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Doch mal pünktlich! – Also fast…

Dieser Beitrag ist Teil 4 von 4 der Beitragsserie "Aus den Notizen eines Bahnfahrers"
Aus den Notizen eines Bahnfahrers (IV)

Wenn man die deutsche Bahn für ihre Probleme, die sie ihren Kunden derzeit so oft bereitet, kritisiert, dann muß man fairerweise auch erwähnen,  wenn etwas einmal besser läuft.

Und so will ich nicht versäumen zu vermelden,  daß ich meinen ICE heutigentags in Köln nicht nur trotz Verspätung des Zubringerzuges noch erreicht habe und er auch noch auf die Minute pünktlich abgefahren ist,  sondern daß er es überdies fast geschafft hat, pünktlich in Berlin anzukommen.  Fast. Ganze elf Minuten Verspätung nur auf dieser langen Strecke quer durch Deutschland – das passiert nicht oft. Bravo!

Auch wenn, was man so hört, die Schweizer Bahnen das absurd finden mögen – sie sollen ja sagenhaft pünktlich verkehren -, ich bin hinsichtlich der hiesigen Verhältnisse regelrecht begeistert. Auch wenn die Wagenreihung wieder mal umgedreht war. Aber man kann halt heutzutage nicht alles haben…

Strandung knapp vermieden

Dieser Beitrag ist Teil 3 von 4 der Beitragsserie "Aus den Notizen eines Bahnfahrers"
Aus den Notizen eines Bahnfahrers (III)

Eine Fahrt von Trier nach Berlin ist überaus – nun, nennen wir sie: interessant.

Zunächst einmal gibt es derzeit keine direkte Verbindung. Früher verband die beiden Städte mal ein ICE, doch das ist vorbei.

Jetzt hat man die Wahl zwischen einmal und zweimal umsteigen. Interessant dabei ist, daß, wer auf die möglichst geringe Anzahl Umstiege optimiert, länger unterwegs ist. Denn die Fahrt geht zunächst nach Mannheim.

Nun weiß der geübte Bahnfahrer, daß es bei der deutschen Bahn durchaus von Vorteil sein kann, möglichst wenig umzusteigen, da es die Chance auf verpaßte Züge reduziert. Es sei denn, man vertraut darauf, daß die Bahn ihr neues Konzept zur Vermeidung verpaßter Anschlüsse konsequent umsetzt.

Ich tat das zwar nicht, entschied mich allerdings trotzdem für eine Verbindung mit zwei inklusiven Umstiegen, einer in Koblenz,  der andere in Köln. Der Grund war ganz einfach: bei fast acht Stunden Reisezeit wollte ich die Fahrt nicht noch unnötig verlängern.

Kurz vor Antritt der Fahrt entschloß ich mich aufgrund des bereits erwähnten, nicht vorhandenen Vertrauens dazu, es doch zu tun. Aber nicht, indem ich nach Mannheim fuhr – das hätte mich meiner zwei Sitzplatzreservierungen verlustig gehen lassen -, sondern indem ich vorsichtshalber den Zug nach Koblenz eine Stunde früher nahm. Da ich auf dieser Strecke ohnehin nur mit einem reservierungslosen Regionalexpreß unterwegs sein würde, spielte es keine Rolle, mit welchem Zug ich fuhr.

Daß diese Vorsichtsmaßnahme angemessen war, bewies mir die Bahn gleich einmal damit, daß der Zug zwar pünktlich ankam, aber bei der Abfahrt bereits fünf Minuten Verspätung hatte.

Natürlich holte der Zug die Verspätung nicht mehr auf. Er baute sie eher noch auf acht Minuten aus. Doch ich hatte ja nun Zeit. Wie ich später der Anzeigetafel im Koblenzer Bahnhof entnehmen konnte,  hatte auch der Zug, den ich eigentlich nehmen sollte, mehrere Minuten Verspätung.  Da wäre es bei einer planmäßigen Umsteigezeit von 17 Minuten möglicherweise knapp geworden. Sie kriegen es bei der Bahn offenbar einfach nicht hin, pünktlich zu sein.

Doch sie hatten dafür vorgesorgt. Gemäß ihrem neuen Konzept spendierte die Bahn meinem Anschlußzug auch zehn Minuten Verspätung. Zumindest laut Anzeigetafel. In der App waren es dann schon 14, was am Ende eher der Realität entsprach.

So bin ich nun glücklich nach Köln unterwegs, stets inständig hoffend, daß der Zug seine Verspätung nicht noch ausbaut und so meine 43 Minuten Umsteigezeit, die bereits auf 29 Minuten geschrumpft sind, weiter reduziert und gar komplett aufbraucht. Denn als Grund für die Verspätung wurde in Koblenz eine „Reparatur am Zug“ angegeben.

Und daß diese nicht unproblematisch ist, konnte der geneigte Fahrgast einer interessanten Laufschrift entnehmen, die am Bahnhof durch die Anzeige tickerte. Dort war nämlich zu lesen, daß der Intercity nach Dresden, mit dem ich nach Köln unterwegs sein würde, heute an den folgenden Bahnhöfen nicht halten würde: Braunschweig, Magdeburg,  Halle ( Saale), Leipzig, Dresden-Neustadt und zu guter Letzt Dresden Hauptbahnhof.  Das aber bedeutet schlicht nichts anderes, als daß der Zug nach Dresden gar nicht mehr nach Dresden fahren, sondern seine Reisenden in Hannover stranden lassen würde.  Grund auch hier: eine „Reparatur am Zug“.

Mal davon abgesehen,  daß ich am Bahnhof in Koblenz nur ein einziges Mal eine auf diesen nicht ganz uninteressanten Umstand hinweisende Durchsage hören konnte, so daß später eintreffende Reisende nur davon Kenntnis erhielten, wenn sie noch einmal aufmerksam auf die Anzeigetafel schauten, frage ich mich immer noch, warum ein Zug, der laut Angabe des Verspätungsgrundes doch repariert wurde, so daß er seine Fahrt – zum Glück für mich – nicht ganz abbrechen muß, nicht in der Lage ist, sein eigentliches Ziel zu erreichen. Und wenn dem so ist, woher weiß man dann so genau, daß er ausgerechnet bis Hannover noch durchhalten wird? Fragen über Fragen…

Wie die Bahn neuerdings verpaßte Anschlüsse vermeidet

Dieser Beitrag ist Teil 2 von 4 der Beitragsserie "Aus den Notizen eines Bahnfahrers"
Aus den Notizen eines Bahnfahrers (II)

Die Bahn wird ja oft kritisiert, weil sie mit ihren ständigen Verspätungen das Erreichen von Anschlußzügen unmöglich macht.

Das hat sie sich zu Herzen genommen und darauf jetzt reagiert.

Also keine Verspätungen mehr? Aber nicht doch! Wo kämen wir denn in diesem Land hin, wenn wir anfangen würden, die Probleme wirklich zu lösen… Am Ende würde noch alles funktionieren und wir bräuchten plötzlich keine teuren Berater mehr.

Nein. Die Bahn sorgt jetzt dafür, daß die Anschlußzüge auch mehr als eine Stunde Verspätung haben. Dann erreicht man sie auch wieder. Problem erfolgreich umgangen.

Ankunft in meinen Erinnerungen

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Beim Blättern in den Bildern meiner KindheitFind‘ ich viele vergilbt in all‘ den Jahr’n.Und and’re von fast unwirklicher Klarheit,Von Augenblicken, die mir wichtig war’n![1]Reinhard Mey: Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit, Album „Jahreszeiten“, 1980, Intercord, INT 160.139

Es ist noch gar nicht so lange her, da saßen wir wieder einmal im trauten Kreise der Familie beisammen und sprachen über dies und das und jenes. Und wie es manchmal so kommt, führte uns der Faden des Gesprächs geradewegs auf den Pfad der Erinnerung und wir schwelgten ein wenig in eben dieser. Wir gelangten dabei zurück in die 1980er Jahre, in denen wir einige schöne Urlaube an der Ostsee verbracht hatten, wie es damals sicher viele Familien in der DDR taten. Unser Ziel war stets der Darß gewesen, wo wir in dem einst kleinen Fischerdorf Prerow, das sich längst zu einem beliebten Urlaubsort gemausert hatte, für alljährlich vierzehn Sommertage Quartier nehmen konnten. Nun muß man wissen, daß es zu Zeiten der DDR nicht unbedingt einfach war, an der Ostsee, die ein überaus begehrtes Urlaubsziel war, ein solches Quartier zu finden. Man konnte entweder das Glück haben, einen vom FDGB[2]Das Kürzel stand für Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. Das war der Dachverband der Gewerkschaften in der DDR. vergebenen Urlaubsplatz zu ergattern, was jedoch nicht jedes Jahr der Fall war. Oder man gehörte zu den glücklichen Leuten, denen es gelungen war, durch Kontakte – meist über mehrere Ecken – an ein privat vermietetes Zimmer zu kommen. Wer es aber einmal geschafft hatte, in diesen Kreis einzutreten, der verließ ihn nach Möglichkeit nicht wieder und sicherte sich bei der Abreise im einen Jahr das Zimmer gleich für das nächste. Nun, meinen Eltern war der Zugang zu diesem Kreis irgendwie geglückt, und so fuhren wir in jener Zeit alljährlich nach Prerow, mieteten uns für die bereits erwähnten vierzehn Sommertage bei der Familie Koch in der Bergstraße 10 ein und genossen wunderschöne Tage auf dem Darß und am Meer, die mit zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen gehören. Die Kochs vermieteten allerdings nicht nur Zimmer – das taten sie eigentlich nur nebenbei -, sondern betrieben eine kleine Bäckerei, die ich als Kind ungeheuer faszinierend fand. All die leckeren Düfte und die noch viel leckereren Kuchen, die großen Öfen, die großen Bottiche mit Teig… Ich gehörte hier zum Kreise der Eingeweihten, die wußten, wie es hinter den Kulissen eines Bäckereiladens zuging.

Während wir da nun also saßen und uns erinnerten, fragten wir uns plötzlich, ob es die Bäckerei wohl heute noch gäbe. Irgendwann in den Zeiten der Wende war unser Kontakt dorthin bedauerlicherweise abgerissen. Man hatte in jenen Jahren voller Wirren und Umbrüche einfach andere und viel dringendere Sorgen als Urlaube. Meine Eltern verloren ihre Jobs und mußten sich um neue bemühen, was nicht einfach war angesichts der über Nacht gänzlich veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse, aber glücklicherweise schließlich gelang. Zur selben Zeit endete meine Schulzeit und ich kämpfte mit der Planung meiner Zukunft, für die ich ein Studium vorgesehen hatte, von dem ich nun zunächst gar nicht wußte, ob und wie das unter den neuen Bedingungen möglich sein würde. Erfreulicherweise regelte sich schließlich alles zum besten, wenn auch in völlig anderer Weise als ursprünglich gedacht – aus einem Mathematik- wurde unversehens ein Informatikstudium -, doch das brachte neue Aufregungen mit sich, denn mit dem Eintritt in die Humboldt-Universität stand ich vor gänzlich anderen Herausforderungen, als sie die Schule mir bisher abverlangt hatte. Angesichts all dessen konnten alljährliche Ostseeurlaube nicht mehr auf der Tagesordnung stehen und wir sahen Prerow, in dem wir alljährlich so gerne gewesen waren, letztlich nie wieder.

Nun, die Frage, ob es die Bäckerei noch gab oder nicht, konnten wir in unserem Gespräch im Familienkreise letztlich nicht beantworten. Doch nun, da die Erinnerungen einmal geweckt waren, ließen sie mich nicht mehr los. Und so setzte ich mich eines Abends kurzentschlossen an den Computer und begann, ein wenig zu recherchieren. Es dauerte nicht lange, da führte mich meine Suche in den Weiten des Internets zu einer Zeitschrift, die sich „Der Darßer“ nennt. Es ist wohl angesichts dieses Namens für niemanden eine wirkliche Überraschung zu erfahren, daß sie sich der Region der Halbinsel namens Darß widmet. Und so kommen natürlich auch immer wieder Beiträge aus und über Prerow darin vor. Und wie ich nun so stöberte, fand ich in der Nummer 30 vom Dezember 2020 einen Beitrag über eben jene Bäckerei Koch, nach der ich gerade suchte. Ich erfuhr, daß sie zwei Monate zuvor nach stolzen 43 Jahren[3]Tatsächlich ist die Bäckerei allerdings älter. Der Zeitraum bezieht sich auf ihren letzten Inhaber. ihre Pforten für immer geschlossen hatte. Dies zu lesen, stimmte mich auf einmal etwas wehmütig, kam es mir doch so vor, als sei etwas, an das ich mich aus meiner Kindheit erinnerte, nun für immer verloren. Nun ja, das Leben ist, wie es ist. Und das ist der normale Lauf der Zeit.

Und doch mußte ich in den folgenden Monaten immer wieder einmal daran denken und ich blätterte in Gedanken in den Kindheitsbildern jener Urlaube am Meer in der Mitte der 1980er Jahre…

Und ganz langsam keimte sie auf in mir, die Idee, jenen Ort, der mit diesen Erinnerungen so eng verbunden war, nach all den Jahren doch wieder einmal aufzusuchen. Sie wuchs und wuchs, und schließlich, in diesem April des Jahres 2023 ist sie groß genug, daß ich sie nicht länger unbeachtet lassen kann. Und so mache ich mich schließlich auf den Weg auf den Darß, nach Prerow am Ufer der Ostsee.

Zugangsweg zum Strand bei Prerow
Gleich hinter der Düne liegt das Meer. Nur noch ein paar Schritte… Dort will ich hin.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Wenn jemand wie ich, der weder Auto noch Fahrerlaubnis sein eigen nennt, auf den Darß fahren will, so ist das nicht ganz einfach, wenn diese Fahrt außerhalb der Saison stattfindet. Zwar gibt es von Berlin aus eine Direktverbindung mit dem Flixbus, doch wird diese nur während der Saison bedient. Da aber der April im besten Falle nur als Vorsaison zählt, ist die Direktverbindung nicht zu haben und mir bleibt nur die Eisenbahn als Alternative. Mit dieser kommt man allerdings nicht bis auf den Darß, es sei denn, man schaffte es irgendwie, in der Zeit zurückzureisen. Eine Eisenbahnlinie, die bis Prerow führte und als Darßbahn bezeichnet wurde, hatte es nämlich durchaus einmal gegeben, allerdings nur bis etwa 1945, als man ihren Schienenstrang abtrug, um ihn als Teil der Reparationsleistungen für die mit dem Zweiten Weltkrieg verursachten Schäden in die Sowjetunion zu verfrachten. So hat man heute nur die Möglichkeit, bis Ribnitz-Damgarten oder Barth zu fahren, von wo es in beiden Fällen das letzte Stück Wegs mit dem Bus zurückzulegen gilt. Das steht nun auch mir bevor.

Natürlich hat sich Die Bahn wieder einige Überraschungen für ihre Fahrgäste überlegt, um ihnen die Reise möglichst unan… Verzeihung, ich meine selbstverständlich: angenehm wie möglich zu machen. Die schnellere Verbindung über Rostock fällt schon einmal aus, da über das Osterwochenende auf der Strecke zwischen Rostock und Ribnitz-Damgarten gebaut werden soll und daher nur ein Schienenersatzverkehr angeboten wird. Daß dieser am Ostersonntag tatsächlich unterwegs ist, kann ich während meiner Anreise höchstselbst feststellen, obwohl ich ihn nicht benutzen muß. Daß aber ausgerechnet am Ostersonntag wirklich irgendwer an der Strecke mit Bauarbeiten beschäftigt sein soll, das glaube ich keine Sekunde[4]Vehemente Verteidiger der Bahn mögen nun einwenden, daß die Bauarbeiten ja sicher länger als ein Wochenende gedauert haben und am Osterwochenende somit nur eine Pause eingelegt worden ist. Das ist … [Weiterlesen]. Wie dem auch sei – ich habe jedenfalls die Strecke über Stralsund zu nehmen, die allerdings ausschließlich mit Regionalzügen befahren wird, was die Fahrt zwar billiger, aber auch langsamer macht. Fünfeinhalb Stunden würde ich von Berlin nach Prerow brauchen. Sagt jedenfalls der Fahrplan. Doch der kann ja nicht wissen, daß der Zug hinter Züssow, kaum daß er dort losgefahren, plötzlich wieder halten würde, um dann eine ganze lange Weile untätig auf freier Strecke herumzustehen. Schon wundere ich mich, warum das permanente, einem Rauschen nicht unähnliche Hintergrundgeräusch, das so ein Regionalexpreß unablässig verbreitet, plötzlich erstorben ist. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, habe ich es überhaupt erst bemerkt, als es mir nun so unvermittelt nicht mehr ständig in den Ohren liegt. Doch daß es nun nicht mehr vorhanden ist, kann mir eigentlich schon ein Hinweis auf die Ursache des außerplanmäßigen Haltes sein, doch ich denke zunächst nicht darüber nach. Und als ich gerade damit beginnen will, erbarmt sich der Zugführer – oder ist es der Zugbegleiter? – seiner Fahrgäste und erklärt in einer Durchsage, daß der Zug – man halte sich fest – einen Energieausfall habe. Und das wäre, so seine professionelle Meinung, „gar nicht gut“. Ob daran die Bahn selbst die Schuld trägt oder dies bereits eine Folge der derzeitigen glorreichen Energiepolitik unserer Regierung ist, dazu äußert er sich nicht. Auch ich werde hier darauf verzichten und mir meinen Teil dazu nur denken. Immerhin hat seine Durchsage zur Folge, daß die Geister der Elektrizität offenbar beschließen, sie umgehend Lügen zu strafen, denn es dauert nur einige weitere Minuten und unser Zug setzt sich wieder in Bewegung. Halleluja!

Strandhafer an der Ostsee
Hinter der Düne rauscht das Meer. Um mich herum rauscht noch nur der Zug. Und momentan noch nicht einmal das!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Für mich hat dieser ungeplante Halt allerdings zur Folge, daß ich mit meinem Zug deutlich später als geplant in Stralsund eintreffe und so meinen Anschlußzug um ganze sieben Minuten verpasse. Ich darf mich allerdings damit trösten, als Ersatz dafür nun weitere zwei Stunden auf diesem schönen Bahnhof zu verbringen, denn so lange dauert es, bis der nächste Zug in Richtung Ribnitz-Damgarten fährt. Für Fahrgäste, die nach Rostock wollen, hat man besagten Schienenersatzverkehr eingerichtet, den man sogar von Stralsund fahren, aber – aufgrund welcher hochintelligenten Überlegung auch immer – nicht in Ribnitz-Damgarten halten läßt, so daß mir diese Möglichkeit des Weiterkommens nicht offensteht. Notgedrungen sitze ich also meine Zeit am Bahnhof ab und steige dann in den Zug in Richtung Ribnitz-Damgarten, den ich jedoch in Velgast bereits wieder verlasse, um in einen weiteren Zug nach Barth umzusteigen. Trotz es zusätzlichen und ursprünglich nicht vorgesehenen Umstiegs, so hatte es mir der Fahrplan verraten, ist das die schnellere Verbindung nach Prerow, da die Meister der Verkehrsplanung die Abfahrtszeit des Busses in Ribnitz-Damgarten auf fünf oder zehn Minuten VOR die dortige Ankunft des Zuges terminiert haben, was mir wenigstens weitere sechzig Minuten Wartezeit, wenn nicht mehr, eingebracht hätte. In Barth würde ich zwar auch warten müssen, aber wenigstens nur eine halbe Stunde.

Zu guter Letzt lange ich dann nach siebeneinhalb Stunden und damit zwei Stunden später als geplant in Prerow an. Glücklich, endlich am Ziel zu sein, suche ich als erstes mein Quartier auf. Für die sechs Tage und sieben Nächte habe ich mich in der Pension Linde einquartiert. Dort angekommen, werde ich nach meinem Klingeln von einem freundlichen Mann mittleren Alters empfangen, der mich sogleich mit den Worten begrüßt:

„Herzlich willkommen! Komm rein! Ich bin der Sven!“

Ein wenig verdattert über diese ungezwungene, direkte Art der Begrüßung bringe ich nur ein

„Ja, äh, guten Tag. … Glintschert mein Name. … Der Vorname ist Alexander.“

heraus. Sofort verspüre ich ob dieses zusammenhanglosen Gestammels das dringende Bedürfnis, hier an Ort und Stelle im Boden zu versinken. Er ignoriert das jedoch, grinst mich freundlich an und meint nur:

„Das hab‘ ich mir schon gedacht!“

Offenbar bin ich der einzige Gast, der heute noch erwartet wird. Er heißt mich meinen Koffer im Flur stehen lassen und bittet mich in sein Büro, wo er mir den Zimmerschlüssel übergibt und mir die Frühstückszeiten erklärt, woraufhin er mich zu meinem Zimmer führt. Dort angekommen, wünscht er mir einen schönen und angenehmen Aufenthalt und bittet mich, jederzeit auf ihn zuzukommen, wenn ich einen Wunsch hätte oder etwas benötigte. Dann empfiehlt er sich und überläßt mich meiner selbst.

Da bin ich nun also glücklich angekommen. Schnell packe ich meine Sachen aus und richte mich in dem gemütlichen Zimmer, das ausgesprochen ordentlich und sauber gehalten und überdies recht geräumig ist, ein. Schließlich habe ich noch etwas vor.

Immer, wenn ich irgendwohin an’s Meer fahre, statte ich diesem noch am Abend meiner Ankunft einen ersten Besuch ab, sozusagen als eine Art Begrüßung. An dieses kleine Ritual erinnere ich mich noch aus meiner Kindheit. Immer wenn wir hier in Prerow angekommen waren, gingen wir noch am selben Nachmittag oder Abend hinunter an den Strand und begrüßten die Ostsee. So will ich es also auch diesmal halten. Kaum daß ich also fertig bin mit Auspacken und Einrichten, schnappe ich mir meinen Fotoapparat und mache mich auf den Weg zu einem abendlichen Spaziergang.

War der Himmel am Morgen in Berlin noch von dicken, grauen Wolken verhangen gewesen, so hatte es auf meiner Fahrt hierher, je weiter ich nach Norden kam, mehr und mehr aufgeklart. Nun, hier in Prerow, wölbt sich über mir ein strahlend blauer Himmel und die Sonne, die sich langsam auf ihren Weg in Richtung des westlichen Horizonts macht, scheint mir ins Gesicht. Was für eine schöne Begrüßung…

Von meiner Pension, die sich direkt im Zentrum Prerows befindet, spaziere ich langsamen Schrittes zum Hauptweg, der zum Strand hinunterführt, und biege in diesen ein. Ich erkenne ihn sofort wieder. Gesäumt von hohen Bäumen, die eine Allee bilden, führt er geradewegs auf einen Deich zu. Während auf der rechten Seite einige Häuser stehen, liegt am linken Rand des sauber gepflasterten Weges eine Wiese. Dort steht ein altes Postauto, von dem man das rote DHL-Logo säuberlich entfernt hat. Der Besitzer dieses Fahrzeugs ist offenbar ein Buchhändler, denn er hat auf mehreren davor aufgestellten Tischen jede Menge Kisten plaziert, in denen sich Unmengen von Büchern befinden, die er zum Verkauf anbietet. Obwohl ich ausgesprochen gerne lese, steht mir in diesem Augenblick allerdings nicht der Sinn danach, ausgiebig darin zu stöbern. Bücher gibt es auch in Berlin. Und schließlich will ich an’s Meer!

Der Hauptweg zum Prerower Strand
Strahlend blauer Himmel über den Alleebäumen des Hauptweges zum Prerower Strand. Was für ein schöner Empfang!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Während ich langsam weitergehe, zieht plötzlich eine Erinnerung durch meinen Kopf und ich sehe mich wieder als Kind eben diesen Hauptweg entlanggehen, begeistert darüber, was ich hier gerade entdeckt habe. Genau auf dieser Wiese, wo der Buchhändler mit seinem alten Postauto seine Bücherkisten aufgestellt hat, hatten damals Pferde gestanden, die bei den Kindern wahre Begeisterungsstürme auslösten. Ponyreiten hat eben zu jeder Zeit bei den kleinen und größeren Pferdenarren hoch im Kurs gestanden.

Darüber sinnierend, wandere ich den Weg weiter und erinnere mich daran, daß er damals gar nicht so einen ebenmäßig gepflasterten Belag besessen hatte. Zwei breite Fahrspuren aus Beton, dazwischen und daneben jede Menge festgetretener Sand – das war’s. Wenn es heftig geregnet hatte, tat man wohl daran, gut darauf zu achten, die Betonstreifen nicht zu verlassen, wollte man seine Schuhe nicht über und über mit matschigem Dreck bedecken.

Nun, diese Gefahr besteht mit der sorgfältigen Pflasterung heute nicht mehr. Auf ihr wandere ich nun den Deich hinauf und auf dessen anderer Seite wieder hinab, wo der Weg einen kleinen Schwenk nach rechts macht und zu einem Damm führt, auf dem er den Prerower Strom überquert. Zwischen Strom und Deich liegt auf der rechten Seite ein kleiner Platz, auf dem meine Erinnerung ein Kettenkarussell plaziert, das heute jedoch nicht mehr da ist. Stattdessen stehen dort zwei Zelte, ein Bierwagen und eine Holzhütte, die sich etwas hochtrabend als „Stromblick“ bezeichnet und einen Thai-Imbiß beherbergt, der jedoch gerade geschlossen hat und auch die ganzen nächsten Tage nicht öffnen wird. Vom tags zuvor hier veranstalteten Osterfeuer liegen noch die verkohlten Reste herum.

Auf der gegenüberliegenden Wegseite stehen hohe Bäume, vorwiegend Kiefern, zwischen die ein Waldweg hineinführt, der sich nach wenigen Metern in zwei aufteilt. Ein Schild weist mich darauf hin, daß sich hier der Kurpark Prerows befindet. Okay. Das ist neu. Also für mich. Einen Kurpark gab es damals noch nicht. Aber Seebad ist Prerow ja auch erst seit 1997.

Am Prerower Strom
Idyll am Prerower Strom.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Auf dem Dammweg überquere ich den Prerower Strom und durchquere den dahinter gelegenen Dünenwald. Ganz sicher bin ich nicht, aber es kommt mir so vor, als habe man diesen mächtig ausgedünnt. In meiner Erinnerung ist das Unterholz zu beiden Seiten des breiten Weges, auf dem ich unterwegs bin, bedeutend dichter und erinnert streckenweise an ein Dickicht, das mich als Kind stets neugierig gemacht hat, was sich wohl darin verbergen mag. Auch habe ich, besonders in Stromnähe, ein sumpfiges Waldgelände vor Augen, in das man sich besser nicht hineinwagt, will man nicht unversehens im Boden versinken. Demgegenüber blicke ich heute in einen vergleichsweise lichten Wald mit wenig Unterholz. Und sumpfiges Gelände kann ich so gut wie überhaupt nicht mehr entdecken.

Nach wenigen Metern beginnen die Buden. Nun, das ist vielleicht ein bißchen ungerecht, denn die Hütten, die nun zu beiden Seiten des Hauptweges stehen, sind eigentlich recht ansehnlich, wie sie da so stehen mit ihren hübschen Schilfdächern. In jeder von ihnen ist ein anderer Laden untergebracht. Von Restaurants über Imbisse bis hin zu zahlreichen Souvenir- und Kunstläden ist hier alles zu finden, was Ostsee-Touristen interessieren könnte. Wobei die kulinarischen Angebote eindeutig in der Überzahl sind.

Ich passiere die Ladenstraße vor der Düne und frage mich, ob es damals eigentlich auch schon so viele Verkaufsstände waren wie heute. Ich neige dazu, die Frage zu verneinen, bin mir aber nicht sicher. Zumindest auf der rechten Seite des Weges, so scheint mir jedoch, sind seit damals einige Hütten hinzugekommen. Ich weiß noch genau, wie damals an ihrer Stelle fliegende Händler mit ihren Klapptischen am Wegesrand standen und allerlei Klimbim anboten. Bei den Kindern und Jugendlichen ganz besonders hoch im Kurs standen die Ansteckbuttons mit den Konterfeis der angehimmelten Stars der Rock- und Pop-Musik, vornehmlich aus dem Bereich der westlichen Hemisphäre. Daß es für derartige Angebote fliegender Händler bedurfte, war klar, denn offiziell wurden Fanartikel von Künstlern aus dem Westen in der DDR selbstverständlich nicht verkauft. Auch an mir ging das Verlangen, wenigstens ein paar dieser Ansteckbuttons mit meinen Lieblingen mein eigen nennen zu können, natürlich nicht spurlos vorüber. Und so sehe ich sie heute noch vor mir, die von mir erstandenen Buttons: einer zeigte die Band a-ha, der andere das Duo Modern Talking. Dabei bedurfte es in meiner Schulklasse schon durchaus einer gewissen Courage, Modern Talking am Revers zu tragen. Denn die Modern-Talking-Fraktion war in der absoluten Minderheit und stand einer ungleich größeren Depeche-Mode-Fangruppe gegenüber, von der sie regelmäßig ausgelacht wurde. Immerhin gab es über die Akzeptanz von a-ha keine Diskussion. Ach, hatten wir damals Probleme…

Schließlich steigt der Weg etwas an und führt über die große, dem Strand nachgelagerte Sanddüne. Langsam gehe ich zur Anhöhe hinauf und erreiche auf deren anderer Seite schließlich die Seebrücke von Prerow. Oder ich täte es, wäre sie noch da. Tatsächlich sind jedoch lediglich ein paar kreisrunde Pfeiler zu sehen, die aus dem Sand ragen. Und weil sie bereits auf der zum Strand abfallenden Seite der Düne beginnen, erscheinen die ersten von ihnen nur sehr kurz, während jeder weitere ein Stück mehr aus dem Sand herausragt. Tatsächlich sind sie jedoch alle gleich hoch. Die alte Seebrücke, die es hier seit 1993 gab, hat man bereits vollständig abgerissen. Die Reihe der Pfeiler setzt sich zum Meer hin und in diesem fort, bis sie schließlich schon ein paar Meter hinter dem Ufer aufhört. Ganz offensichtlich ist man mit dem Setzen dieser die neue Seebrücke später tragen sollenden Stützen noch längst nicht fertig, denn etwas so kurzes würde man wohl kaum als Seebrücke bezeichnen.

Wo die Prerower Seebrücke sein sollte
Eine Ansammlung von (noch) nutzlosen Pfeilern. Das ist alles, was derzeit von der Prerower Seebrücke zu sehen ist.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ein wenig geahnt hatte ich schon, daß ich hier am Strand von Prerow wohl keine Seebrücke zu sehen bekommen würde, als ich noch auf dem Dammweg über den Prerower Strom unterwegs gewesen war. Denn bereits von dort aus hatte ich den hoch aufragenden Kran deutlich sehen können, den ich nun aus nächster Nähe bewundern kann. Er steht allerdings ziemlich untätig in der Gegend herum, denn heute, am Ostersonntag, ist hier natürlich niemand mit irgendwelchen Bauarbeiten beschäftigt.

Der Weg zum Strand wird von der großen Baustelle weitestgehend versperrt. Lediglich auf seiner rechten Seite hat man einen schmalen Durchgang gelassen. Bevor ich diesen jedoch hinabsteige, gehe ich noch weiter rechts auf die Aussichtsplattform, die man dort eingerichtet hat, damit man von hier oben auf den Strand und die Baustelle hinabschauen kann. Weiter draußen im Meer, ein ganzes Stück hinter der Pfeilerreihe, kann ich einen steinernen Wall entdecken, auf dessen Zweck ich mir jedoch keinen Reim machen kann. Und in einem weiteren Abstand zu diesem ist ein zweiter solcher Wall zu sehen, dessen Sinn mir ebenso unklar ist. Immerhin meine ich, dort einen Bagger ausmachen zu können, was bedeutet, daß diese beiden Wälle ebenfalls gerade in Bau sind. Ob sie wohl zu der neuen Seebrücke gehören werden? Ich weiß es nicht. Vielleicht finde ich es irgendwann später noch heraus.

Ganz hinten am Horizont ist eine unregelmäßige Reihe von Windrädern zu sehen. Einundzwanzig Stück zähle ich. Sie bilden den vor der Küste des Darß positionierten sogenannten Offshore-Windpark namens Baltic 1. Hier nimmt man es mit der Energiewende offenbar sehr genau. Ob sie wohl gelingen wird? Wenn ich in Betracht ziehe, daß eine ganze Reihe dieser einundzwanzig Windräder gerade in Untätigkeit verharrt, obwohl doch ein recht lebhafter Wind um meine Nase weht, dann kommen mir daran gewisse Zweifel. Denn immerhin reicht der ja aus, um einen Kitesurfer mit seinem Drachen über die Wellen reiten und dabei ein beachtliches Tempo erreichen zu lassen. Und trotzdem steht eine ganze Menge dieser Windräder gerade ziemlich still…

Baltic 1
Technik, die begeistert. Am Strand von Prerow hat man den Offshore-Windpark Baltic 1 immer vor der Nase. Ist das nicht ein schöner Blick auf’s Meer?
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich stapfe durch den Sand zum Strand hinunter und begebe mich geradewegs zur an diesen anbrandenden Ostsee, um ihr nun wirklich Guten Tag zu sagen, ganz wie es mein Ritual verlangt. Als das erledigt ist, entschließe ich mich, den Strand ein kleines Stück nach Westen entlangzuwandern, bis ich den nächsten Dünenübergang erreiche. Selbstverständlich ist es aus Gründen des Umwelt- und Küstenschutzes nicht gestattet, einfach so irgendwo über die Düne zu stapfen.

Weil das Laufen im tiefen Sand auf die Dauer doch etwas beschwerlich ist, gehe ich nahe am Wasser entlang, wo er dank der beständigen Feuchtigkeit fester und damit einfacher zu gehen ist. Allerdings muß ich dafür beständig darauf achten, daß die Wellen mich nicht erwischen und meine Schuhe überspülen, was mir ziemlich nasse Füße einbringen würde.

Als ich den nächsten Übergang erreicht habe, wende ich mich wieder landeinwärts und spaziere durch den Dünenwald zurück zum Strom. Kaum habe ich die Düne überquert, besteht der Boden des Weges plötzlich aus gelben, orangenen und roten Ziegeln. Sehe ich einmal davon ab, daß die Ziegel nicht nur gelb sind, könnte ich fast meinen, ich habe den Backsteinweg erreicht, der mich in die Smaragdenstadt führt. Ach, was habe ich als Kind die Bücher von Alexander Wolkow geliebt. Regelrecht verschlungen hab ich sie. Kaum hatte ich eines ausgelesen, rannte ich in die in unserer Straße beheimatete Kinderbibliothek und holte mir das nächste. Daß der erste Band, der den Titel „Der Zauberer der Smaragdenstadt“ trug und von dem Mädchen Elli erzählte, das ins Zauberland verschlagen wird und gemeinsam mit ihrem Hündchen Totoschka, dem (erst später weise werdenden) Scheuch, dem eisernen Holzfäller und dem feigen Löwen Abenteuer erlebt, eine freie Nacherzählung von Lyman Frank Baums Buch „Der Zauberer von Oz“ ist, wußte ich damals noch nicht. Es tut der Qualität des Buches und meiner Liebe zu ihm aber auch keinen Abbruch.

Im Prerower Dünenwald
Auf dem Weg in die Smaragdenstadt ist man hier wohl doch nicht. Dafür ist dieser Weg aber mehr als einhundert Jahre alt!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nun, der gelbe Backsteinweg ist es nicht, sondern lediglich ein Weg durch den aus Kiefern bestehenden Dünenwald. Auch diesen darf man, genau wie die Dünen, nur auf den gekennzeichneten Wegen betreten – aus den gleichen Gründen. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte man in Prerow fast im gesamten Ort die Bürgersteige mit Klinkersteinen wie diesen hier gepflastert, damit sie auch nach starkem Regen noch passierbar waren. Dabei hatte man die Wege im Dünenwald nicht ausgespart. Heute sind es eben diese Waldwege, auf denen die originalen Steine noch erhalten geblieben sind. Ich wandle also nun auf mehr als einhundert Jahre alten Ziegeln.

Zurück am Strom, überquere ich diesen über eine Brücke, die, soweit ich mich erinnere, damals noch eine reine Holzbrücke war. Aus Holz besteht sie auch heute noch, doch sieht sie recht neu aus und die Geländer zu beiden Seiten sind mit Netzen verhängt, deren engmaschige Fäden sich auf den zweiten Blick als dünne stählerne Seile herausstellen. Offenbar hat man hier große Angst davor, daß jemand durch die Holzbalken der Geländer hindurch ins Wasser fällt. Als könnten die Menschen nicht selbst auf sich aufpassen. Eigentlich ist es schon fast ein Wunder, daß man die Geländer nicht gleich übermannshoch gestaltet hat.

Auf der anderen Seite wende ich mich nach rechts und folge ein Stück einem Waldweg, der sich mir auf einem Schild als Johann-Niemann-Weg vorstellt. Bereits nach wenigen Metern entdecke ich unter den Bäumen am Ufer des Stroms eine hölzerne Bank. Da sie frei ist, setze ich mich und lasse für einige Minuten die abendliche, langsam zur Ruhe kommende Natur auf mich wirken. Schilf wiegt sich sacht im Wind, der hier so zahm ist, daß er die Wasseroberfläche nur leicht kräuselt. Eine himmlische Ruhe liegt über dem Strom und dem angrenzenden Wald, in der lediglich ein paar Vogelstimmen hier und da zu hören sind. Und so langsam spüre ich, wie auch ich mehr und mehr zur Ruhe komme.

Schilf am Prerower Strom
Sacht wiegt sich das Schilf im Wind am Prerower Strom. Wer Ruhe sucht, wird hier außerhalb der Saison ganz sicher fündig.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Als ich mich schließlich wieder erhebe und meinen Spaziergang fortsetze, indem ich den Weg zurückgehe, gelange ich nach wenigen Metern wieder zum Deich, den ich überquere. Einige Minuten später bin ich wieder im Zentrum des Ortes angelangt. Hier gestatte ich mir noch einen kleinen Schlenker durch die Bergstraße, der mich bis zur Hausnummer 10 führt. Denn schließlich bin doch ein bißchen neugierig, wie das Haus, in dem wir früher für unsere Tage in Prerow stets Quartier bezogen hatten, heute aussieht. Das einst von einer wilden Wiese bedeckte Gelände davor ist heute dicht bebaut, so daß ich für einen Augenblick daran zweifle, daß ich in der richtigen Straße unterwegs bin. Doch schon nach einigen Metern sehe ich sie vor mir – die alte Bäckerei. Und ein wenig erleichtert stelle ich fest, daß sie noch fast genauso aussieht, wie ich sie in Erinnerung habe. Lediglich die Veranda auf der linken Seite kommt mir unbekannt vor. Vermutlich ist sie erst in der Zeit nach unseren Aufenthalten hier hinzugekommen.

Die (ehemalige) Bäckerei Koch
Die einstige Bäckerei Koch in Prerow. Heute hat sie ihre Pforten für immer geschlossen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ein orangefarbenes Schild, aufgestellt ganz in der Nähe, verrät mir Dinge, die ich noch nicht wußte. Das Gebäude, so lese ich da, stammt bereits aus den Anfangsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Als Villa Ruheleben errichtet, wurde darin 1910 das Café Stein eröffnet. Im Jahre 1928 übernahm es der Bäckermeister Friedrich Koch und richtete darin seine Bäckerei ein. Bis heute ist das Gebäude im Familienbesitz. Und, so wird berichtet, noch immer backe man hier nach alter Tradition. Nun, daß das so nicht mehr stimmt, darüber bin ich dann doch bereits informiert. Daß hier jedoch einmal eine Bäckerei gewesen ist, kann man noch erahnen, selbst wenn man es nicht weiß. Die Markise über der abgeschrägten Ecke mit der Eingangstür, zu der drei kleine Stufen hinaufführen, ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß sich hier einmal ein Laden befunden hat. Und wer genau hinsieht, kann in dem weißen Rechteck im oberen Stockwerk noch das einstige Bäckerei-Logo mit dem großen K erkennen, das für den Namen der Eigner steht.

Zufrieden mit all meinen ersten Entdeckungen und auch ein wenig glücklich darüber, doch bereits so vieles, das mir aus meiner Kindheit noch in Erinnerung ist, wiedergefunden zu haben, schließe ich für diesen ersten Tag meines kleinen Urlaubs in Gedanken das Album mit den Bildern meiner Kindheit und mache mich auf den Weg zurück zu meinem Quartier.

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Referenzen

Referenzen
1 Reinhard Mey: Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit, Album „Jahreszeiten“, 1980, Intercord, INT 160.139
2 Das Kürzel stand für Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. Das war der Dachverband der Gewerkschaften in der DDR.
3 Tatsächlich ist die Bäckerei allerdings älter. Der Zeitraum bezieht sich auf ihren letzten Inhaber.
4 Vehemente Verteidiger der Bahn mögen nun einwenden, daß die Bauarbeiten ja sicher länger als ein Wochenende gedauert haben und am Osterwochenende somit nur eine Pause eingelegt worden ist. Das ist sicher richtig. Allerdings habe ich dagegen einzuwenden, daß angesichts der Tatsache, daß eine Woche später die Bahn bereits wieder durchfuhr, durchaus eine andere Planung möglich gewesen sein müßte, als ausgerechnet am Osterwochenende, wo viele Menschen ein sehr langes Wochenende frei haben, das zu Kurzreisen auch an die Ostsee geradezu einlädt, eine dafür wichtige Strecke mit stillstehenden Bauarbeiten zu blockieren!

Bei uns läuft alles…

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 4 der Beitragsserie "Aus den Notizen eines Bahnfahrers"
Aus den Notizen eines Bahnfahrers (I)

Bahn fahren. Die Fortbewegungsart für den aufgeklärten Menschen von heute.

Bahn fahren. Das sollen wir. Denn Bahnfahren ist grün, weil gut für die Umwelt. Und das Klima. Und sowieso. Und überhaupt.

Nun, dagegen hab‘ ich gar nichts. Nicht das geringste. Ich fahre eigentlich sogar sehr gerne Bahn. So sehr, daß ich, wenn ich bisher in der Welt unterwegs war, stets einen nicht geringen Teil der Reise mit der Eisenbahn bestritten habe. Mit dem Canadian war ich von Vancouver nach Toronto quer durch Kanada unterwegs. Von dort nach Montreal und Quebec ging es auch mit der Eisenbahn. In Australien hat mich der Ghan von Alice Springs nach Darwin befördert. Und das war nicht die einzige Eisenbahnfahrt auf diesem Kontinent. Eine Ganztagesbahnfahrt von Brisbane nach Sydney ist auch ein großartiges Erlebnis, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Und in Neuseeland habe ich mit dem TranzAlpine die Neuseeländischen Alpen überquert – von Greymouth nach Christchurch. Na gut, von Greymouth zum Arthur’s Pass war ich mit dem Bus unterwegs. Aber nur, weil auf der Strecke gerade Schienenersatzverkehr war. Dafür hat mich die Bahn aber von Picton, wo ein Schiff mich beim Eintreffen auf der Südinsel abgeladen hatte, nach Christchurch bringen dürfen. Was im übrigen eine großartige, ausgesprochen schöne Fahrt war. Und nahezu alle waren sie pünktlich. Und wo sie es nicht waren, gab es immerhin erstklassigen Service.

Kurz gesagt: ich liebe die Eisenbahn. Anders käme ich auch kaum durch die Lande. Ich hab‘ schließlich kein Auto. Nicht mal eine Fahrerlaubnis. (Ja, so hieß das damals bei uns in der DDR. Führerschein sagte man nicht. Wird wohl Gründe gehabt haben…)

Und so lag es natürlich nahe, daß meine erste Fahrt quer durch’s Land nach zweieinhalb Jahren Corona-Wahnsinn wieder mit der Eisenbahn vonstattengehen sollte. Für diesen großartigen Anlaß hatte ich mir sogar eine Fahrt in der ersten Klasse geleistet! An den in dieser Zeit nicht durchgeführten Fahrten hatte ich ja schließlich genug zusammensparen können…

Von meinem schönen Berlin sollte es nun also nach Bonn gehen. Früher bin ich da stets einmal im Jahr hingefahren, immer irgendwann zwischen Ende April und Anfang Juni, wenn die FedCon stattfand – DIE deutsche Convention für Science-Fiction-Fans jeden Alters. Und die war nun auch dieses Jahr endlich wieder einmal mein Ziel.

Ach ja, ich freute mich auf diese Reise. Endlich mal wieder rauskommen. Was anderes sehen. Na klar, ich liebe Berlin, aber manchmal tut etwas Abwechslung einfach gut. Und die Fahrt würde ja auch ganz bequem vonstatten gehen. Dachte ich. Am Hauptbahnhof in den ICE steigen, in der ersten Klasse – etwas ganz Besonderes für mich – gemütlich und bequem nach Köln gefahren werden, dort noch auf einen kurzen Sprung in die Regionalbahn hüpfen – und schon wäre ich da. Was könnte einfacher sein?

Wie sich herausstellte: vieles. Nahezu alles. Denn schließlich fuhr ich ja nicht mit irgendeiner Eisenbahn irgendwo in der Welt. Nein, ich fuhr mit Der Bahn. Die Bahn. Warum die beiden Buchstaben DB nicht mehr für Deutsche Bahn stehen dürfen, konnte mir bisher auch noch keiner schlüssig erklären. Jedenfalls heißt es seit geraumer Zeit nun Die Bahn. Und ich frage mich seitdem immer, ob denen eigentlich klar ist, daß sie damit ganz schön große Erwartungen wecken. Die Bahn. Nicht die deutsche Bahn, nicht die französische, nicht die indische. Nein, Die Bahn. Also wenn ich das lese, höre ich innerlich immer eine deutliche Betonung auf Die. Wie denn auch nicht? Ohne diese Betonung ergäbe dieser Eigenname ja überhaupt keinen Sinn. Oder würden Sie annehmen, daß ein Autohersteller, der in Konkurrenz zu Mercedes, BMW, Opel, Ford und all den anderen Marken tritt und sein Produkt einfach nur Das Auto nennt, damit wirklich nur sagen möchte, daß das eben ein Auto sei? Irgendeins? Wohl kaum.

Na, wie auch immer. Da stand ich nun also auf dem Berliner Hauptbahnhof und erwartete meinen InterCity Expreß, den mir Die Bahn hoffentlich pünktlich vorbeischicken würde. Nun, das tat sie. Und das war dann auch schon das Einzige, was auf dieser Fahrt wie erwartet funktionieren sollte. Aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.

Frohgemut stieg ich also ein, suchte und fand meinen Sitz, verstaute meinen Koffer und nahm, wie es im Jargon Der Bahn heißt, meinen Platz ein. Und weil ich in diesem wunderbaren Land zwar sinnvollerweise ohne jegliche Beschränkung drei Tage auf einer Convention unter Tausenden von Leuten verbringen kann, aber nicht fünf Stunden Eisenbahn fahren darf, ohne wenigstens eine medizinische Maske zu tragen, setzte ich mir eine auf. Man muß es nicht verstehen, aber sich dran halten. Andernfalls wird es nicht nur teuer, sondern man auch vor die Zugtür gesetzt. Und damit ich das auch ja nicht vergaß, verkündete mir das eine Zugdurchsage auch gern und hinreichend oft. Inklusive der Konsequenzandrohung.

Derart konsequent war Die Bahn leider nicht, was ihren eigentlichen Zweck anging: die möglichst reibungslose und bequeme Beförderung der Fahrgäste, für die sie ja nicht unbedingt wenig Geld verlangt. Gut, die Preisgestaltung vermittelt oft den Eindruck, es handle sich um reine Fantasie, kann doch ein Zugticket für dieselbe Strecke preisliche Unterschiede von mehr als einhundert Euro aufweisen, je nachdem, ob man es Wochen im Voraus oder kurzfristig bucht, ob man sich auf den Zug festlegt oder nicht, ob man zu einer Veranstaltung fährt oder einfach nur so unterwegs ist, ob man… ach, der Gründe für derlei Flexibilität bei den Preisen gibt es viele bei Der Bahn. Und jedesmal, wenn ich die verschiedenen Kostenangaben sehe, frage ich mich, ob Die Bahn wirklich Züge ausfallen läßt, wenn auf diese Weise nicht genug Buchungen frühzeitig eintrudeln, spricht sie doch davon, daß Frühbucher bedeutende Rabatte bekämen, weil sie ihr aufgrund der früheren Kenntnis über die Ticketbuchung eine bessere Planung ermöglichten. Also Zugstreichung wegen zu wenig verkaufter Fahrkarten? Ich glaube, nicht. Oder? Hm. Andererseits würde das einiges erklären…

Nun saß ich also auf meinem Platz und der Zug fuhr pünktlich los. Weil ich mich noch einmal meiner Ankunftszeit vergewissern wollte, zog ich mein Mobiltelefon aus der Tasche und öffnete die App, die Die Bahn ihren Fahrgästen eigens bereitstellt: den DB Navigator. Und wer hätte es ahnen können – bei meinem Zug gab es zwei Hinweise. Der erste bedeutete mir, mich darauf einzustellen, daß die Auslastung des Zuges außerordentlich hoch sei. Danke, das hatte ich beim Einsteigen bereits selbst festgestellt, als ich mich langsam in der Menschenschlange durch den Mittelgang des Waggons vorwärts und auf meinen Platz zubewegte. Im ganzen Wagen war kein Sitzplatz mehr frei. Und das in der ersten Klasse! Da war es natürlich von Vorteil, daß ich beim Hereinkommen hatte bemerken können, daß es in meinem Waggon zwei Toiletten gab. Was uns Fahrgästen allerdings nicht das Geringste nützte, denn sie waren beide verschlossen. An den Türen prangte dafür jeweils ein Zettel, der verkündete, daß die Toiletten, zu denen sie Zugang hätten gewähren sollen, defekt seien. Nun gut, dann würde der Weg zum stillen Örtchen gegebenenfalls eben etwas weiter und die Wartezeit vor der Toilettentür etwas länger sein.

Der zweite Hinweis war dagegen von anderem Kaliber. Er teilte mir mit, daß aufgrund irgendeines Schadens an der Strecke unser Zug nicht in Bielefeld halten könne. Gleichzeitig sei für die Ankunft am Zielort Köln eine Verspätung von 75 Minuten zu erwarten.

Respekt! Kaum losgefahren und schon steht eine Verspätung von weit mehr als einer Stunde fest! Das war selbst für Die Bahn rekordverdächtig. Doch es sollte noch besser kommen… Zunächst einmal mochte sich so mancher Fahrgast ob solch einer Aussage wundern. Wieso sollte der Ausfall eines Haltes zu einer solch drastischen Verspätung führen? Nicht so ich. Mir war Derartiges bereits bei einer meiner früheren Fahrten nach Bonn einmal untergekommen. Von daher wußte ich angesichts der angegebenen Zeiten, daß der Halt in Bielefeld nicht einfach so ausfallen würde, sondern daß die Strecke wegen des Schadens wohl irgendwo gesperrt sein mußte, der Zug deswegen auf eine andere Route ausweichen und sich so die Verspätung einhandeln würde. Großartig. Na, wenigstens würde ich aber durchfahren können. Und weil ich in Köln keinen speziellen Anschlußzug erreichen, sondern nur in die Regionalbahn umsteigen mußte, die jedoch recht häufig fuhr, machte ich mir keine Sorgen. Gut, ich würde deutlich später als geplant ankommen, aber das machte nichts. Ich hatte für den Nachmittag sowieso nichts Besonders vor, und die Convention ging erst am nächsten Tag los.

Inzwischen hatte mein Zug das Einzugsgebiet von Berlin verlassen und war recht flott unterwegs. Die Elbe näherte sich, wurde erreicht und überquert. Ein interessantes Phänomen ist, daß dieser Fluß mich jedesmal, wenn ich nach Westen fahre, auf sich aufmerksam macht, und zwar unabhängig davon, ob ich die ganze Zeit aus dem Fenster sehe oder nicht. Selbst wenn ich lese, gedankenverloren Musik höre oder einen Laptop dabeihabe, auf dem ich gerade herumtippe – oft genug habe ich beobachten können, daß ich irgendwie immer hoch- und aus dem Fenster schaue, wenn mein Zug auf die Brücke fährt, die die Elbe überquert. Und zwar nicht erst, wenn ich auf der Brücke bin. Nein, kurz davor. Nahezu jedesmal. Irgendwie faszinierend. Auf der Rückfahrt klappt das merkwürdigerweise weniger zuverlässig…

Wie auch immer. Wenig später erreichte der Zug Wolfsburg, das er kurz darauf schon wieder verließ. Irgendwie habe ich jedesmal, wenn ich hier durchfahre, den Eindruck, die Stadt verpaßt zu haben. Am Bahnhof sind auf der einen Seite nur große Betonklötze zu sehen und auf der anderen hinter einem Kanal der ewig lange Fabrikbau des Volkswagenwerks.

Mein Zug hatte Wolfsburg bereits ein ganzes Stück hinter sich gelassen, da bemerkte ich bei einem Blick auf den nächsten Monitor, der sich über dem Mittelgang an der Waggondecke befand und wissenswerte Informationen zur Fahrt verbreitete, daß sich die Anzeige des Fahrtziels klammheimlich geändert hatte. Hatte dort bisher neben „Hamm Hbf.“ als finales Ziel der Reise „Köln Hbf.“ gestanden, so prangte letztere Angabe nun in knalligem Rot und war – durchgestrichen. Was zur Hölle…?

Ich wartete auf eine Durchsage. Es kam keine. Ein Blick in die App brachte mir die gleiche Information. „Fahrtziel entfällt“ stand dort noch. Na großartig! Von den übrigen Fahrgästen hatten offenbar bisher nur wenige bereits auch etwas von der Änderung bemerkt. Und noch immer keine offiziellen Informationen per Durchsage. Nach und nach sprach sich die neue Entwicklung nun aber im Waggon herum, denn zuerst langsam, dann immer schneller machte sich Hektik breit. Was zunächst mit einem Murmeln hier und da begann, schwoll schließlich an und wurde zu einem ausgeprägten Stimmengewirr. Es wurde gerätselt, was wohl los war, überlegt, wie man reagieren sollte, und gefragt, was wohl besser war: weiterfahren oder umsteigen? Und warum, zum Henker, gab es immer noch keine Informationen vom Zugpersonal?

Schließlich tauchte doch noch ein Schaffner auf. Zugbegleiter heißen die ja heutzutage. Naturgemäß hatte er es sehr schwer, durch den Waggon zu kommen, wurde er doch auf Schritt und Tritt von allen Seiten mit Fragen bestürmt.

„Ich will nach Köln! Fährt der Zug noch dorthin?“
„Nein!“
„Aber ich muß doch nach…“
„Dann steigen Sie in Hannover aus, fahren mit dem nächsten ICE nach Frankfurt und von dort über die Rennstrecke nach Köln. Von dort kommen sie dann wie gewohnt weiter.“

So ging das in einer Tour. Ich nutzte inzwischen die Zeit, bis der Schaffner bei mir ankommen würde, mit der Navigator-App zu recherchieren, was wohl die günstigste Verbindung sei, bekam aber nur heraus, daß ich bis Hamm fahren sollte, um mich dann mit zwei weiteren Regionalbahnen nacheinander bis Bonn durchzuschlagen. Das würde mir eine Ankunftszeit bescheren, die zweieinhalb Stunden nach der ursprünglich geplanten lag. Weil mir das wenig verlockend erschien, reihte auch ich mich kurzerhand unter die Fragesteller ein.

„Entschuldigen Sie bitte! Ich will nach Bonn. Wie fahre ich da am besten?“
„Da steigen Sie auch in Hannover aus, fahren von da nach Frankfurt und dann nach Siegburg/Bonn. Das geht am schnellsten!“

Immerhin, der Mann hatte Ahnung. Und ich nach dieser Auskunft nur noch wenig Zeit, denn Hannover war gleich erreicht, wie uns Fahrgästen eine Durchsage aus den Lautsprechern nun verkündete. Diese nahm sich alle Zeit der Welt, um uns in aller Ruhe zunächst die geplante Ankunftszeit und dann alle Anschlüsse und Umsteigemöglichkeiten  mitzuteilen, anschließend dasselbe nochmal auf Englisch. Und dann – endlich – wurde nun auch offiziell die Information über das entfallende Fahrtziel Köln durchgegeben. Wer es jetzt erst erfuhr, hatte praktisch keine Zeit mehr für eine ausreichende Planung seiner alternativen Route. Jedenfalls nicht vor Hannover.

Während ich meine Sachen zusammenpackte, lauschte ich den Gesprächen der Fahrgäste um mich herum. Einige wollten erfahren haben, daß eine Zugentgleisung in oder hinter Hamm die Ursache des ganzen Aufstands war. Jemand meinte sogar zu wissen, daß diese beim Rangieren stattgefunden habe und dabei irgendwie auch noch die Oberleitung beschädigt worden sei. Was davon stimmte – keine Ahnung. Eigentlich war’s mir auch egal. Ich kam nicht wie geplant weiter. Das war alles, was ich wissen mußte. Jetzt ging es darum, die alternativen Anschlüsse zu erreichen.

Der Umstieg in Hannover gestaltete sich dank der Informationen, die ich noch im Zug aus der Navigator-App gezogen hatte, einigermaßen unkompliziert. Treppe runter, rüber zum nächsten Bahnsteig, Treppe rauf. Reichlich zehn Minuten hatte ich nun Zeit, herauszubekommen, wo in dem neuen Zug die Abteile der ersten Klasse sein würden, und dann zum entsprechenden Bereich des Bahnsteigs zu gelangen. Angesichts der Länge eines ICEs ist eine entsprechende Vorbereitung durchaus sinnvoll, will man nicht – im schlimmsten Fall – den gesamten Bahnsteig entlanghetzen, wenn der Zug schon angekommen ist. Ich begab mich also zum Wagenstandsanzeiger und anschließend, als ich die nötige Information hatte, zum einen Ende des Bahnsteigs. Die erste Klasse sollte – wie gewöhnlich – am dortigen Ende des Zuges zu finden sein. Eine Platzkarte hatte ich nun natürlich nicht mehr, daher war es durchaus wichtig, bereits vor Ort zu sein, wenn der Zug einfuhr, wollte ich mir auch nur die geringste Chance auf einen Sitzplatz erhalten.

Gute fünf Minuten stand ich dann auf dem Bahnsteig herum und erwartete den Zug, als mein Blick auf den Anzeiger fiel, der den Zug ankündigte. Das Fahrtziel war Chur. Lag das nicht in der Schweiz? Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, erregte eine Laufschrift meine Aufmerksamkeit. „Bitte beachten Sie die geänderte Wagenreihung…“ entzifferte ich und war mit einem Mal hellwach. Geänderte Wagenreihung? Wie geändert? Stand ich hier etwa falsch? Oh Mann…

Während eine Durchsage bereits die baldige Einfahrt meines Zuges verkündete, suchte ich das kleine Zug-Piktogramm, mit dem auf den Zielanzeigern üblicherweise die Wagenreihung grob vereinfacht dargestellt wird. Die genaue Position eines bestimmten Wagens ist darauf zwar nicht erkennbar, doch immerhin der ungefähre Ort der Wagenklassen in Bezug auf den Bahnsteig. Da! Ich hatte es gefunden! Erste Klasse – am Ende des Bahnsteigs. Natürlich am jenseitigen! Ich war also tatsächlich hier völlig falsch und hatte nun nur noch höchstens eine Minute Zeit, dorthin zu gelangen, bevor der Zug einfuhr. Großartig…

Während ich nun in genau der Hektik, die ich hatte vermeiden wollen, den gesamten Bahnsteig entlangtobte – was wegen der diesen inzwischen sehr zahlreich bevölkernden zukünftigen Mitreisenden alles andere als einfach war und eher einem Slalom als einem schnellen Lauf ähnelte -, fragte ich mich wieder einmal, ob die das bei Der Bahn eigentlich absichtlich machen. Immerhin kommt das, wenn ich Zug fahre, überdurchschnittlich häufig vor. Wieder einmal ging mir die Vorstellung durch den Kopf, wie zwei Planer, die den Zug zusammenstellen, einander angrinsen und gemeinschaftlich beschließen, heute einfach mal die Wagenreihung umzudrehen. „Weißt Du“, sagt der eine zum anderen, „das wird wieder lustig. Die rennen dann immer so schön!“

Genau das tat ich nun auch. Rennen. Von einem Ende des Bahnsteigs zum anderen. In Gedanken wünschte ich den beiden Planern in meiner Vorstellung allerlei unerfreuliche Dinge an den Hals. Nicht, daß es mir etwas geholfen hätte, aber immerhin konnte ich so meinen Ärger etwas kanalisieren.

Ich traf etwa zeitgleich mit dem Zug an meinem Zielort ein. Da die Wartenden auf dem Bahnsteig kaum einmal bereit waren, den diesen entlang eilenden Mitreisenden freiwillig auch nur einen Zentimeter Platz zu machen, hatte ich mich in der Regel vor ihnen vorbeidrängen müssen, was zur Folge hatte, daß ich nun unverhofft einer der ersten an der Tür war. So gelang es mir erfreulicherweise, einen Sitzplatz an einem Tisch in der ersten Klasse zu ergattern – praktisch denselben, den ich auch in meinem ursprünglichen Zug innegehabt hatte. Kurz darauf war der Waggon bis auf den letzten Sitz mit Fahrgästen gefüllt. Für die übrigen blieben nur noch Stehplätze.

Uff. Glück gehabt. Das war knapp. So konnte ich die nächsten zwei Stunden Fahrt nun wenigstens im Sitzen verbringen und hatte nichts auszustehen. Die damit verbundene Ruhe nach der Hektik am Bahnhof von Hannover war sehr angenehm. Hätte ich allerdings gewußt, was Die Bahn noch für mich in petto hatte, ich wäre dafür in diesem Moment noch viel dankbarer gewesen…

In Frankfurt, das hatte ich bereits den Informationen in der App entnommen, standen mir nur wenige Minuten Zeit für den Umstieg in den nächsten ICE, der nach Essen fahren und mich nach Siegburg/Bonn bringen sollte, zur Verfügung. Glücklicherweise würde ich wenigstens nicht den Bahnsteig wechseln müssen, denn der Abfahrtsort würde das gegenüberliegende Gleis sein. Dachte ich jedenfalls.

Kaum war ich jedoch ausgestiegen, vernahm ich auch schon eine Durchsage, die mir verkündete, daß der ICE Nummer Sowieso in Richtung Essen etwa fünf Minuten Verspätung haben und heute vom Gleis Acht fahren werde. Gleis Acht! Das war ganz sicher nicht an meinem Bahnsteig. Ich war begeistert, bedeutete das doch, daß ich die nächste Rennerei vor mir hatte. Vom Ende des Bahnsteigs, an dem ich mich aufhielt und das weit außerhalb der großen Bahnhofshalle gelegen war, mußte ich nun zunächst zu einer Treppe gelangen. Das erwies sich schon bald als außerordentlich weiter Weg, da sich der nächste Abgang erst irgendwo innerhalb der Halle befand. Dort angekommen, mußte ich feststellen, daß sich aufgrund der engen Treppe die Reisenden an ihrem oberen Ende massiv stauten – ein Traum, wenn man es eilig hat. So blieb mir genug Zeit, eine nebenan angebrachte Anzeigetafel zu überfliegen und herauszufinden, daß neben dem von mir anvisierten Zug nach Essen tatsächlich nun Gleis Acht als Abfahrtsort angegeben war. Ich hatte mich also nicht verhört.

Schließlich war auch ich an der Reihe, die Treppe benutzen zu können. So schnell es angesichts der vielen Menschen eben ging, eilte ich hinab, der Ausschilderung folgend durch den engen Tunnel hinüber zum Nachbarbahnsteig und die dortige Treppe wieder hinauf, dabei immer darauf achtend, weder mit meinem Rucksack noch mit meinem Koffer meine Mitmenschen mehr als unbedingt nötig zu belästigen. Oben angekommen, gewahrte ich einen ICE, der an Gleis Acht bereitstand, und direkt vor mir eine weit offen stehende Tür. Eins, zwei, fix war ich drin und atmete tief durch. Geschafft.

Ich weiß nicht, was mich mißtrauischer machte – die Tatsache, daß der Zug trotz der angekündigten Verspätung bereits da war, oder die, daß ich mich bei dieser aufs Geratewohl ausgewählten Tür tatsächlich in der ersten Klasse befand. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen!

Ging es auch nicht. Ein Blick auf den kleinen Monitor neben der Tür belehrte mich, daß ich mich im falschen Zug befand. Dort stand nicht Essen, sondern, soweit ich mich angesichts der Hektik, in die ich gleich darauf erneut ausbrach, korrekt erinnere, Hamburg. Auch das noch! Samt Koffer und Rucksack machte ich kehrt und stand kurz darauf wieder auf dem Bahnsteig. Aber wenn das hier auf Gleis Acht der Zug nach Hamburg war, überlegte ich, wie sollte dann der Zug nach Essen mit nur fünf Minuten Verspätung ebenfalls von hier abfahren, war doch seine eigentliche Abfahrtszeit bereits heran? Da stimmte doch was nicht!

Ich schaute auf den Anzeiger, der sich auch hier neben der Treppe befand, und glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können. Essen, Gleis Sieben, stand dort. Gleis Sieben? Da kam ich doch gerade her! Wollen die mich foppen? Während ich mich ein weiteres Mal fragte, ob die bei Der Bahn sowas eigentlich absichtlich machen, bahnte ich mir bereits hektisch den Weg zurück. Treppe runter, durch den Tunnel, Treppe rauf! Diesmal brauchte ich keine Beschilderung, um den Weg zu finden. Oben angekommen, stellte ich fest, daß tatsächlich ein ICE auf Gleis Sieben bereitstand. Und obwohl ich immer noch in Eile war, nahm ich mir diesmal die Zeit, auf den Zielanzeiger zu schauen. Essen Hbf. Na immerhin. Und wo ist die erste Klasse? Na wo wohl. Am Ende des Bahnsteigs. Immerhin an dem, der sich in der Bahnhofshalle befand. Da war der Weg wenigstens nicht ganz so weit.

Eine offene Tür mit der nebenstehenden großen Eins empfing mich am letzten Wagen des Zuges. Ich stieg ein und begab mich auf Platzsuche. Als ich schließlich an der nächsten Tür und gleichzeitig am Ende des Zuges angekommen war, mußte ich wohl oder übel einsehen, daß kein einziger Sitz mehr frei war und ich die weitere Fahrt über würde stehen müssen. Na gut. Mittlerweile konnte mich das auch nicht mehr wirklich erschüttern. In einem Anflug von Galgenhumor fiel mir der gute alte Spruch wieder ein, den wir in den Zeiten der DDR bereits auf die Deutsche Reichsbahn angewandt hatten, der nun aber auch perfekt auf Die Bahn zu passen schien:

Die Bahn – Genießen Sie die Fahrt in vollen Zügen!

Glücklicherweise würde diese Fahrt nur runde fünfundvierzig Minuten dauern. Das könnte ich wohl aushalten.

Doch noch fuhr der Zug nicht. Ich verstaute meinen Koffer und meinen Rucksack, so gut es ging, damit sie sich nicht im Weg befanden, und stand dann im Türraum des Waggons. Auf dem Boden neben mir hatte sich eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoß niedergelassen, die in kurzen Abständen auf den Schaffner, der draußen auf dem Bahnsteig neben der Tür stand, einredete. Aus dem, was sie sagte, konnte ich entnehmen, daß ihr auf dem Weg zum Zug der Wind die Fahrkarte aus der Hand gerissen und auf ein Gleis geweht hatte, so daß sie sie nicht wiederbekommen konnte. Nun sei ihre Freundin unterwegs, eine neue zu kaufen. Ob wir denn warten könnten? Der Schaffner war die Ruhe selbst. So sehr, daß er überhaupt nicht reagierte. Die gute Frau erhielt keinerlei Antwort und wurde von ihm komplett ignoriert. Unbeeindruckt von ihren ständigen Fragen machte er sich gerade bereit, mit seiner Kelle Abfahrtbereitschaft zu signalisieren, als in letzter Minute eine weitere Frau zur Tür gerannt kam, eine Fahrkarte hereinreichte und die Reisende auf dem Boden damit zur in diesem Moment erleichtertsten Frau der Welt machte. Dann schloß sich auch schon die Tür hinter dem inzwischen eingestiegenen Schaffner und der Zug setzte sich in Bewegung.

Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, denn der nächste Halt war der Flughafen Frankfurt. Zu meiner übergroßen Freude erhoben sich kurz vor Erreichen des Bahnhofs mehrere Fahrgäste von ihren Plätzen und begaben sich in Richtung Türen, was mir Gelegenheit gab, doch noch einen Sitzplatz zu ergattern. Erfreulicherweise fand ich einen, der erst ab Siegburg wieder reserviert war, was mir vollkommen ausreichte, denn weiter wollte ich nicht mitfahren. Ich holte meinen Koffer und meinen Rucksack aus der Nische, in die ich sie verfrachtet hatte, und setzte mich – dankbar, meinen Stehplatz im Türraum aufgeben zu können, hatte doch das bisher Erlebte das Kind der Frau offenbar so aufgewühlt, daß es die nächste Zeit im wesentlichen aus voller Kehle schreiend verbrachte. Ein Umstand, den ich nicht unbedingt aus nächster Nähe hätte miterleben wollen, was ich ohne den Sitzplatz aber wohl gemußt hätte, denn die Mutter hatte es vorgezogen, auf dem Boden des Türraums sitzen zu bleiben.

Während ich nun auf meinem Platz saß und versuchte, mich von der Hektik des Umstiegs in Frankfurt, die mich einiges an Schweiß gekostet hatte, zu erholen, konnte ich schräg über mir auf dem Monitor unter der Waggondecke die angezeigten Texte und Bilder studieren. Neben Uhrzeit, Zugnummer und aktueller Geschwindigkeit – phasenweise erreichte der Zug tatsächlich 300 km/h, so daß sich der Begriff Rennstrecke für diesen Teil der Fahrt als durchaus zutreffend erwies – zeigte mir Die Bahn auch jede Menge Werbung – für sich und ihre angebotenen Dienste.

DB Navigator:
Schneller den richtigen Platz finden
Mit der aktuellen Wagenreihung in der App.

Offenbar, so ging es mir durch den Kopf, ist die Änderung der Wagenreihung für Die Bahn mittlerweile ein Normalzustand. Warum sonst sollte sie ihrer App eine Funktion spendieren, die die – wohlgemerkt – aktuelle Wagenreihung präsentiert und diese auch noch bewerben? Und nützlich wäre eine solche Funktion ja auch nur dann, wenn man überhaupt einen Platz hat, den man finden möchte. Das war, was mich betraf, bei dem heutigen Chaos, das Die Bahn veranstaltet hatte, ja nur bei einem von drei Zügen der Fall.

Während ich noch darüber nachdachte, zeigte der Monitor bereits die nächste Werbung:

Jetzt mehr veganer & vegetarischer Genuss an Bord.
Schauen Sie gerne in der Bordgastronomie vorbei.

Nun, das reizte mich nicht so sehr. Ich fragte mich nur, warum da eigentlich nicht stand, daß durchaus nicht jeder in der so gepriesenen Bordgastronomie willkommen war, galt doch diese Aufforderung nur Leuten, die der 3G-Regel genügten. Man müßte also bereits vor Antritt der Fahrt wissen, daß einen später im Zug der Hunger ereilte. Zumindest, wenn man zu jenen gehörte, die einen Test benötigten. Was eigentlich, wenn man das ernst nehmen wollte, nach aktueller Erkenntnislage alle sein müßten. Aber lassen wir das.

Mittlerweile war wieder etwas anderes zu lesen:

Von Amsterdam über Frankfurt bis Zürich.
Geschäftsreisen macht man mit der Bahn.

Ein bitteres Lachen bahnte sich unwillkürlich seinen Weg durch meine Kehle. Also wenn Die Bahn Geschäftsreisenden denselben Service angedeihen ließ, den ich heute auf meiner Fahrt erleben durfte, dann würde sie sich unter diesen sicher kaum viele Freunde machen.

Als ich in Siegburg/Bonn den Zug schließlich verließ, war ich froh, daß meine von Der Bahn veranstaltete Odyssee nun ihr Ende gefunden hatte. Das war selbst dann noch der Fall, als mir klar wurde, daß sie mich, wenn man es genau nimmt, gar nicht dorthin gebracht hatte, wofür ich bezahlt hatte. Gebucht hatte ich eine Fahrt bis zum Bonner Hauptbahnhof. Nun aber stand ich in Siegburg, das zwar zum Einzugsgebiet von Bonn gehört, von dem aus es aber noch einer guten dreiviertelstündigen Fahrt mit der städtischen Straßenbahn bedurfte, um zum Bonner Hauptbahnhof zu kommen – einem Verkehrsmittel, das mit Der Bahn nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Immerhin war ich all dem Streß, dem ich ausgesetzt war, zum Trotz nur wenig später als ursprünglich geplant am Ziel meiner Fahrt angekommen.

Ob dieser mein Bericht über meine heutige Fahrt mit Der Bahn dazu beitragen wird, ihre Etablierung als verkehrstechnische Alternative zum Auto zugunsten von Mitwelt und Klima zu befördern? Ich bezweifle es. Was man ihm jedoch ohne weiteres entnehmen kann, ist ein Eindruck, was dabei herauskommt, wenn man für das Gemeinwohl notwendige Unternehmen wie Die Bahn auf Gedeih und Verderb auf Profit trimmt oder gar gänzlich privatisiert.

Nachtrag

Die von mir mit Spannung erwartete Rückfahrt vier Tage später – was würde da wohl passieren? – verlief zu meinem Glück deutlich entspannter. Von einem guten Rundum-Service kann jedoch auch dabei keine Rede sein.

Den Anfang machte die von einem Privatunternehmen betriebene Bahnhofstoilette am Hauptbahnhof von Köln. Abgesehen davon, daß der gesamte riesige Bahnhof offenbar nur über ein einziges Etablissement dieser Art verfügt – ich konnte jedenfalls kein zweites finden -, erwies sich dieses als unbenutzbar. Der Bereich für die männlichen Vertreter der Schöpfung war komplett gesperrt, so daß die Damen gezwungen waren, den ihren zu teilen. Das wiederum hatte aber zur Folge, daß – der blödsinnigen Idee eines zeitweiligen Neun-Euro-Tickets für einen darauf überhaupt nicht vorbereiteten öffentlichen Nahverkehr sei Dank – der Andrang derart groß war, daß die Schlangen an der Toilette endlos waren. Dort konnte sich gelassen nur anstellen, wer bis zur Abfahrt seines Zuges wenigstens noch eine Stunde Zeit und es überdies hinsichtlich der Verrichtung seines Bedürfnisses nicht übermäßig eilig hatte. Das Personal schien in der Zeit, in der ich mir das Drama vor dem Zugang zu der Anstalt anschaute, mehr damit beschäftigt sein, die Wartenden zu kanalisieren, zu betreuen und bei der Bedienung der Zugangsautomaten zu unterstützen, als daß es Zeit für die Reinigung der Anlage hätte aufbringen können.

Daß die Wagenreihung auch bei dieser Fahrt wieder einmal umgekehrt zu der eigentlich am Wagenstandsanzeiger angegebenen war, ist fast nicht notwendig zu erwähnen. Das scheint bei Der Bahn  sowieso schon der Normalzustand zu sein.

Für die Fahrgäste der ersten Klasse hatte sich Die Bahn dieses Mal etwas Besonderes ausgedacht, damit sie ihren Platz auch ausreichend würdigten, wenn sie ihn denn erreicht hatten. Für eineinhalb Waggons der ersten Klasse  – einen mußte sie sich mit dem Bordbistro teilen – gab es so statt zwei lediglich eine einzige funktionierende Tür, die sich ganz am Ende des Zuges befand. Wie einer der Fahrgäste treffend bemerkte: „Wir können froh sein, wenn nur die Tür kaputt ist.“

Immerhin waren diesmal die Toiletten funktionsfähig. Als der Zug in Hamm eintraf, stiegen plötzlich jede Menge Fahrgäste zu. Wie ich ihren Unterhaltungen entnehmen konnte, hatte man sie eine Stunde zuvor aus ihrem Zug gescheucht, der seine Fahrt aus irgendwelchen Gründen nicht mehr fortsetzte. Das kam mir bekannt vor. Mir blieb in diesem Augenblick nur, mit ihnen Mitleid zu haben und gleichzeitig froh zu sein, daß dieses Mal nicht mir dies Ungemach widerfuhr.

Die trotz pünktlicher Abfahrt am Ende zu Buche schlagende Verspätung von etwas mehr als einer halben Stunde muß bei Der Bahn in heutiger Zeit wohl schon als pünktliche Ankunft gelten, auch wenn gegen Ende der Fahrt die per Durchsage bekanntgegebenen Informationen über nicht mehr erreichbare Anschlußzüge lang und länger wurden.

Zu guter Letzt kam ich dann wohlbehalten wieder zu Hause an. Als Fazit dieser meiner Wochenendreise mit Der Bahn bleibt jedoch am Ende leider nur ein weiterer ironischer Werbespruch aus den Zeiten der guten alten Deutschen Reichsbahn:

Die Bahn – Bei uns läuft alles, bald laufen auch Sie!