas größere diskret in den Hintergrund zurückgezogen hat. Jedes sieht aus wie eine zweistöckige Stadtvilla mit Balkons im oberen Stockwerk, die um die vorderen Ecken gehen und von gelben Ziegelpfeilern getragen werden. Die an der Straße gelegenen Häuser beherbergen in ihren Erdgeschossen kleine Läden. An der Frontseite präsentiert ein jedes dem Betrachter seinen Namen. Nacheinander laufe ich erst an der Villa Nadine vorüber, dann an der Villa Beatrice und zuletzt an der Villa Verena. Den Namen des Hauses im Hintergrund kann ich nicht erkennen und muß ihn daher dem Stadtplan entnehmen: Villa Sophie.  Wie vermutlich in fast jedem Haus hier im Ort – ebenso wie in Prerow – werden in den oberen Stockwerken Ferienwohnungen vermietet.

Die Friedenstraße bringt mich schließlich zur Strandstraße, wo ich das Herz des Seebades erreicht zu haben scheine, denn von hier an befinde ich mich in einer ausgedehnten Fußgängerzone. Diese umfaßt allerdings nicht die gesamte in Nord-Süd-Richtung verlaufene Strandstraße, sondern endet etwa einhundert Meter südlich von meinem jetzigen Standort. Daß ich dort heute bereits gewesen bin, wird mir klar, als ich diese kurze Entfernung zurückgelegt und das Ende – oder den Beginn, je nach Perspektive – der Fußgängerzone erreicht habe. Genau an dieser Stelle mündet die hier endende Bahnhofstraße in die Strandstraße und ich erkenne die Kurve, die die aus ihr kommende Fahrbahn beschreibt, sofort wieder. Hier war ich vorhin, im Bus sitzend, entlanggefahren. Da es an dieser Stelle jedoch für mich nichts weiter von Interesse zu sehen gibt, kehre ich wieder um und gehe die Strandstraße in Richtung Norden weiter. Da sie nicht nur in großen Teilen eine Fußgängerzone ist, sondern auch noch genau auf die Seebrücke des Ortes und damit auf den zentralen Strandabschnitt zuführt, ist sie ohne Zweifel eine der bedeutendsten Straßen in Zingst. Zahlreiche Geschäfte, Cafés und Restaurants säumen den Weg, die sich besonders am Fischmarkt konzentrieren. Dieser ist nur wenige Schritte von der Friedenstraße entfernt und genau wie der Postplatz nicht einfach nur ein großer Platz. Tatsächlich ist der Name auch noch einer kleinen Seitenstraße zugeordnet, die östlich der Strandstraße ein Stück parallel zu ihr verläuft, bevor sie ihren Namen in Klosterstraße ändert. Da ich für diese Eigenart keine Erklärung finden kann, überlege ich mir selbst eine. Ohne es also genau zu wissen, vermute ich, daß der Platz möglicherweise einst viel größer gewesen sein und das gesamte Areal zwischen den beiden Straßen umfaßt haben mochte. Später wurde es vielleicht in Teilen bebaut, so daß die heutige Situation nach und nach entstanden ist. Eine alternative Erklärung, die mir einfällt, bezieht den Namen auf einen realen Markt, auf dem vorwiegend Fische verkauft wurden. Dieser mochte von dem Platz, auf dem er ursprünglich stattfand, immer mehr in die Seitenstraße übergegriffen haben, so daß man irgendwann diese in den Namen einbezog. Doch egal, wie es wirklich gewesen war, der Fischmarkt ist nun meine nächste Station.

Die Strandstraße in Zingst
Der Fischmarkt an der Strandstraße. Doch weder ist ein Strand, noch sind Fische irgendwo zu sehen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Doch bevor ich die wenigen Meter auf der Strandstraße zu ihm zurücklege, fällt mir an der Ecke zur Friedenstraße ein Gebäude auf, das ich zwar auch vorher schon bemerkt, jedoch nicht weiter beachtet hatte, weil es auf den ersten Blick wie ein gewöhnliches Wohngebäude aussieht. Es ist ein langgestreckter Bau mit vergleichsweise flachem Spitzdach, der längs entlang der Friedenstraße ausgerichtet ist. In der Mitte wird er von einem etwas erhöhten Gebäudeteil unterbrochen, dessen Dach die gleiche Form aufweist, jedoch quer verläuft. Diesem Mittelteil ist ein vom Boden bis zum Dach reichender Erker vorgesetzt. War ich vorhin etwas achtlos an dem Gebäude vorübergegangen, so fällt mir jetzt, da ich, vom südlichen Ende der Strandstraße zurückkommend, genau darauf zulaufe, auf, daß die beiden Seitenflügel recht unterschiedlich gestaltet sind. Während sich im rechten, östlichen Flügel normale rechteckige Fenster befinden, besitzt der linke, westliche Flügel hohe, schmale Bogenfenster, die von außen aussehen, als seien sie aus vielen kleinen, bunten Glasstücken zusammengesetzt worden. Und auch der Erker des Mittelteils besitzt im Erdgeschoß derartige Bogenfenster, die allerdings bedeutend kleiner ausfallen. Als ich das Gebäude schließlich erreicht habe, bemerke ich an der fensterlosen, der Strandstraße zugewandten Schmalseite eine flache, darin eingelassene Nische, die ebenfalls die Form eines Bogenfensters besitzt. Darin ist ein riesiges, aus Ziegeln geformtes Kreuz eingelassen. Ganz offensichtlich habe ich hier kein gewöhnliches Wohnhaus vor mir. Tatsächlich stehe ich vor der katholischen Kapelle Sankt Michael, in der die Katholische Kirchengemeinde Sankt Bernhard aus Stralsund in Zingst ihre Gottesdienste abhält.

Daß man die Kapelle auf den ersten Blick für ein Wohnhaus halten kann, ist kein Zufall, denn einst war das Gebäude tatsächlich ein altes Seemannshaus. Katholische Gottesdienste gab es in Zingst erst vergleichsweise spät. 1921 sollen die ersten hier gefeiert worden sein. Vier Jahre später begann man mit den sogenannten Kurgottesdiensten, die auch den Urlaubern offenstanden. Doch noch gab es keine eigene Kirche. Diese wurde erst notwendig, als nach dem Zweiten Weltkrieg etwa zweitausend Flüchtlinge in Zingst eintrafen, die katholischen Glaubens waren. Der Pfarrer der Gemeinde erwarb daraufhin das Gebäude an der Friedenstraße, ließ es zum Pfarrhaus umbauen und mit einer Kapelle versehen, die unter das Patronat des Erzengels Michael gestellt wurde. Bis zum heutigen Tage werden in der Kapelle katholische Gottesdienste abgehalten.

Langsam spaziere ich die Strandstraße entlang auf den Fischmarkt und über diesen hinweg. Der Boden ist ein buntes Sammelsurium von Belägen. Hier zieht sich eine geteerte Bahn entlang, dort bilden große, unregelmäßige Steine eine Art hoppeliges Kopfsteinpflaster und wieder woanders liegen ebenmäßig gefertigte, in ihrer Form an Ziegel erinnernde Steine so streng in Reih und Glied, daß die Fugen zwischen ihnen sich in ihrer Breite kaum einmal um einen Millimeter voneinander unterscheiden. Auf dem Platz gibt es kleine mit Rasen ausgelegte und von Hecken eingefaßte Inseln, auf denen vereinzelte Büsche stehen. Und während diese am einen Ende in eine strenge Kugelform gezwungen wurden, läßt man ihnen am anderen in ihrem Wachstum freien Lauf. Rings um den Fischmarkt haben sich einzeln stehende Häuser versammelt, deren einige, die direkt an den Platz grenzen, in ihrem Erdgeschoß einen Laden oder ein Café beherbergen, während andere noch einen Vorgarten zwischen sich und den Platz gesetzt haben, um von diesem etwas Abstand zu gewinnen. Hier wird offenbar einfach nur gewohnt. Allzu viel ist gerade nicht los, und so wandere ich weiter die Strandstraße entlang nach Norden.

Das Bild ändert sich nicht wesentlich. Hier ein Wohnhaus mit Vorgarten, dort ein Laden, dann eine Seitenstraße, ein Restaurant und wieder ein Wohnhaus. Mal nehmen die Läden an Häufigkeit zu, dann ist plötzlich abrupt wieder Schluß mit den Einkaufsmöglichkeiten und ich wandere an einer ein Grundstück begrenzenden Hecke entlang. Es ist nicht gerade eine Einkaufsmeile, auf der ich unterwegs bin, sondern einfach nur die Hauptstraße eines Ortes, in dem es zu dieser Jahreszeit, in der Vorsaison, vergleichsweise ruhig und gemütlich zugeht.

Schließlich erreiche ich einen auf der rechten Straßenseite befindlichen kleinen Ziegelbau, der mir ausgesprochen bekannt vorkommt. Da sich die rechter Hand hinter den Häusern parallel zur Strandstraße verlaufende Klosterstraße nun soweit angenähert hat, daß sie einige Meter voraus mit dieser zusammentrifft, befindet sich das kleine Gebäude genau in der Mitte zwischen den beiden Verkehrswegen. Mit seinem spitz zulaufenden Dach und den an den beiden Schmalseiten jeweils nebeneinanderliegenden zwei großen, doppelflügeligen Toren sieht es der alten Seenotstation von Prerow, die ich bereits an meinem ersten Abend dort entdeckt hatte, ausgesprochen ähnlich. Zwar ist eine entsprechende Aufschrift, wie es sie dort gegeben hatte, hier nicht vorhanden, doch das ovale Emblem mit dem roten Kreuz der Seenotretter ist auch hier zu sehen. Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger Bremen ist in einem Kreis rings um das Symbol zu lesen.

Alter Rettungsschuppen in Zingst
Der alte Rettungsschuppen in Zingst – Biergarten und Traditionskabinett in einem.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Dieser sogenannte Alte Rettungsschuppen wurde im Jahre 1873 durch die Zingster Bürger errichtet. Er sollte den fünf Jahre zuvor bei einem Sturmhochwasser zerstörten Rettungsschuppen ersetzen und diente zur Aufbewahrung der Ruder-Rettungsboote. Lange Jahre erfüllte er seinen Zweck, bis er schließlich außer Dienst gestellt wurde. Doch nach wie vor, und darauf weist das Zeichen über den Toren unmißverständlich hin, wird er von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) genutzt. Sie hat darin ein Traditionskabinett untergebracht, das eine Sammlung historischer Rettungsgeräte aus der Geschichte der hiesigen Rettungsstation beherbergt. Doch im Gegensatz zu seinem Pendant in Prerow kommt hier auch die Öffentlichkeit in den Genuß, von diesem kleinen Bauwerk etwas zu haben, denn zusätzlich ist darin ein kleines Lokal untergebracht, an das sich ein Biergarten anschließt, der genau zwischen den beiden Straßen gelegen ist.

An dem Rettungsschuppen vorbei gelange ich nun auf einen großen, halbkreisförmigen Platz, an dem die Strandstraße endet. Direkt vor mir, gewissermaßen auf dem Durchmesser des Halbkreises, verläuft der schnurgerade Deich, hinter dem ich wohl mit einiger Berechtigung die Ostsee vermuten darf. An seiner halbkreisförmigen Seite wird der Platz, der offenbar keinen Namen hat, von einigen großen Gebäuden gesäumt, die ausnahmslos alle so aussehen, als seien sie noch gar nicht so alt. Auf das große Hotel links von mir trifft das auf jeden Fall zu. Es stellt sich mir an seinem Portikus als Strandhotel vor und gibt sich alle Mühe – durchaus nicht völlig erfolglos, möchte ich anfügen – , den Anschein zu erwecken, als stamme es aus der Zeit der Wende zum 19. Jahrhundert, der großen Ära der Seebäder. Tatsächlich wurde das Hotel erst im Jahre 2006 errichtet und erbringt so den Beweis, daß es auch heutigen Architekten möglich ist, Bauten zu entwerfen, die sich nicht wie Fremdkörper in ihrer Umgebung ausnehmen, sondern gut in den Ort, in dem sie stehen, integrieren.

Das Strandhotel in Zingst
Das Strandhotel in Zingst – ein schöner Bau wie aus einer anderen Zeit.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Auch die andere Seite des Platzes wird von einem großen Hotelbau dominiert. Dieser versucht zwar nicht, sich irgendeiner historischen Architektur anzugleichen, paßt sich aber dennoch gut in seine Umgebung ein, auch wenn er um ein Vielfaches größer ist als das Strandhotel. Der Größenzuwachs geht dabei aber nicht in die Höhe, sondern eher in die Breite, nimmt das Aparthotel, wie dieser Bau heißt, doch den gesamten Rand des Platzes von der Strandstraße bis zum Deich hinüber ein. Ich bin immer wieder überrascht, was Architekten der heutigen Zeit für gefällige Bauten zustandebringen, wenn sie nicht versuchen, originell zu sein und einander möglichst großartig zu übertreffen. In einem vergleichsweise kleinen Ort wie Zingst kann man wohl kaum erwarten, mit dem Ergebnis seines Tuns die Aufmerksamkeit der großen weiten Welt zu erringen, wie das in Metropolen wie Berlin, Köln, Hamburg, Frankfurt oder München der Fall ist oder zumindest erhofft wird. So kommt es wohl, daß sich in jenen Städten heutzutage oft Bauten finden, deren Gestaltung so extraordinär, gewaltig und Eindruck schindend wie nur irgend möglich ist, daß man unwillkürlich zu bezweifeln geneigt ist, es könnte dahinter noch irgendeinen anderen Zweck geben als den, herauszustechen, aufzufallen und für genial gehalten zu werden. Dabei ist das Ergebnis oft ein Gebäude, das seine Umgebung völlig ignoriert, so daß es überhaupt nicht dorthin paßt, wo es steht, und dies oftmals nicht nur optisch und ästhetisch, sondern auch bezogen auf das menschliche Umfeld. Oft genug haben die Normalbürger der jeweiligen Stadt überhaupt keinen Bezug zu dieser Art von Gebäude. Weder brauchen sie sie noch nutzen sie sie selbst. Und so ist es mit Sicherheit auch nicht nur die Geltungssucht der Architekten, die zur Errichtung dieser sinnlosen und wenig ästhetischen Protzbauten führt, sondern ganz sicher auch die Manie der jeweiligen Bauherren (oder -damen – ich will ja niemanden ausschließen!), zu repräsentieren, etwas darzustellen und den Nachbarbau möglichst auszustechen. Und das läßt man sich dann eine Menge kosten. Je mehr Geld, desto mehr Geltungsdrang. Zumindest kommt es mir so vor, wenn ich mir die neuen Bauten ansehe, die heute so entstehen, besonders in meiner Heimatstadt Berlin. Man schaue sich nur das Ensemble am Potsdamer Platz an. Was dort entstanden ist, ist lediglich eine Insel inmitten der Stadt, die weder wirklich in diese integriert ist, noch irgendeinen Bezug zu ihr herstellt. Von einem lebendigen Viertel mit Lebens- oder wenigstens Aufenthaltsqualität kann dort keine Rede sein, was man allein schon an den nach wie vor hilflosen Versuchen ablesen kann, aus den Potsdamer-Platz-Arkaden, wie sie früher hießen, irgendetwas Lebendiges, sich selbst Erhaltendes zu machen, das die Menschen anzieht. Nicht einmal ein McDonald’s hat dort überlebt… Ein ähnliches Erscheinungsbild bieten die Neubauten am Bahnhof Zoo, die mit ihrer gewaltigen Höhe vielleicht in Städte wie New York passen mögen, aber nicht nach Berlin und schon gar nicht in das dortige Charlottenburger Umfeld mit seinen Bürgerhäusern. Und was nun am Alexanderplatz geplant und bereits in Bau ist, davon will ich gar nicht erst anfangen…

Doch zurück auf den großen Platz am Ende der Strandstraße in Zingst. Ich überquere die vor dem Deich parallel zu diesem verlaufende Seestraße und anschließend ihn selbst auf dem breiten, die Strandstraße fortsetzenden Weg und finde mich alsbald auf der anderen Seite wieder, wo sich ein weiterer Platz befindet, der ebenfalls keinen Namen hat. Ganz offensichtlich gibt es hier in Zingst noch einiges Potential für Namensgebungen. Direkt voraus gewahre ich eine Schar kleiner Kiefern. Wenn es sich nicht um eine Art handelt, die einfach von selbst nicht größer wird, hat man sie wohl so zurechtgeschnitten, daß die Bäume die Form kleiner Linden oder Obstbäume haben. Das sieht ganz hübsch aus, ich bezweifle aber, daß man sie gefragt hat, ob sie das wollen. Doch sie können sich ja nicht wehren…

An der Seebrücke in Zingst
Hinter dem Deich… geht’s weiter. Mit Wasserwacht, Bistro, Kiosk, Kurhaus und Zugang zum Strand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Auf der linken Seite des Platzes stehen zwei vergleichsweise schmucklose, miteinander verbundene Ziegelbauten. Vor dem ersten hat man einige Tische und Bänke auf den Platz gestellt; ein einzelner blauer Sonnenschirm, der jedoch momentan gerade zusammengefaltet ist, leistet ihnen Gesellschaft. Wenn mir das nicht ausreichen sollte, um in dem Gebäude ein gastronomisches Etablissement zu vermuten, so weist mich die Aufschrift Bistro Zentral über den großen Schaufenstern im Erdgeschoß unmißverständlich darauf hin. Am zweiten Gebäude befindet sich ebenfalls ein Schild, auf dem Deutsches Rotes Kreuz zu lesen ist. Hier ist die Wasserwacht des Zingster Strandes untergebracht.

Gegenüber, also auf des Platzes rechter Seite, steht ebenfalls ein Gebäude. Es ist etwa dreimal so groß wie die beiden Bauten linker Hand zusammen und besitzt das Erscheinungsbild eines Fachwerkhauses. Ein genauerer Blick verrät mir jedoch, daß es noch recht neu ist. Keinesfalls ist das, was ich hier vor mir sehe, historisches Fachwerk. Tatsächlich wurde dieses Zingster Kurhaus erst im Jahre 2000 eingeweiht. Obwohl Zingst bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein beliebter Badeort gewesen ist, besaß der Ort lange Zeit kein Kurhaus. Das erste wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahre 1948 errichtet. Es stand ziemlich genau fünfzig Jahre, denn 1998 riß man es wegen Baufälligkeit ab und errichtete umgehend ein neues Gebäude, das ich nun vor mir sehe.

Hinter dem Platz führt der Weg weiter unter den Kiefern hindurch, über die Düne zum Strand. Hier beginnt der Sand. Doch anders als an anderen Strandzugängen muß man hier nicht zwingend hindurchstapfen, um an’s Meer zu kommen. Oder in diesem Fall besser über’s Meer. Denn am hiesigen Hauptzugang zum Zingster Strand hat man im Jahre 1993 eine Seebrücke errichtet. Mit ihren zweihundertsiebzig Metern Länge und zweieinhalb Metern Breite ist sie ein vergleichsweise einfacher Vertreter ihrer Zunft. Wer also einen über den Wellen sich erhebenden Brückenkiosk oder ähnliches erwartet, dürfte enttäuscht werden. Die Seebrücke erinnert eher an einen übergroßen, mit Geländern versehenen Steg, über den man Zugang zu anlegenden Schiffen erlangt, die wegen der benötigten größeren Wassertiefe nur weiter draußen ankern können. Bereits vor Errichtung der heutigen Seebrücke gab es hier ein entsprechendes Bauwerk, das Ende des 19. Jahrhunderts entstand und auch als Seebrücke bezeichnet wurde. Allerdings war das ein wenig hochtrabend, denn eigentlich handelte es sich um nicht viel mehr als einen etwas größeren Steg. Er diente kleineren Zubringerbooten zum Anlegen, die die Aufgabe hatten, die Passagiere zu den voraus liegenden Dampfern zu bringen. Diesem Steg hatten Meerwasser, Eis und Schnee über die Jahre so zugesetzt, daß er im Jahre 1947, mittlerweile völlig marode, nur noch abgerissen werden konnte. Der ihm so viele Jahre später nachfolgende Neubau wurde dann ungleich größer.

Der Strand selbst unterscheidet sich eigentlich kaum vom Nordstrand in Prerow, sieht man einmal davon ab, daß hier in regelmäßigen Abständen lange Reihen von Holzpflöcken ins Wasser hineinragen. Diese sogenannten Buhnen dienen, ebenso wie Deich, Dünenwald und die Düne selbst, dem Küstenschutz. Bei heftigen auflandigen Winden betätigen sie sich als Wellenbrecher. Sowohl in westlicher als auch in östlicher Richtung reihen sie sich bis zum Horizont endlos aneinander. Doch ansonsten bietet sich mir dasselbe Bild. Auf die Bäume des hier recht schmalen Waldstreifens folgt die grasbewachsene Düne, an die sich der breite Sandstrand anschließt, an den die von den Buhnen gezähmten Wellen branden – oder branden würden, wenn es denn wenigstens ein kleines bißchen Wind gäbe. Doch der legt heute offenbar einen Ruhetag ein, so daß sich das Meer, wenn auch nicht spiegelglatt, so doch zumindest vollständig wellenlos präsentiert.

Buhnen am Strand von Zingst
Alles voller Pfosten hier – Buhnen am Zingster Ostseestrand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Die Pfeiler der Seebrücke, auf die ich mich nun begebe, sind allerdings nicht aus Holz. Sie bestehen aus solidem Stahl und sind tief in den sandigen Meeresboden hineingerammt worden. Wie das gemacht wird, habe ich zwei Tage zuvor in Prerow bereits beobachten können. So fühle ich mich denn auf den Planken der über den Wassern der Ostsee hinführenden Seebrücke ausgesprochen sicher, zumal zu ihren beiden Seiten aus dicken Holzbalken bestehende Geländer jegliches unvermitteltes Hinabfallen wirksam verhindern.

Es ist jetzt Mittag. Das behauptet jedenfalls meine Uhr. Doch da wir in Europa nach wie vor alljährlich den Unsinn der sommerzeitlichen Uhrenumstellung vollführen, hat die Sonne ihren höchsten Stand trotzdem noch nicht erreicht. Auf der Seebrücke sind zahlreiche Menschen unterwegs, die in beide Richtungen flanieren, die einen auf’s Meer hinaus, die anderen zurück gen Strand. Und doch sind es glücklicherweise nicht genug, um von einem Massenandrang sprechen zu müssen. Ganz im Gegenteil. Ganz gelassen und in Ruhe kann ich, ohne jemanden zu stören oder meinerseits von anderen gestört zu werden, langsam den langen Steg entlangwandern, immer wieder einmal stehen bleiben und den Ausblick zurück auf den Strand, die Düne, die Bäume und das Kurhaus genießen oder hinaus auf’s Meer schauen, wo sich die weitestgehend glatte Fläche des Wassers bis zum Horizont dehnt, dessen schnurgerade Linie in dem weiten Halbkreis von West über Nord nach Ost durch nichts unterbrochen wird, wenn man einmal von den weißen Windrädern des Offshore-Windparks Baltic 1, die natürlich auch hier zu sehen sind, und dem sich im Nordosten erhebenden Hiddenseer Schluckswiek absieht, der hier, wo die Entfernung zu ihm bereits etwas geringer ist, noch deutlicher zu erkennen ist als drüben in Prerow. Es ist ein gemütliches Bummeln auf diesem langen Steg, bei schönstem Wetter und in der Gelassenheit der Vorsaison, die es ermöglicht, die Seele baumeln zu lassen und das Hiersein einfach zu genießen.

Die gesamte Seebrücke entlang hat man in gleichmäßigen Abständen Lampen aufgestellt, die sie auch bei Dunkelheit begehbar machen. Jetzt, bei Tageslicht, benötige ich sie dafür allerdings nicht. Ich bin den langen Steg bereits ein Stück entlanggegangen, da fällt mir in einiger Entfernung voraus ein Gegenstand auf, beim es sich um ein einfaches, aufrecht stehendes Brett zu handeln scheint. Es hält sich, zusammen mit zwei Bänken, auf einer Plattform auf, zu der sich der Steg der Seebrücke für ein paar Meter erweitert. Frage ich mich zunächst, was es damit wohl auf sich haben mag, bemerke ich beim Näherkommen, daß sich etwa auf halber Höhe in der Oberfläche dieses Brettes eine Spirale befindet, die sorgfältig und ausgesprochen akkurat in sie hineingeschnitzt worden ist. Ihre Enden laufen in eleganten, weit geschwungenen Linien zu den beiden vertikalen Enden des Brettes hin aus, während sich in ihrer Mitte ein kreisrundes Loch befindet. Als ich schließlich direkt davorstehe, bemerke ich fasziniert, daß es keineswegs willkürlich in dem Brett positioniert worden ist. Seine Höhe ist exakt so gewählt, daß es, wenn man gerade hindurchblickt, von der Linie des Horizontes in zwei gleich große Halbkreise geteilt wird. In den Bögen der Spirale sind Buchstaben eingraviert. Von außen nach innen lese ich die Worte Zurück zur Quelle allen Seins.

Holzkunstwerk auf der Seebrücke in Zingst
Im Auge des Kunstwerks – diese geschnitzte Skulptur besticht durch ihre Einfachheit. Schnörkellos und doch effektvoll.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Dies ist auch der Name des Kunstwerkes, wie ich einem kleinen metallenen, am Geländer der Seebrücke angebrachten Schildchen entnehmen kann, das mir auch den Namen des Künstlers verrät: Roland Lindner. Kunstwerke dieser Art entdecke ich auf meinem Weg die Seebrücke entlang mehrere. Eines befindet sich ebenfalls auf der Plattform und hat die Form einer Kugel. Diese ist jedoch nicht geschlossen, sondern besitzt eine von oben nach unten verlaufende, geschwungene Öffnung, deren Kanten nach außen gewölbt sind, so daß sie ein wenig an geöffnete Lippen erinnern. Das zwischen ihnen sichtbare Innere ist mit übereinandergelegten Steinen verschiedener Größe angefüllt. Da auch einige dieser Steine auf dem Boden vor der Skulptur liegen, sieht es so aus, als habe sich die Kugel geöffnet und ihren Inhalt ins Freie purzeln lassen. Frucht des Lebens lautet der Name dieses Kunstwerks.

Ein anderes, das sich einige Meter vor der Plattform befindet, wirkt wie ein der Länge nach gespaltener Pfosten, dessen beide Teile auseinanderklaffen. Der so entstandene Spalt ist mit übereinandergelegten großen Steinen gefüllt. Und wieder taucht das Motiv des in Augenhöhe befindlichen Loches auf, durch das man durch das Kunstwerk hindurchsehen kann, diesmal in Form eines durchbohrten Steines. Sofort muß ich an einen Hühnergott denken, liege damit aber nicht ganz richtig, denn das auch hier vorhandene erklärende kleine Schild verkündet mir, daß ich den Abendgruß vom Sonnengott vor mir sehe, der ebenfalls dem Künstler Roland Lindner zu verdanken ist – wie im übrigen alle anderen Kunstwerke auf der Seebrücke auch.

Sie alle wurden sämtlich aus Treibholz geschnitzt. Steine wie die, die in einigen dieser Skulpturen das Schnitzwerk ergänzen, können hier an der Ostsee gefunden werden. Ganz ohne Zweifel verleihen diese Kunstwerke der ansonsten eher nüchtern wirkenden Seebrücke ein gewisses Flair. Ohne sie würde der lange Schiffsanleger lediglich wie der reine Zweckbau wirken, der er doch eigentlich ist.

Und dann habe ich es schließlich erreicht: das Ende der Seebrücke. Es wird von einer weiteren Plattform gebildet, die ebenso breit ist wie die vorige, etwa auf halber Länge gelegene. Und damit etwaige hier ankommende Schiffsreisende auch sofort wissen, wo sie sich befinden, ragen links und rechts des Zugangs zu der Plattform zwei hohen Metallstangen in die Höhe, zwischen denen in luftiger Höhe ein weißes Schild den Steg überspannt, auf dem in großen Lettern ZINGST zu lesen ist. Über dem Ortsnamen kann ich zwei einander zugewandte spitze Winkel erkennen, die zweifellos als stilisierte Darstellung zweier fliegender Seevögel zu interpretieren sind. Ich tippe auf Möwen. Aus der Nähe kann ich dann erkennen, daß sich auch unterhalb des Ortsnamens etwas befindet. Es ist ein in sehr viel kleineren Buchstaben gehaltener Marketing-Slogan, mit dem Zingst für sich wirbt: Halb Insel, halb Paradies. Zunächst bin ich versucht, darüber zu sinnieren, warum hier Insel und Paradies einander gegenübergestellt werden und warum wohl das eine das andere irgendwie auszuschließen scheint. Doch dann erinnere ich mich daran, daß es schließlich nur ein Werbespruch ist, und denke nicht mehr weiter darüber nach.

Auf der Seebrücke in Zingst
Das Ortseingangsschild von Zingst auf der Seebrücke.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Denn schließlich gibt es hier etwas zu sehen, daß ungleich interessanter ist als das Ortsschild. Links neben der Plattform, auf der einige Bänke zum Ausruhen müde gewordener Beine einladen, ragt ein dicker, stählerner Pfahl aus dem Wasser, dessen oberes Ende von einem helmartigen Aufsatz bekrönt wird, der entfernt an einen Tropenhelm erinnert. Oder an eine leicht flachgeklopfte Glocke. Der Pfahl selbst weist keine glatte Oberfläche auf und ist auch nicht rund, sondern besitzt einen Querschnitt in Form eines Polygons mit zehn oder zwölf Ecken, genau kann ich das von hier aus nicht erkennen. An der der Plattform direkt zugewandten Seite dieses Pfahls ist ein Aufsatz angebracht, der von oben nach unten verläuft und mit dem Pfahl im Wasser verschwindet. Flüchtig betrachtet sieht er aus wie eine Miniaturleiter, mit zahllosen dicht beieinanderliegenden Querstreben, die sich zwischen zwei vertikalen äußeren Leisten befinden. Es fällt nicht schwer, in diesem Aufsatz die Laufschiene für ein Zahnrad zu erkennen. Ich vermute, daß es auch auf der der Seebrücke abgewandten Seite des Pfahls eine solche Vorrichtung gibt. Offenbar kann mit ihrer Hilfe etwas diesen Pfahl hinauf- und hinunterfahren. Und richtig, als ich einen Blick über das Geländer hinunter zur Wasseroberfläche werfe, sehe ich, wie ein großes, glockenförmiges, stählernes Ungetüm gerade aus dem Wasser auftaucht und in quälender Langsamkeit den Pfahl nach oben strebt.

Ich habe die Zingster Tauchgondel vor mir. Zusammen mit der Seebrücke im Jahr 1993 eingeweiht, nimmt sie bis zu dreißig Besucher pro Tauchgang mit auf eine Reise in Tiefe. Vier Meter unter der Wasseroberfläche soll man so die Pflanzen- und Tierwelt der Ostsee aus der Nähe betrachten können. Klingt doch eigentlich ganz spannend, denke ich mir, und überlege, ob ich nicht eine Fahrt mitmachen soll, die, so heißt es, nur dreißig Minuten dauert. Als ich jedoch sehe, wie langsam die Tauchgondel unterwegs ist und wie lange sie braucht, bis sie schließlich oben angekommen ist und ihre Insassen hinaus ins Freie treten können, als ich ferner bemerke, wie lang die Schlange der Wartenden für die nächste Tour schon ist, und mir ausrechnen kann, daß ich vermutlich kaum bereits den nächsten Tauchgang mitmachen können werde, und als ich dann auch noch feststelle, daß dieser laut Ankündigung des „Fahrplans“ der letzte vor einer längeren Mittagspause sein würde, nehme ich von diesem Vorhaben Abstand. Lieber will ich, sobald sich der Trubel gelegt hat, den der Aus- und Einstieg der Besucher aus der beziehungsweise in die Gondel auf der Plattform verursachen, noch ein wenig die Ruhe hier auf der Seebrücke, über dem windstillen Meer und unter dem strahlend blauen Himmel mit der freundlich herablächelnden Sonne genießen.

Auf der Seebrücke in Zingst
Abstieg in die Unterwasserwelt – die Zingster Tauchgondel.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich lehne entspannt am Geländer auf der rechten Seite der Plattform und schaue den ungeduldig Wartenden und den nacheinander der Gondel Entsteigenden zu, die sämtlich aufgeregt durcheinanderschwatzen – die einen über das, was sie wohl gleich erwartet, die anderen darüber, was sie gerade erlebt haben. Zwei Frauen, die die Tauchgondel eben verlassen haben, bleiben in meiner Nähe stehen und beugen sich interessiert über das Geländer. Die eine streckt ihren Arm aus und zeigt aufgeregt nach unten.

„Da ist er!“, ruft sie aufgeregt aus.
„Wo?“, fragt die andere und blickt suchend nach unten.
„Na, da! Auf der Leiter! Dort hab‘ ich ihn unten vom Fenster aus gesehen!“

Offenbar haben sie auf ihrer Fahrt in die Unterwasserwelt irgendein Tier beobachtet, das sie nun, wo sie wieder auf der Seebrücke angekommen sind, noch einmal betrachten wollen. Meine Neugier ist geweckt, und so schaue auch ich interessiert über das Geländer nach unten. Direkt neben der Plattform, auf der ich stehe, befindet sich auf stählernen Pfosten eine zweite, niedrigere, zu der eine durch ein zweiflügeliges Gittertor versperrte Treppe hinabführt. Da diese zweite Plattform jedoch nicht über einen durchgängigen Boden verfügt, sondern lediglich aus großen Balken besteht, zwischen denen große Lücken klaffen, durch die ich das Meerwasser darunter sehen kann, erschließt sich mir ihr Zweck nicht so recht. Ich vermute allerdings, daß sie in irgendeiner Form den hier anlegenden Schiffen dient, auch wenn ich mir nicht genau vorstellen kann, wozu. Ich brauche eine kleine Weile, um die Leiter zu finden, die die eine der beiden Frauen erwähnt hat. Als ich sie schließlich entdeckt habe und erkennen kann, daß es sich um eine metallische Ab- und Aufstiegshilfe handelt, die an einem der Pfosten zur Wasseroberfläche hinabführt und vermutlich Wartungszwecken dient, ist es bereits zu spät. Gerade noch kann ich undeutlich einen fellbedeckten Körper im Wasser verschwinden sehen.

„Ach, schade! Jetzt ist er weg!“

Die Frau klingt merkbar enttäuscht. Ob sie wohl auf den Gedanken kommt, daß das Tier – welches auch immer es war – sich wegen ihres lauten Geschreis aus dem Staub gemacht haben könnte?

Die beiden starren noch eine Weile über das Geländer hinab in die Tiefe, doch das Tier läßt sich nicht mehr blicken. Nach einer Weile verlieren sie die Lust und machen sich auf den Weg zurück in Richtung Strand.

Mittlerweile hat sich die Plattform wieder etwas geleert, denn die Besucher, die auf den nächsten Tauchgang gewartet hatten, sind inzwischen alle eingestiegen. Der Mann, der an dem schmalen Zugangssteg die Tickets kontrolliert hatte, folgt ihnen hinein und verschließt die Tür der Tauchglocke von innen. Es dauert noch ein paar Minuten, dann setzt sich das Gefährt in Bewegung. Ebenso langsam, wie es zuvor aufgestiegen war, fährt es nun auch wieder hinab. So dauert es eine ganze lange Weile, bis es schließlich unter der Wasseroberfläche verschwunden ist.

Ich verzichte allerdings darauf, diesen doch vergleichsweise langweiligen Vorgang in seiner vollen Länge zu beobachten, denn ich habe vor der Seebrücke etwas ungleich Interessanteres entdeckt. Bereits bei meinem Eintreffen am Strand hatte ich in westlicher Richtung ein kleines Schiff bemerkt, daß dort in nicht allzu großer Entfernung vom Ufer entweder kreuzte oder vor Anker lag. Einzelheiten hatte ich allerdings nicht erkennen können. Auf meinem Weg die Seebrücke entlang war meine Aufmerksamkeit dann von anderen Dingen in Anspruch genommen worden, so daß ich nicht mehr weiter darauf geachtet hatte, zumal es sich ja sowieso nicht zu bewegen schien. Nun aber bemerke ich es auf einmal in unmittelbarer Nähe zur Seebrücke, auf die es jetzt zuzusteuern scheint. Es handelt sich um ein Schiff in der Größe einer kleinen Yacht, auf dem es allerdings kaum Platz zu geben scheint, um sich darauf aufzuhalten. Während sich im vorderen Drittel das Steuerhaus beziehungsweise die Brücke befindet, ist im hinteren Bereich ein kleineres Beiboot zu sehen, das dort auf dem Deck verankert ist. Darüberhinaus sind allerlei technische Aufbauten vorhanden. Ganz ohne Zweifel handelt es sich nicht um eine Yacht, sondern um einen kleinen Kreuzer. Sein Zweck wird mir sofort klar, als ich an der Seite das mir bereits hinlänglich bekannte Symbol der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger entdecke. Dies ist ein Seenotrettungskreuzer.

Als es in allernächster Nähe vor der Seebrücke vorüberfährt, kann ich den Namen des Schiffes lesen, der in schwarzen Buchstaben an der seiner Seite steht: Nis Randers. Ein merkwürdiger Name, denke ich. Was der wohl bedeutet? Und auch an dem kleinen Tochterboot[3]In der Umgangssprache bekannter ist die Bezeichnung „Beiboot“ für ein einem größeren Schiff beigegebenes Boot. Dieses kann allerdings normalerweise nicht selbständig operieren. Weil … [Weiterlesen], das ganz ohne Zweifel über einen eigenen Antrieb verfügt, ist ein solches Schild zu sehen. Der Name, der dort steht, ist nicht minder merkwürdig, auch wenn ich ihn im Gegensatz zu dem anderen durchaus kenne, denn dort ist einfach nur Uwe zu lesen. Im Augenblick kann ich mir keinen Reim darauf machen, doch interessieren mich die Hintergründe für diese Namensgebung hinreichend genug, um später ein wenig darüber in Erfahrung zu bringen.

Seenotrettungskreuzer vor der Seebrücke von Zingst
Nis Randers und Uwe – gemeinsam unterwegs zum Schutze der Menschen auf See.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nis Randers, so erfahre ich, ist die Titelfigur einer von Otto Ernst verfaßten Ballade über einen Seenotretter[4]Auf der Website Deutschland-Lese ist die Ballade Nis Randers von Otto Ernst zu finden. Weitergehende Informationen zum Schiff der Seenotretter sind auf deren Website seenotretter.de zu finden.. Es geht darin um eine Rettungsaktion, die der Titelheld gemeinsam mit einigen Gefährten unternimmt, um inmitten eines heftigen Sturms einen Schiffbrüchigen von einem vor der Küste gestrandeten Schiff zu holen und so vor dem sicheren Tod zu bewahren. Trotz des Flehens und Bittens seiner ihn zurückhalten wollenden Mutter, die ihren Mann ebenso wie einen Sohn bereits an das Meer verloren hat und sich um einen weiteren Jungen namens Uwe, der auf See verschollen ist, sorgt, macht er sich auf den Weg und riskiert sein Leben, weil er nicht anders kann. Es ist für ihn unvorstellbar, den Schiffbrüchigen um seiner eigenen Sicherheit willen sich selbst zu überlassen. So riskieren er und seine Mannen ihr Leben, wagen sich hinaus auf die aufgepeitschten Wogen, wo es ihnen, obwohl sie mehrmals dem eigenen Untergang nahe sind, gelingt, den Schiffbrüchigen zu retten. Und wie durch ein Wunder entdecken sie in ihm den verlorenen Sohn: „Sagt Mutter, ’s ist Uwe!“

Nun wird mir die Namensgebung beider Schiffe, des Kreuzers und seines Tochterbootes, unmittelbar klar. Seit dem Herbst 2021 sind sie zusammen auf dem Darß stationiert. Ihr Bau wurde ausschließlich durch Spenden, die aus dem ganzen Land eingingen, finanziert. Langsam zieht die Nis Randers an der Seebrücke vorüber und nimmt, wieder ein Stück entfernt, Fahrt auf, um ihre Patrouille fortzusetzen.

Da ich noch immer neugierig darauf bin, welches Tier sich wohl hier an der Zingster Seebrücke aufhalten mag, nehme ich meine frühere Position am Geländer auf der rechten Seite der Plattform wieder ein und schaue gespannt nach unten zu der Leiter. Die Minuten vergehen, doch nichts regt sich. Selbst das Wasser plätschert nur sacht gegen die stählernen Pfeiler. Ich übe mich in Geduld, genieße den durch nichts gehinderten Blick auf die Weite des Meeres, beobachte die Wolken, wie sie langsam ihre Bahn über den Himmel ziehen, schaue hinüber nach Nordosten, wo sich die Hügel des nördlichen Hiddensees über den Horizont erheben, und beobachte die Menschen, die langsam die Seebrücke entlang hierher geschlendert kommen, sich umsehen, ein paar Fotos von sich machen und wieder gehen. Die Zeit verstreicht, erst fünf Minuten, dann zehn, schließlich fünfzehn. Und gerade, als ich beginne, mir zu überlegen, ob ich das Warten nicht doch aufgeben und mich auf den Weg zurück zum Strand machen solle, da ich doch schließlich gar nicht weiß, ob das, worauf ich warte, überhaupt eintreten wird, vernehme ich ein Geräusch, das von unten zu mir heraufdringt. Ein Plätschern, das jedoch lauter als das der kaum vorhandenen Wellchen ist, die gegen die Pfeiler der Seebrücke schlagen. Gespannt schaue ich über das Geländer hinunter zum Fuß der Leiter. Zwei schwarze Knopfaugen schauen zurück.

Von dort, aus dem schattigen Zwischenraum zwischen Leiter und Pfeiler, schaut ein kleiner Geselle zu mir herauf – wie mir scheint, mindestens ebenso neugierig wie ich. Oder ist es Vorsicht? Einer von diesen Menschen könnte ja plötzlich herabgestiegen kommen. Und wer weiß, was die im Schilde führen… Unverwandt ist der Blick aus diesen schwarzen Augen auf mich gerichtet. Nur mit Mühe kann ich im Schatten das Gesicht des Tieres erkennen. Braunes Fell, eine schwarze Nase, die mich ein bißchen an die eines Hundes erinnert, dazu lange, seitlich abstehende Barthaare, wie sie auch Katzen haben, und sehr kleine Ohren. Zwei Pfoten ruhen auf der untersten Sprosse der Leiter, die sich über dem Wasser befindet. Fünf Zehen kann ich erkennen, jede ausgestattet mit einer kleinen Kralle. Der Rest des Körpers befindet sich noch unter der Wasseroberfläche und ist somit nicht zu sehen.

Nach einigen Minuten gespannten gegenseitigen Musterns beschließt das kleine Tier, daß ich wohl keine Gefahr bin, und wagt sich weiter vor. Behende klettert es, seinen Körper geschickt zwischen Leiter und Pfeiler klemmend, die Sprossen hinauf, bis es schließlich auf einer angekommen ist, an der Streben die Leiter mit dem Pfeiler verbinden und sie so an diesem befestigen. Dadurch entsteht eine etwas größere Fläche, die überdies bereits hoch genug über dem Wasser liegt, um von der Sonne erreicht werden zu können. Das kleine Tier, bei dem es sich nach meinem Dafürhalten um einen Fischotter handelt, dreht sich ein paar Mal um sich selbst, bis es eine gemütliche Position gefunden hat, in der es sich gut liegen und das Fell trocknen läßt, dann plaziert es seine Schnauze auf der seitlichen, der Sonne zugewandten Strebe und schließt beseelt die Augen. Endlich Ruhe!

Otter an der Seebrücke in Zingst
Ein Platz an der Sonne – Fischotter beim Sonnenbaden an der Seebrücke in Zingst.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Da ich bemerke, daß mein unentwegtes Hinabschauen über das Geländer Aufmerksamkeit zu erregen beginnt, so daß einige der Umstehenden neugierig zu werden scheinen, was es da unten denn wohl zu sehen gibt, wende ich mich von dem kleinen Kerl ab, da ich nicht möchte, daß seine wohlverdiente Ruhe gestört wird. Die Tauchglocke ist mittlerweile unter Wasser und somit nicht mehr zu sehen, das Seenotrettungsschiff ist nurmehr ein kleiner weißer Punkt, der sich weiter draußen auf dem Meer dahinbewegt, und die Menschen, die nach wie vor hier auf der Plattform am Ende der Seebrücke eintreffen, sich umschauen und wieder gehen, habe ich bereits hinlänglich beobachtet. So mache nun auch ich mich wieder auf den Weg und schlendere langsam den langen Steg zurück zum Strand.

Dort angekommen, entdecke ich auf dem Vorplatz, der sich vor der Seebrücke auf der Düne befindet, ein weiteres der hölzernen Kunstwerke Roland Lindners, das mir zuvor entgangen war. Es ist ebenfalls kugelförmig und weist auf der der Seebrücke zugewandten Seite auch eine völlig glatte Oberfläche auf. Als ich jedoch darum herumgehe, stelle ich fest, daß die andere, dem Land zugewandte Seite sehr zerklüftet ist. Ganz offensichtlich handelt es sich um eine knorrige Wurzel, die der Künstler mit viel Geschick in eine Kugelform gebracht hat. Das Leben ist Veränderung hat er es getauft. Leider ist es der Unsitte zum Opfer gefallen, der so viele frisch zusammengekommene Paare frönen, indem sie an allem, was auch nur entfernt mit einer Brücke zu tun hat und Möglichkeiten bietet, etwas zu befestigen, kleine Vorhängeschlösser anbringen, um aller Welt ihre unverbrüchliche Liebe und deren ewige Dauer zu verkünden. Wie bei so vielem, das in unserer heutigen Zeit plötzlich Mode wird, frage ich mich auch hier, worin dabei eigentlich der Sinn liegt. Zunächst wäre einmal festzuhalten, daß ein irgendwo angehängtes Vorhängeschloß aller Welt gar nichts bringt, da die darauf meist namentlich Verewigten ihr völlig unbekannt sind und sie diese somit auch nicht zu würdigen in der Lage ist. Doch davon einmal abgesehen, finde ich auch das mit einem solchen Schloß verknüpfte Symbol recht eigenartig. Was will es mir sagen? Natürlich, daß es nicht einfach nur Liebe ist – nein, die ewige Liebe soll es sein. Doch damit man sie auch ja nicht verliere, schließt man sie weg? Interessantes Konzept. Und noch dazu eines, daß offenbar nicht durchgängig funktioniert. Schaut man sich nämlich die einschlägigen Statistiken an, kann von ewiger Liebe in vielen Fällen kaum die Rede sein. Denn auch wenn die Zahl der Ehescheidungen in Deutschland seit Beginn der 2000er Jahre durchaus zurückgegangen ist, liegt sie dennoch immer noch recht hoch. Reichlich 137.000 waren es allein im Jahre 2022. Kommen die dann wenigstens zurück und montieren ihr Schloß wieder ab?

Aber darum ginge es doch gar nicht, mag man mir nun entgegenhalten. Das Motiv wäre doch vielmehr, daß das ganz wunderbar romantisch sei. Und dafür fehle mir wohl ganz offenbar der Sinn. Nun, vielleicht ist das so. Vielleicht ist aber auch mein Sinn für Romantik einfach nur nicht in erster Linie darauf ausgerichtet, mich in die Öffentlichkeit zu drängen und mich dieser selbst darzustellen, ob es sie nun interessiert oder nicht. Für mich ist Romantik eher mit Zweisamkeit, der Konzentration auf den Partner und dem Füreinander-da-sein verbunden, mit Stille und Zurückgezogenheit. Die Öffentlichkeit hat da eher wenig verloren. Doch da ist noch ein anderer Aspekt, der mich an dieser Schlössermode stört und vermutlich mit dem Drang zur Selbstdarstellung eng verknüpft ist. Denn wo werden diese Schlösser denn angebracht? Nicht etwa am eigenen Gartentor, der eigenen Haustür oder in sonst einem privaten Raum. Es werden stattdessen historische Bauwerke damit behängt, die oft ihren eigenen ästhetischen Reiz sowie architektonischen wie künstlerischen Wert haben. Oder man verunziert – wie in diesem Fall – Kunstwerke damit. In jedem Fall mißachtet man dabei das Werk des jeweiligen Architekten beziehungsweise Künstlers, indem man es für seine eigenen unmaßgeblichen Zwecke – nun ja – zweckentfremdet. Und dem kann ich dann so gar nichts abgewinnen und empfinde es als störend und ignorant, keineswegs aber romantisch. Und dabei ist von der möglichen Beschädigung des jeweiligen Bau- oder Kunstwerks noch nicht einmal die Rede.

Es mag sein, daß dieser spezielle Fall anders liegt, und der Künstler, der diese Wurzel gestaltet hat, die Praxis, daran Liebesschlösser anzubringen, ausdrücklich begrüßt. Ich weiß es nicht, man müßte ihn fragen. Der Titel der Skulptur scheint mir darauf jedoch keinen Hinweis zu geben, es sei denn, man läßt das Behängen des Kunstwerks mit Schlössern als dessen Veränderung durch das Leben gelten. Nun ja. Doch selbst, wenn dem so sein sollte – soweit wie eine Beschreibung der Seebrücke und der darauf aufgestellten Skulpturen, die mir untergekommen ist und davon spricht, daß Liebende mit diesen Schlössern dieses Kunstwerk mitgestalten, würde ich dennoch nicht gehen[5]Zu finden ist diese Beschreibung auf der Website Fischland-Darß-Zingst., ist doch dieses bunte Sammelsurium Metallschrott, das man an die Wurzeläste gekettet hat, weder besonders schön noch sehenswert.

Wieder an Land angelangt, überlege ich, was ich als nächstes tun soll. Da es mittlerweile früher Nachmittag ist und ich ein leichtes Leeregefühl in der Magengegend verspüre, erscheint mir die Aussicht auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen nicht nur angemessen, sondern auch verlockend. An dem großen, halbrunden Platz am Ende der Strandstraße kann ich kein Café entdecken, das mir auf den ersten Blick zusagt, doch erinnere ich mich, ein solches am Fischmarkt zuvor gesehen zu haben. So mache ich mich auf den Weg dorthin, wobei ich allerdings nicht die Strandstraße, sondern die im weitesten Sinne parallel zu ihr verlaufende Klosterstraße wähle, die gemeinsam mit ersterer den alten Rettungsschuppen einrahmt. Sie führt ebenfalls auf den Fischmarkt und trägt, wie ich bereits weiß, an ihrem hinteren Ende sogar ein Stück seinen Namen. Nachdem ich ein paar Geschäfte und ein großes, gut besuchtes Eiscafé, in dem es keinen freien Platz mehr gibt, hinter mir gelassen habe, führt die Straße zwischen sich zu beiden Seiten aneinanderreihenden Grundstücken hindurch, auf denen von Gärten umgebene Einfamilienhäuser stehen. Als ich allerdings den als Fischmarkt bezeichneten Teil der Straße erreicht habe, säumen Restaurants ihre Seiten. Schließlich öffnet sich zur Rechten hin ein Platz, hinter dem ich die mir bereits hinlänglich bekannte Strandstraße wiederfinde. Ich bin am eigentlichen Fischmarkt angekommen.

Das Café, das ich zuvor bereits bemerkt hatte, erweist sich bei näherer Betrachtung als Restaurant, das den malerischen Namen Zum Klabautermann trägt. Da ich durch die Fenster im Inneren bereits Gäste an den Tischen sitzen sehen kann, trete ich ein, ohne weiter auf die Öffnungszeiten zu achten, und suche mir einen freien Tisch am Fenster. Ich lege ab, setze mich und werfe einen eher oberflächlichen Blick in die Karte. Meiner Erfahrung nach sind die verfügbaren Kuchensorten in Cafés und Restaurants sowieso ein sich täglich änderndes Angebot, für das man in der Speisekarte lediglich den Hinweis vorfindet, man möge sich in der einschlägigen Vitrine selbst ein Bild machen oder sich beim Kellner erkundigen. Es dauert nicht lange, da steht eine Kellnerin neben mir und fragt nach meinem Begehr. Auf meine Bitte um eine Tasse Kaffee und meine Frage, welche Kuchensorten denn zu haben seien, teilt sie mir lakonisch mit, daß es dafür noch zu früh sei. Kaffee und Kuchen könne ich erst in einer knappen halben Stunde bestellen, wenn im Restaurant Kaffeezeit sei.

Natürlich sehe ich meinen Fehler unverzüglich ein. Einfach so eine halbe Stunde vor der Kaffeezeit zu erscheinen und nach Kaffee und Kuchen zu fragen – das geht nun wirklich nicht. Wo kämen wir denn da hin, wenn ein jeder einfach so bestellte, wonach ihm gerade ist? Das wären ja ganz neue Moden. Das absolute Chaos bräche aus. Wie sollte man denn da noch erfolgreich ein Restaurant betreiben? Am Ende müßte man gar noch Kundenservice einführen! Das geht nun wirklich nicht. Zerknirscht bedanke ich mich für die Auskunft und teile reuig mit, daß ich als Gast natürlich gedächte, auf diese Regel unbedingt Rücksicht zu nehmen. Ich würde dann nichts bestellen und wieder gehen. Und das tue ich dann auch.

Kaffee und Kuchen in durchaus guter Qualität bekomme ich dann nur wenige Minuten später bei der auf der anderen Seite des Platzes ansässigen Bäckerei Junge, in der man von einer speziellen Kaffeezeit ganz offensichtlich noch nichts gehört hat und einfach den ganzen Tag über Kaffee ausschenkt und dazu Kuchen verkauft. Zwar muß ich mir beides selbst an der Theke abholen, dafür ist das Stück Kuchen von überdurchschnittlicher Größe und ausgesprochen lecker. Und auch der Kaffee kann sich durchaus sehen beziehungsweise trinken lassen. Zu guter Letzt ist es dann vermutlich auch noch kostengünstiger als im Klabautermann.

Als ich dann frisch gestärkt wieder auf dem Fischmarkt ins Freie trete, lenke ich meine Schritte noch einmal die Strandstraße entlang in Richtung Norden, zurück zur Seebrücke. Mittlerweile ist es halb drei Uhr am Nachmittag und ich habe beschlossen, den Weg zurück nach Prerow zu Fuß zurückzulegen. Direkt am Übergang zur Seebrücke war mir zuvor auf dem Deich ein Wegweiser aufgefallen, dem ich entnehmen konnte, daß die Entfernung bis zu der mir bereits bekannten Hohen Düne nur 5,9 Kilometer betragen würde, wenn ich nur immer geradeaus den Deich entlangwanderte. Da das Wetter unverändert schön ist und ich auf meiner Besuchsliste für Zingst keinen offenen Punkt mehr verzeichnet habe, will ich mich nun also auf den Weg machen.

Der Deich in Zingst
Bis zur Unendlichkeit – und noch viel weiter. Auf dem Deich verliert sich der Weg nach Prerow in der Ferne.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Einige Minuten später stehe ich neben dem Wegweiser auf dem Deich. Links verläuft vor einer Zeile knallgelber Häuser die Seestraße, rechts stehen die Bäume des Dünenwaldes, der hier lediglich einen schmalen Streifens bildet. Dazwischen führt der breite, asphaltierte Weg die Deichkrone entlang in die Unendlichkeit, zu beiden Seiten von den sanft abfallenden Hängen des dem Küstenschutz dienenden Bauwerks gesäumt.

Ich gehe los. Der Deich verläuft über weite Strecken schnurgerade. Es liegt in der Natur der Sache, daß der Weg es ihm gleichtut und somit selbst nicht allzu viel Abwechslung bietet. Auch der Dünenwald rechts ändert sein Aussehen praktisch nie. Nur auf der linken Seite gibt es immer wieder etwas anderes zu sehen, da sich dort die die Seestraße säumenden Häuser abwechseln. Auf dem Weg selbst sind, solange ich mich noch in Zingst befinde, jede Menge Leute unterwegs, viele mit dem Rad, zahlreiche aber auch zu Fuß. Als ich das Ende der Seestraße und ihre Einmündung in die sich von links nähernde Straße Am Bahndamm erreiche – hier war ich am Vormittag mit dem Bus nach Zingst hineingefahren -, fällt mir links ein Etablissement auf, das sich in einem Flachbau direkt am Deich befindet und ein Restaurant mit Biergarten zu sein scheint, in dem sich angesichts der kühlen Temperaturen allerdings keine Leute aufhalten. Ein an dem Gebäude angebrachtes Schild tut mir kund, das hier der Schnitzel-Kaiser höchstpersönlich zu Tisch bittet. Allerdings sieht es ein wenig so aus, als habe es jemand etwas ungelenk mit der Hand beschrieben. Die Buchstaben weigern sich strikt, sich in der Mitte des Schildes aufzuhalten, und drängen stattdessen an dessen linken Rand, als wollten sie dort zur Hauswand überlaufen. Auch werden sie zum Ende des Namens hin immer kleiner. Ein Ausdruck irgendwie sympathischer Unvollkommenheit.

Mit der Straße Am Bahndamm folgt nun auch die einstige Trasse der Darßbahn dem Deich. Zumindest nehme ich das an, denn zu sehen ist sie nirgends. Das allerdings verwundert auch nicht, denn seit der Stillegung der Bahnlinie sind ja bereits mehrere Jahrzehnte vergangen und das Gelände wurde überbaut. So ist auf der jenseitigen Straßenseite zunächst ein großer Parkplatz zu sehen, hinter dem sich die Häuser des Ortes fortsetzen. Diese enden jedoch gemeinsam mit ersterem, als ein gelbes Schild neben der Straße das Ortsende verkündet. Dahinter schließt sich am Straßenrand dichtes Gebüsch an. Als es sich einige Meter weiter ein wenig lichtet, tritt nun auch der alte Bahndamm unter den Bäumen deutlicher zutage.

Die Zahl der Menschen, die auf dem Deich unterwegs sind, hat hier bereits rapide abgenommen. Fußgänger sehe ich, abgesehen von mir selbst, keine mehr. Hin und wieder überholt mich ein Radfahrer oder es kommt mir einer entgegen. Den kann ich dann bereits schon mehrere Minuten im voraus auf mich zufahren sehen, da der Deich nach wie vor schnurgerade verläuft. Mein Weg wird nur hin und wieder durch einen Übergang unterbrochen, der sich im Dünenwald rechts von mir zu verlieren scheint, von wo er jedoch weiter zum Strand führt. Links Bäume, Büsche und eine Straße, rechts Bäume, dazwischen der sich in der Unendlichkeit verlierende Deich – alles in allem ist das eine recht eintönige Angelegenheit, die das Wandern langweilig macht. So könnte man meinen. Ich empfinde das allerdings nicht so. Bereits seit dem Ende des Ortes bin ich über weite Strecken allein auf dem Deich unterwegs und habe mich in eine gewisse Gleichmäßigkeit der Schritte hineingelaufen. Ohne noch groß darüber nachzudenken, setze ich unentwegt einen Fuß vor den anderen und halte ein schnelles, doch gleichmäßiges Tempo. Fast scheint es mir, als befände ich mich in einem leichten Laufrausch. Meine Gedanken gehen auf Wanderschaft, ich denke über dies und das nach und zähle nebenbei die Überwege, die ich passiere, während ich auf dem Deich unterwegs bin. Jede dieser Passagen hat man nämlich fein säuberlich mit einer Nummer versehen, die jeweils auf einem großen Schild angegeben ist. Was Kennzeichnung, Numerierung und Katalogisierung angeht, da sind wir in Deutschland immer noch einsame Weltspitze. Allerdings war es vermutlich nicht nur übertriebener Hang zur Bürokratie, der hier am Werk gewesen ist. Diese Nummern haben ganz sicher auch einen Zweck. Davon dürfte der, bei einem Notruf im Falle eines Unfalls am Strand oder im Wasser der Ostsee die eigene Position möglichst genau angeben zu können, nicht der unwichtigste sein.

Nach einer Weile erreiche ich den Abzweig, an dem die aus Zingst kommende Straße Am Bahndamm die Umgehungsstraße erreicht. Mein Weg führt weiter den Deich entlang, der immer noch vordergründig geradeaus führt und nur hin und wieder einmal eine leichte Biegung nach rechts oder links macht. Irgendwann passiere ich die mitten im Nirgendwo am Straßenrand gelegene Bushaltestelle Prerow Hertesburg, wenig später werden die Bäume auf der linken Seite lichter, so daß ich zwischen den Stämmen das Wasser des sich nähernden Prerower Stroms blinken sehen kann. Ich habe die schmale Landenge zwischen diesem und der Ostsee erreicht. Nun sind es nur noch einige Meter, bis mir dort, wo der Deich endet, ein weiterer Wegweiser, der an dem Strandübergang kurz vor der Hohen Düne steht, den Weg zurück nach Zingst zeigt. 6,2 Kilometer sollen es ihm zufolge bis ins Ostseeheilbad sein. Interessant. Dreihundert Meter mehr als von Zingst zur Hohen Düne. Wie das wohl kommt? Ob man von hier aus bis zur Zingster Ortsmitte gemessen hat? Ich weiß es nicht.

Wegweiser an der Prerower Hohen Düne
Ein Mysterium: von der Hohen Düne nach Zingst sind es dreihundert Meter mehr als umgekehrt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Da ich den Weg nach Prerow hinein bereits am Tag zuvor über den Strand genommen habe, wähle ich heute die Strecke durch den Dünenwald. Zunächst muß ich zur Hohen Düne und an dieser vorbei, bis ich den charakteristischen Prerower Wegweiser erreiche, den ich ebenfalls schon am Vortag bemerkt hatte. Hier biege ich nun in den Weg ein, der an dieser Stelle auf die Landstraße einmündet. Er bringt mich hinter dem großen Gelände der Ostseeklinik Prerow entlang durch den Dünenwald und endet an einem weiteren Strandübergang. Hier beginnt ein neuer Deich, der interessanterweise jedoch nicht parallel zur Küste verläuft, sondern eine Richtung landeinwärts einschlägt. Was zunächst ungewöhnlich erscheint, erklärt sich jedoch bald, als mir klar wird, daß es sich um eben jenen Deich handelt, der zunächst den Prerower Strom überquert, um diesen anschließend, einen weiten Bogen schlagend, bis an dessen Ende zu begleiten, um so den Ort vor den Wassern des Meeres zu schützen. Und richtig – nach wenigen hundert Metern passiere ich die Märchenhütte und überquere kurz darauf den Strom. Nun dauert es nicht mehr lange, bis ich im Ort und wenig später in meiner Pension angekommen bin.

Doch noch ist der Tag nicht vorüber. Ein, zwei Stunden Ruhe und ein Abendessen später bin ich dann wieder fit genug für einen kleinen Abendspaziergang zum Strand. Ist mein Plan zunächst, dort den Sonnenuntergang zu bewundern, erfährt dieser eine kleine Änderung, als ich auf dem Prerower Hauptübergang am Strom ankomme. Der tagsüber meist gut mit Menschen angefüllte Weg ist um diese Zeit – die Uhr zeigt kurz nach sieben – nur noch spärlich besucht. Die Bänke zu beiden Seiten des Weges, von denen man einen wunderbaren Blick auf die friedliche Wasserfläche des Seegatts und dessen schilfbewachsene Ufer hat, sind nahezu alle unbesetzt. So beschließe ich, hier ein wenig zu verweilen und die abendliche Ruhe, die sich bereits über den Strom gesenkt hat, zu genießen. Meine Wahl fällt auf die Westseite, wo hinter den Bäumen am jenseitigen Ende die Sonne langsam zum Horizont hinuntersinkt.

Der langsam heraufziehende Abend hat den Himmel bunt eingefärbt. Dieser präsentiert eine reichhaltige Farbpalette, die von einem zarten Himmelblau im Zenit über ein kräftigeres Blau bis zu einem feurigen Orange-Rot in der Nähe des westlichen Horizonts reicht, wo es aussieht, als stünde irgendwo ganz weit hinten der Wald in Flammen. Über diese Farbenpracht sind kleine und große Wolken verstreut, die sich hier und da auch einmal zu größeren Wolkenfeldern zusammengetan haben. Diese sind offenbar so stark verdichtet, daß sie es dem Licht nicht mehr erlauben, sie zu durchdringen. Wie in tiefe Schatten getaucht schweben sie über dem Strom auf mich zu, dessen Wasserfläche, von keinem Lüftchen gekräuselt, wie ein ebenerdiger Spiegel wirkt, in dem sich kopfunter eine zweite Welt zu befinden scheint. Wenn ich nur lange genug in diesen Spiegel hineinschaue, gewinne ich den Eindruck, ich müßte mich nur kopfüber hineinstürzen, um direkt in diese andere Welt zu gelangen.

Abenddämmerung am Prerower Strom
Abendliche Welt im Spiegel – Dämmerung am Prerower Strom.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Die Zweige der Bäume um mich herum sind immer noch kahl, so als wollten sie abwarten, ob der aufkommende Frühling die Rückzugsgefechte, die der Winter noch gegen ihn führt, auch wirklich nachhaltig gewinnt. So fällt es schwer, die jeweilige Baumart zu identifizieren, sieht man einmal von den Erlen ab, die sich mit ihren kleinen, tiefschwarzen, vom Vorjahr übriggebliebenen Zapfen deutlich zu erkennen geben. Doch halt, da ist doch ein Baum, der seine kahle Zurückgezogenheit bereits aufzugeben beginnt. An einem Zweig entdecke ich vier kleine Kätzchen – Blütenstände, die von zartem, hellgrauem Flaum umgeben sind, aus dem kleine Spitzen wie Nadeln herausstechen, an deren Enden winzige gelbe Punkte zu sehen sind. Diese kleinen Weidenkätzchen kündigen wie freundliche Boten den nahenden Frühling an, noch bevor die Weide, an deren Zweigen sie sacht in der Abendluft schaukeln, auch nur ein einziges Blatt hervorgebracht hat.

Weidenkätzchen am Prerower Strom
Vorboten des nahenden Frühlings – Weidenkätzchen an einem Zweig.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich bleibe eine ganze lange Weile auf der Bank am Rand des Stroms sitzen und genieße den Frieden und die Stille um mich herum. Weiter und weiter sinkt die Sonne, bis sie so tief steht, daß ihre Strahlen unterhalb eines großen Wolkenfeldes hervorbrechen. Von einem Moment zum anderen scheint der Himmel in Flammen zu stehen, und das nicht nur einmal, sondern dank des großen Spiegels vor mir gleich zweimal. Feuer von oben und Feuer von unten und dazwischen der tiefschwarze Streifen des Waldes, ebenfalls zweigeteilt in Bäume, die aufwärts wachsen, und andere, die nach unten zu streben scheinen. Es ist ein faszinierendes Panorama, das die Natur vor meinen Augen entrollt, wie ein Schauspiel aus einer wunderbaren Welt der Fantasie.

Sonnenuntergang am Prerower Strom
Entflammter Himmel am Prerower Strom.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Plötzlich höre ich hinter mir aufgeregtes Schnattern. Doch noch bevor ich mich nach dem mir nur allzu bekannten Geräusch umdrehen kann, schwebt ein dunkler Schatten über mich hinweg und vor mir auf den Strom hinaus. Eine einzelne, verspätete Graugans fliegt in die heimatlichen Gefilde ein und kündigt den im Schilf vermutlich verborgenen Artgenossen ihr Kommen an. Von irgendwo weiter entfernt ist tatsächlich eine Antwort zu hören. Die Gans lenkt ihren Flug unverzüglich in die entsprechende Richtung und ist, da sich die abendlichen Schatten inzwischen schon recht weit aus dem Wald heraus- und auf die Wasserfläche hinausgewagt haben, bald meinen Blicken wieder entschwunden.

Diese Störung der abendlichen Ruhe hat jedoch auch mich aus meinem Sinnen gerissen, so daß ich beschließe, meinen Weg in Richtung Strand fortzusetzen. Angesichts der zahlreichen Wolken bezweifle ich zwar, daß es möglich sein wird, die Sonne hinter den Horizont sinken zu sehen, doch auf einen schönen Abendhimmel über dem Meer darf ich wohl nach dem, was sich hier bereits meinen Augen geboten hat, allemal hoffen.

Diese meine Hoffnung wird tatsächlich nicht enttäuscht. Bereits oben auf der Düne ist der entflammte Himmel in all seiner Pracht zu bewundern. Die Sonne wird von den Wolken vollständig verborgen, doch haben diese ein großes Stück des sich über mir wölbenden Firmaments freigelassen, das in allen leuchtenden Farben zwischen knalligem Gelb und feurigem Rot erstrahlt und die es einrahmenden Wolken dafür um so dunkler erscheinen läßt. Das Meer ist noch immer völlig ruhig und eben. Nicht eine Welle läßt sich blicken.

Sonnenuntergang am Prerower Nordstrand
Entflammter Himmel an der Ostsee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Weiter unten am Strand stehen die Strandkörbe verträumt im Sand. Tagsüber von Menschen gut besucht, sind sie nun allesamt leer und verlassen. Im abnehmenden Licht des Tages werden sie nach und nach von den um sich greifenden Schatten verschluckt. Es dauert eine Weile, bis mir bewußt wird, daß das Verlöschen des Lichtes nicht allein dem anhaltenden Sinken der Sonne hinter dem Horizont geschuldet ist, sondern daß auch die Wolken mehr und mehr den Himmel erobern und seine freien Stellen weiter und weiter zurückdrängen. Stumm stehe ich am Ufer des Meeres und schaue zu, wie die Nacht den müden Tag zur Ruhe bringt, bis es schließlich nahezu dunkel ist.

In vollkommener Gelassenheit und innerem Frieden mache ich mich auf den Rückweg, zurück durch den Dünenwald, wandle über den Strom und durch die Straßen des Ortes, in denen mittlerweile kleine Straßenlampen entzündet worden sind, die winzige Inseln des Lichts in die Nacht legen, um abendlichen Spaziergängern wie mir den Weg zu weisen. In mir ist nur noch Ruhe, die Hektik des Alltagslebens in der Großstadt scheint mir in weitester Ferne und ich genieße das Gefühl völliger Entspannung. Ich sollte mir mehr Zeit für Abende wie diesen nehmen…

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Referenzen

Referenzen
1 Auf der Suche nach einer Erklärung finde ich auf verschiedenen Seiten im Internet und auch in den sozialen Netzwerken Fotos, die die von Marc Moser geschaffene Brille mal am Strand und mal am Zingster Hafen zeigen. Offenbar hat sie unmittelbar gar nichts mit dem Fotografie-Zentrum zu tun, sondern wechselt einfach immer mal wieder ihren Standort. Und sie hat sogar einen Namen: Sea Pink II. Sie soll, so heißt es in einer Beschreibung, dazu einladen, die Welt durch einen rosaroten Filter zu betrachten, denn ihre Brillengläser sind von eben dieser Farbe. Nun ja. Für mich ist das etwas zu gewollt.
2 HO stand in der DDR für Handelsorganisation. Das war ein staatliches Unternehmen des Einzelhandels, das mit der Bandbreite der von ihm angebotenen Waren und der ihm unterstehenden Läden alle Bereiche des privaten Lebens umfaßte, von Lebensmitteln bis zu Haushaltswaren.
3 In der Umgangssprache bekannter ist die Bezeichnung „Beiboot“ für ein einem größeren Schiff beigegebenes Boot. Dieses kann allerdings normalerweise nicht selbständig operieren. Weil die von den deutschen Seenotrettern verwendeten „Beiboote“ dazu allerdings in der Lage sind und auch ganz allein unterwegs sein können, werden sie von ihnen eher als Tochterboote bezeichnet (auch wenn sie einen männlichen Namen erhalten haben). Mittlerweile hat sich dieser Begriff für diese Art „Beiboote“ sogar international durchgesetzt. Für diese Erklärung danke ich erneut Christian Stipeldey, dem Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS).
4 Auf der Website Deutschland-Lese ist die Ballade Nis Randers von Otto Ernst zu finden. Weitergehende Informationen zum Schiff der Seenotretter sind auf deren Website seenotretter.de zu finden.
5 Zu finden ist diese Beschreibung auf der Website Fischland-Darß-Zingst.

Doch mal pünktlich! – Also fast…

Dieser Beitrag ist Teil 4 von 6 der Beitragsserie "Aus den Notizen eines Bahnfahrers"
Aus den Notizen eines Bahnfahrers (IV)

Wenn man die deutsche Bahn für ihre Probleme, die sie ihren Kunden derzeit so oft bereitet, kritisiert, dann muß man fairerweise auch erwähnen,  wenn etwas einmal besser läuft.

Und so will ich nicht versäumen zu vermelden,  daß ich meinen ICE heutigentags in Köln nicht nur trotz Verspätung des Zubringerzuges noch erreicht habe und er auch noch auf die Minute pünktlich abgefahren ist,  sondern daß er es überdies fast geschafft hat, pünktlich in Berlin anzukommen.  Fast. Ganze elf Minuten Verspätung nur auf dieser langen Strecke quer durch Deutschland – das passiert nicht oft. Bravo!

Auch wenn, was man so hört, die Schweizer Bahnen das absurd finden mögen – sie sollen ja sagenhaft pünktlich verkehren -, ich bin hinsichtlich der hiesigen Verhältnisse regelrecht begeistert. Auch wenn die Wagenreihung wieder mal umgedreht war. Aber man kann halt heutzutage nicht alles haben…

A good traveller has no fixed plans and is not intent on arriving. (Lao Tzu)

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