Ein Ort auf dem Darß

Dieser Beitrag ist Teil 2 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Rauh weht der Wind, von Westen über das Meer kommend, über die Dünen, auf denen die Halme des Strandhafers seinem Druck nachzugeben gezwungen sind und sich tief hinunterbeugen, so tief, daß sie mit ihren Spitzen fast den Sand berühren, auf dem sie stehen. Dicke graue Wolken jagen, vom Wind getrieben, über den Himmel und auf das Land zu, wo sie dem Wald, der hinter den Dünen starrsinnig dem Druck der Lüfte trotzt, eine düstere Aura verleihen. Doch auch den Kiefern mit ihren harten Stämmen bleibt angesichts der auf sie wirkenden Kräfte nichts anderes übrig, als diesen nachzugeben. Gemeinschaftlich wenden sie sich vom Meere ab, so als wollten sie sich tiefer ins Innere des windgepeitschten Landes zurückziehen, wo es vielleicht ein wenig ruhiger zugehen mag als hier an der rauhen Küste. Doch vergebens, sie kommen ja nicht vom Fleck. Einige ihrer ganz mutigen Vertreter haben sich ein wenig vor den Rand des Waldes gewagt und den dem Meer abgewandten Hang der Dünen erobert – ein Unterfangen, für dessen Verwegenheit sie nun bitter zu bezahlen haben, sind sie doch recht einsam und allein dem Ansturm des Windes ausgesetzt, der sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften schüttelt und zaust. Ihre Äste in Richtung des nahen Meeres auszustrecken, ist ihnen nicht gelungen, und so stehen sie nun da, mit stark landeinwärts gebogenen Stämmen, die Äste ausschließlich in die gleiche Richtung gestreckt, und wirken so, als wollten sie von dem Platz, den sie sich so mühsam erobert, doch lieber wieder flüchten, um dem Winde endlich zu entkommen. Doch sie müssen verharren und für ihren kecken Vorstoß auf die Dünen Zeit ihres weiteren Lebens Widerstand leisten, wollen sie es nicht vorzeitig beendet wissen.

Und das Meer? Es ist in Aufruhr. Ob seine Wut, mit der es an den Strand brandet, sich gegen den Wind richtet, der seine Wasser so unerbittlich dem Ufer entgegenpeitscht, oder ob es mit diesem gemeinsame Sache macht, um auf das unbeweglich-gleichmütige, düstere Land einzuschlagen, ist schwer zu entscheiden. Unermüdlich rollen seine hohen, schaumbekrönten Wellen dem Strand entgegen, wo sie sich, sobald sie ihm zu nahe kommen, überschlagen und brechen, ein wütendes Rauschen ausstoßend, das, sich mit dem Stöhnen des Windes verbindend, die Luft erfüllt. Der so heftig heimgesuchte sandige Strand ist über und über mit rundgeschliffenen Steinen bedeckt, viele klein wie Kiesel, andere so groß wie eine Faust und einige wenige von größerem Umfang. Doch alle rollen sie, von der unbändigen Kraft des Wassers getrieben, unablässig hin und her, sobald eine Welle sie trifft und überspült. Diejenigen, die erst in jüngerer Vergangenheit die Oberfläche des Strandes erreicht haben, ob vom Meere angeschwemmt oder aus dem Sand herausgespült, sind meist noch unregelmäßig geformt, mit eigenwilligen Ecken und Dellen, mittels derer sie der Kraft des Wassers zu widerstehen scheinen. Doch wie die Windflüchter auf den Dünen, die dem Winde trotzen wollten, müssen auch sie für ihre Widerborstigkeit bezahlen. Jede Welle prügelt auf sie ein, immer wieder werden sie aneinandergeschlagen, bis Teile von ihnen abplatzen oder sie zerbrechen. Andere Steine aber, die es schon vor langer Zeit hierher verschlagen hat, sind im Laufe der Jahre auf diese Weise rundgeschliffen worden, haben ihre Ecken und Kanten nahezu vollständig verloren und lassen sich bereitwillig hierhin und dorthin tragen, wohin auch immer das anbrandende Wasser sie schubst. Ihr Widerstand ist ihnen längst ausgetrieben worden.

Ein solches Bild habe ich in etwa vor Augen, als ich mich am Morgen meines zweiten Urlaubstages in Prerow – des ersten nach meiner gestrigen Ankunft – auf den Weg mache, um, wieder auf den Spuren meiner Erinnerung wandelnd, dem Weststrand entgegenzuwandern. Daß meine damit entsprechend verknüpften Erwartungen sich eventuell nicht gänzlich erfüllen werden, dafür gibt es angesichts des strahlend blauen Himmels und der freundlich vom Himmel lachenden Sonne bereits gewisse Anzeichen, doch denke ich zu diesem Zeitpunkt nicht darüber nach. Und so kann ich jetzt auch noch nicht wissen, daß mir dieser Tag gänzlich andere Erlebnisse bescheren wird, als ich mir, ausgehend von meinen Erinnerungen an unsere einstigen Besuche am Darßer Weststrand in den 1980er Jahren, momentan noch vorstelle.

Da ich mir denke, daß Weststrand wohl Weststrand, sprich es gleichgültig ist, an welcher Stelle ich ihn erreiche, habe ich beschlossen, eine Wanderung zum Darßer Ort zu unternehmen, wo es einen Leuchtturm geben soll. Der Darßer Ort ist der nördlichste Ausläufer der Darß genannten Halbinsel. Zu Zeiten meiner Kindheit war es schlichtweg unmöglich, dorthin zu gelangen, denn man hatte das gesamte Areal zum Sperrgebiet erklärt. Ohne es jemals weiter hinterfragt zu haben, hatte ich stets angenommen, das sei des Grenzschutzes wegen geschehen und daß sich dort wohl eine Basis der Grenztruppen der DDR befunden hätte. So bin ich doch einigermaßen überrascht zu erfahren, daß es die NVA, die Nationale Volksarmee des kleinen sozialistischen Landes, gewesen war, die hier einen Manöverhafen für die Volksmarine betrieben und daher das diesen umgebende Gelände weiträumig abgesperrt hatte. Mit dem Ende der DDR war der dann überflüssig und das Gelände somit freigegeben worden, so daß es heute zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft gehört. Doch wie dem auch sei – für uns waren damals die Auswirkungen dieselben. Wir hatten nicht dorthin gekonnt. Für mich ist das Grund genug, die Reise in meine Erinnerungen mit der Entdeckung des für mich Unbekannten zu verbinden und als Ziel meiner Wanderung eben diesen Darßer Ort mit seinem Leuchtturm auszuwählen.

Der Weg, das weiß ich noch von früher her, würde mich hinter dem Ort in den Darßwald und auf der gesamten Strecke durch diesen hindurch führen. Ich freue mich also auf eine schöne Wanderung im Schatten des Waldes und mache mich auf den Weg. Nun ist, wenn man sich in Prerow befindet, der Darßwald nicht sonderlich schwer zu finden. Man geht einfach eine der nach Westen führenden Straßen des Ortes entlang, und zwar solange, bis man die letzten Häuser erreicht hat. Genau dort beginnt der Wald. Also ganz einfach.

Für mich ist es sogar noch bedeutend einfacher, denn man hat in Prerow jede Menge Wegweiser aufgestellt, die alle ganz einheitlich gestaltet und nicht zu übersehen sind. Und auf nahezu jedem ist der Leuchtturm am Darßer Ort verzeichnet. Ich bin mir ziemlich sicher, daß es diese Wegweiser damals in den Achtzigern noch nicht gegeben hat, würde mich darauf aber auch nicht festlegen wollen. Man hat sie meist an Weg- oder Straßenkreuzungen aufgestellt, wo ihre Arme die in den jeweiligen Richtungen liegenden Ziele anzeigen. Liegen diese an einem Gewässer oder haben mittelbar mit einem zu tun, leuchten die Richtungsanzeiger in tiefem Blau, andernfalls sind sie in Gelb gehalten. Für weiter entfernt liegende Orte hat man in der Regel eine Entfernungsangabe hinzugefügt. Ein jeder dieser Wegweiser ist mit einer Holzschnitzerei gekrönt, deren jeweilige Darstellung entweder auf seinen Standort Bezug nimmt oder aber etwas zeigt, das man im allgemeinen mit dem Meer oder im besonderen der Ostsee assoziiert. Der Wegweiser, den ich an der durch den Ort führenden Waldstraße dort antreffe, wo der Darßwald beginnt, zeigt in seiner Schnitzerei zwei sich vom Meer abwendende Windflüchter auf sandigem Untergrund. Ich bin untrüglich auf dem Weg zum Weststrand!

Wegweiser in Prerow
Zum Leuchtturm? Bitte rechts!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Ich muß, so bedeutet mir der freundliche Richtungsanzeiger, dem Bernsteinweg folgend noch ein wenig am Waldrand entlanggehen, bis ich ein Stück weiter auf seinen Gesellen treffe, der mich unmißverständlich in den Wald hineinbeordert. Ich folge bereitwillig dem gewiesenen Weg.

Bereits nach wenigen Schritten bin ich auf allen Seiten von Bäumen umgeben. Der Waldweg führt schnurgerade zwischen ihnen hindurch, was mich jedoch nicht verwundert, denn an diese Eigenart der hiesigen Waldwege erinnere ich mich noch gut von früher her. Es ist früher Vormittag und ich bin praktisch allein im Wald. Zumindest, was die Menschen betrifft. Von den Rothirschen und Rehen, die es hier geben soll, ist zwar auch weit und breit nichts zu sehen, dafür veranstalten die Vögel dieses Waldes ein lautstarkes Konzert. Eine Weile finde ich Gefallen an dem Gedanken, daß sie das allein für mich tun. Hier und da erhasche ich auch einen Blick auf einen der flinken Gesellen, die um mich herum zwischen den Ästen umherflattern, doch verharren sie kaum einmal lang genug irgendwo, daß es sich lohnte zu versuchen, sie auf ein Foto zu bannen. Das stört mich jedoch nicht, denn noch bin ich sowieso damit beschäftigt, die wunderbare Ruhe des Waldes zu genießen, in die sich das Konzert der Vogelstimmen ganz wundersam einfügt, ohne sie auch nur im mindesten zu stören. Rings um mich herum malt die Sonne bunte Lichtflecken auf das satte Grün des Waldbodens, der über und über mit niedrigen Sträuchern bestanden ist. In vollkommener botanischer Ahnungslosigkeit und nur auf meine Erinnerungen aus der Kindheit bezugnehmend, identifiziere ich sie kurzerhand als Blau- und Preiselbeersträucher, ohne genau zu wissen, ob das auch stimmt. Dort, wo keine von ihnen stehen, ist der Boden über und über mit Nadeln bedeckt, die die Kiefern, die hier im Wald recht reichlich vertreten sind, fallengelassen haben. An einigen der Bäume entdecke ich die markanten Einschnitte, mit denen man ihnen das Harz abgezapft hat. Dem Verwitterungs- und Alterungsgrad dieser Einschnitte nach zu urteilen, muß das aber schon eine ganze Reihe von Jahren her sein.

Nach einigen Minuten nähert sich von links ein anderer Weg, der sich kurz darauf mit dem meinen vereint, um dann weiter in direkt westlicher Richtung durch den Wald zu führen. Ich bin nun auf einer Art Waldstraße unterwegs, unbefestigt zwar, aber ungleich breiter als der Weg vorher. Wieder dauert es nicht lange, da gelange ich an eine Wegkreuzung. Zwei hölzerne Tafeln stehen auf je einer Seite des Weges. Die linke ruft mir ein freundliches „Willkommen“ zu, um mich gleichzeitig darauf hinzuweisen, daß ich mich hier im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft befinde. Außerdem erklärt sie mir mittels einer Reihe von Piktogrammen, was ich hier im Wald so alles doch bitte zu unterlassen habe. Ihr Gegenstück auf der rechten Wegseite informiert mich darüber, daß ich nun auf dem Leuchtturmweg unterwegs bin, und zeigt mir zwecks Orientierung eine Karte des Gebiets.

Auf der anderen Seite des hier kreuzenden Querwegs, über den von den beiden Tafeln nichts weiter verraten wird, führen zwei Wege weiter. Der eine bildet hinsichtlich Richtung und Beschaffenheit die direkte Fortsetzung meiner Waldstraße, der andere schlägt sich nach halbrechts zwischen die Bäume und ist ganz offensichtlich ein Waldweg wie der, auf dem ich anfangs unterwegs gewesen war. Finde ich allein das schon recht verlockend, hat er mich definitiv für sich gewonnen, als ich das Schild lese, daß man direkt an seinem Anfang aufgestellt hat. „Für Radfahrer nicht geeignet!“ lese ich darauf.

Kurz überlege ich, ob das auch wirklich der Leuchtturmweg ist oder ob ich es nicht doch lieber mit der Waldstraße versuchen soll, doch dann beschließe ich, mir darüber keine großen Gedanken zu machen und gehe los. Die Richtung stimmt in etwa und irgendwo am Weststrand werde ich schon rauskommen. Und wenn es nicht am Leuchtturm ist, kann ich ja immer noch am Strand entlang dorthin gelangen.

Der Weg führt mal auf, mal ab über den hügeligen Waldboden und windet sich mal links, mal rechts herum zwischen den Bäumen hindurch. Die Waldstraße links von mir ist schon bald nicht mehr zu sehen, da sich mein Weg immer weiter von ihr entfernt. Wieder umfängt mich die Ruhe des Waldes, in der mittlerweile die gefiederten Freunde ihr Konzert eingestellt haben, um nur noch vereinzelt hier und da vor sich hin zu zwitschern. Der Weg ist recht bequem zu gehen und, so denke ich bei mir, eigentlich auch mit dem Rad durchaus befahrbar. Wenn er nicht irgendwann später unwegsamer werden sollte, müßte man auf ihm doch eigentlich recht gut radeln können. Gerade will ich mich über das an seinem Anfang aufgestellte Schild freuen, weil es mir dennoch die Radfahrer vom Halse hält, da klingelt es auch schon herausfordernd hinter mir. Kaum daß ich einen Schritt zur Seite gemacht habe, kommt auch schon ein Radfahrer an mir vorbeigekeucht. Für ein „Danke“ fehlt ihm wohl die Luft. Meinen Fuß erhebend, um weiterzugehen, werde ich gleich wieder gestoppt, als eine Radfahrerin an mir vorüberfährt. Sie bleibt ebenso stumm. Mich vergewissernd, daß nun niemand mehr kommt, setze ich meinen Weg fort und vermeide nun jegliche voreiligen Danksagungen in Gedanken.

Auf dem Leuchtturmweg im Darßwald
Waldesruh.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nach einer Weile bemerke ich, daß der Weg langsam, doch kontinuierlich nach rechts strebt. Wenn das so weiter geht, denke ich, bin ich irgendwann in nördlicher Richtung unterwegs. Das wird mich dann aber nicht zum Weststrand bringen! Schon überlege ich, ob es nicht doch besser wäre, wieder zurückzugehen und den anderen Weg zu nehmen, da tritt der meine zwischen den Bäumen hervor und trifft auf eine weitere Waldstraße, die zwar tatsächlich zunächst direkt nach Norden führt, doch bereits wenige Meter voraus eine scharfe Linkskurve einschlägt. Weil das offenbar ganz in seinem Sinne ist, beschließt mein Weg, diese Waldstraße von nun an zu begleiten, was er zunächst rechterhand tut, bis er schließlich, sie kreuzend, die Seiten wechselt. Mir ist das ausgesprochen recht, denn die Waldstraße wird, ihrem Zustande nach zu urteilen, wohl recht häufig benutzt, so daß sie einen ziemlich zerfahrenen Eindruck macht. Auf ihr zu wandeln wäre in etwa so lustig wie das Stapfen in tiefem, lockerem Sand.

Während ich so dahinwandere, ändert der Darßwald immer wieder einmal sein Erscheinungsbild. Auf den Kiefernwald mit von Beerensträuchern bestandenem Boden folgt ein Mischwald, in dem sich Buchen und auch Eichen ausmachen lassen und wo es keinerlei Bewuchs auf dem Waldboden gibt. Der ist dafür dicht mit dem verwelkten Laub des Vorjahres bedeckt. Hier und da liegt auch der Stamm eines gefallenen Baumes quer oder ragt, wenn der Fall aus irgendeinem Grund nicht ganz abgeschlossen werden konnte, schräg in die Luft. Dann wieder passiere ich eine kurze Totholzstrecke, auf die ein Waldstück mit dichtem Unterholz folgt, durch dessen Gestrüpp ich mich nur ungern würde zwängen müssen, so daß ich froh über meinen doch recht gemütlich begehbaren Weg bin. Hin und wieder bemerke ich wieder einige Vertreter der fliegenden Zunft, die mich entweder neugierig beäugen oder aber ihren Tagesgeschäften nachgehen. Irgendwo hämmert ein Specht hingebungsvoll auf einen Ast ein. Er hört auch nicht damit auf, als ich direkt unter seinem Baum, auf dem ich ihn schließlich entdeckt habe, angekommen bin. Er weiß wohl sehr genau, daß er von mir nichts zu befürchten hat, weil ich es niemals in diesem Leben schaffen würde, zu ihm auf den Baum hinaufzukommen. Ich gönne ihm diese Gewißheit, bedinge mir dafür aber ein Foto von ihm aus, das er mir bereitwillig gewährt.

Bild 006.jpg
Waldarbeiter.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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So vergeht die Zeit, in der ich weiter und weiter in Richtung Westen wandere. Schnurgerade führt mich die Waldstraße und mit ihr mein sie begleitender Weg durch den Darßwald. Ich bin mittlerweile eine gute Stunde darin unterwegs, als ich schließlich an einen weiteren Querweg komme. Als ich ihn erreiche, passiere ich eine weitere Tafel wie die, die am Anfang meines Weges gestanden hatte, nur daß diese hier ihre Botschaft in die entgegengesetzte Richtung verkündet: „Für Radfahrer nicht geeignet!“ Nun gut. Jetzt weiß ich, daß dies nur der Abschreckung dient. Aber behalten wir das lieber für uns. Den Wanderern zuliebe…

Hinter dem Querweg führen Weg und Waldstraße direkt weiter. Letztere ist nun allerdings nicht mehr so sandig und zerfahren wie zuvor, sondern das glatte Gegenteil. Zwar weiterhin ungeteert und auch nicht betoniert, kann aber dennoch ein Auto bequem auf ihr fahren, wie ich kurz darauf auch unmittelbar feststellen kann, als eines an mir vorbeibraust. Die Uhr geht mittlerweile auf Elf zu, und ganz offensichtlich ist das die Zeit, zu der die Urlauber auf dem Darß endlich aufgestanden sind, denn auf der Straße ziehen nun in kurzen Abständen immer wieder Radfahrer an mir vorüber. Fußgänger sind hingegen weiterhin selten. Die sind wahrscheinlich erst kurz hinter dem Waldrand angekommen…

Als Straße und Weg eine Biegung machen, sehe ich plötzlich vor mir, worauf sie unmittelbar zulaufen und was mein erstes Ziel an diesem Tage ist: den Leuchtturm. Recht trutzig steht er da, wie er, so ganz aus roten Ziegeln erbaut, in die Höhe ragt. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die aus demselben Material errichteten Häuser, die sich, aus meiner Perspektive, vor ihm aufbauen, als seien sie seine kleine Burg. Eine den Raum zwischen den Häusern verschließende Ziegelmauer mit einem hölzernen, zweiflügeligen Tor rundet dieses Bild ab, das sich jedoch gleich wieder auflöst, als mir die ebenerdige Lage des Ganzen ins Bewußtsein dringt. Schön anzusehen sind die Bauten aber allemal. Um Schönheit allein geht es dabei allerdings gar nicht, denn den Leuchtturm hat man in den Jahren 1847 und 1848 einst errichtet, um die Schiffe auf der Ostsee vor den Untiefen der sogenannten Darßer Schwelle zu warnen. Gedanklich stolpere ich jedesmal ein wenig, wenn ich das Wort Untiefe lese, höre oder denke, gehört es doch mit seinen zwei Bedeutungen, von denen die eine das glatte Gegenteil der anderen ist, zu den Merkwürdigkeiten der deutschen Sprache. Es kann sowohl eine besonders seichte Stelle in einem Gewässer bezeichnen als auch eine besonders tiefe. Wenn man jedoch extra einen Leuchtturm errichtet, um Schiffe vor einer Untiefe zu warnen, dann kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, daß es sich hier um eine besonders seichte Stelle wie beispielsweise eine Sandbank handelt. Die Darßer Schwelle ist nun allerdings nicht einfach nur eine Sandbank vor der Küste der Halbinsel, sondern eine Bodenerhebung in der Ostsee, die sich vom Darß bis zu den dänischen Inseln Falster und Mon hinüberzieht. Um die Mannschaften passierender Schiffe auf sie aufmerksam zu machen, nahm man im Jahre 1849 den Leuchtturm am Darßer Ort in Betrieb, was ihn zu einem der ältesten Leuchttürme an der deutschen Ostseeküste macht.

Der Leuchtturm am Darßer Ort
Lichtgestalt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ganze 35,4 Meter ist er insgesamt hoch. Anfangs wurde er von einem Leuchtturmwärter betrieben, der stets die 134 Stufen hinaufsteigen mußte, die zum Umgang hinaufführen, der sich in einer Höhe von etwa dreißig Metern befindet. Zum Leuchtfeuer auf dreiunddreißig Metern waren es noch ein paar mehr. Heute wird das nur noch nötig, wenn an der seit 1978 ferngesteuerten Anlage etwas zu warten oder gar zu reparieren ist. Oder wenn Touristen zum Umgang hinaufsteigen möchten, um von dort oben die Aussicht zu genießen. Doch die tun das ja dann freiwillig. Die den Leuchtturm umgebenden Gebäude beherbergten einst ein Lotsenhaus sowie Wohnung und Dienstzimmer des Leuchtturmwärter­s, den es heute hier aber nicht mehr gibt. So dient eines mittlerweile als Café, während die anderen den Ausstellungen des Natureums ein Domizil geben, das eine Außenstelle des Deutschen Meeres­museums in Stralsund ist und seinen Besuchern den Naturraum Darßer Ort und die Ostseeküste näherbringt und sie über die hier heimischen Tierarten informiert.

Irgendwie ist mir angesichts des phantastisch schönen Wetters an diesem Ostermontag allerdings nicht so recht nach einem Ausstellungsbesuch. Und die Ostsee sowie die Natur am Darßer Ort schaue ich mir lieber aus nächster Nähe als von oben an, so daß ich sowohl auf den Besuch des Natureums als auch auf die Kraxelei auf den Turm verzichte, mir das dafür nötige Eintrittsgeld spare und mich gleich auf den Weg am Leuchtturm vorbei zum nahen Weststrand mache.

Der Weg führt mich links an dem Leuchtturmgehöft vorbei und wird unmittelbar dahinter sofort sandig, so daß ich schwer zu stapfen habe. Zu beiden Seiten wachsen zunächst noch niedrige Kiefern, die jedoch das markante Erscheinungsbild der Windflüchter vermissen lassen, was mich etwas wundert, entspricht dies doch so gar nicht meiner Erinnerung an den Weststrand. Doch kann ich zunächst nicht weiter darüber nachdenken, denn ich werde durch ein kleines metallenes Modell abgelenkt, daß man auf der rechten Wegseite aufgestellt hat und das das hiesige Gelände von der Ostsee bis zum Leuchtturm zeigt. Eine Tafel erklärt mir, daß entlang der Küste, die den Weststrand des Darß bildet, und auch am südlich gelegenen Fischland von der Ostsee bis zum heutigen Tag beständig Land abgetragen und zur Nordspitze des Darß transportiert werde, wo sich die Sedimente wieder ablagerten und neues Land bildeten. Dort allerdings, wo ich mich gerade befinde, gehe jedes Jahr Land verloren, so daß davon auszugehen sei, daß es den Leuchtturm in etwa fünfzig Jahren wohl nicht mehr geben werde. Ui!! Da ist es ja gut, daß ich heute hierher gekommen bin. Wer den Leuchtturm also noch einmal sehen möchte – viel Zeit ist nicht mehr.

Ich stapfe weiter und lasse die Kiefern hinter mir. Der Sandweg führt mich jetzt über eine ganz klassische, mit Strandhafer bewachsene Düne, fällt dahinter ab und entläßt mich auf einen breiten, sonnenbeschienenen und nahezu windstillen Sandstrand, an den die spiegelglatte Ostsee – ein wenig lustlos, wie mir scheint – heranplätschert.

Am Weststrand des Darß
Ich suche den windgepeitschten, steinigen Weststrand. Bin ich hier richtig?
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nun, ich gebe es zu – das ist nicht so ganz das, was ich erwartet habe. Rauhe Winde, aufgewühltes Wasser mit hohen Wellen, einen von endlos vielen Steinen bedeckten und durchsetzten Sandstrand – das ist in meiner Erinnerung der Weststrand immer gewesen. Doch davon ist hier weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen stehe ich hier an einem Stück Ufer, das sich kaum von dem unterscheidet, wie ich es vom Prerower Nordstrand kenne. Es fehlen eigentlich nur die Strandkörbe.

Links und rechts des hier endenden Weges haben sich Leute im Sand niedergelassen und genießen die Sonne. Andere wandern nahe am Wasser den Strand entlang, einige scheinen irgendetwas zu suchen, denn sie bücken sich immer wieder hinunter, nehmen etwas auf, prüfen es und lassen es wieder fallen. Muschelsucher vermutlich. Hinter den im Sand Lagernden – und das ist eigentlich der einzige Unterschied zum Strand vor Prerow – fällt die Düne in einer regelrechten Steilwand nahezu senkrecht ab. Allerdings ist diese nur etwa zwei Meter hoch und besteht vollkommen aus Sand. Vermutlich sieht sie nach jedem Tag mit rauherem Wind als heute etwas anders aus.

Als ich den Strand erst in nördlicher und dann in südlicher Richtung entlangblicke, muß ich endgültig einsehen, daß der Weststrand hier ganz anders geartet ist, als es meine Erinnerung mir sagt. Und das liegt nicht nur am Wetter. So vermisse ich ein wenig die wilde Urwüchsigkeit der zerzausten Dünen und der Windflüchter, von denen es hier wirklich keinen einzigen gibt. Auch von den so zahlreich vorhanden sein sollenden Steinen ist nur wenig zu sehen. Ich entdecke einen schmalen Streifen, als ich hinunter zum Wasser gehe, doch von dem Weststrand, in dessen breiten Steinfeldern ich als Kind so eifrig nach Hühnergöttern, versteinerten Meerestieren und Bernstein gesucht habe, ist das weit entfernt. Bernstein und Versteinerungen von Meeresbewohnern habe ich zwar nie gefunden, doch das Suchen hat mir immer Spaß gemacht. Und Hühnergötter – also Steine mit wenigstens einem Loch darin – gab es immerhin einige zu finden.

Ich bleibe ein wenig am Saum des Wassers stehen, das so leise an den Strand schwappt, daß ich mir kaum Sorgen machen muß, es könnte meine Füße überspülen. Draußen auf dem Meer, eine ganzes Stück vom Strand entfernt, ragt ein dickes, braunes Etwas aus dem Wasser, das sich leicht gen Süden neigt. Rund, vielleicht eineinhalb oder zwei Meter im Durchmesser, sieht es aus wie das Ende eines überaus mächtigen Pfahls, das etwa zwei Meter über die Wasseroberfläche reicht. Was das genau ist – ich weiß es nicht zu sagen. Auch nicht, aus welchem Material es wohl besteht. Von der Färbung her könnte es aus Holz sein. Aber dann hätte das Meer es sicher längst zerlegt. Ich grüble nicht weiter darüber nach, denn viel interessanter ist das, was sich auf diesem mysteriösen Ding befindet. Eine kleine Kolonie Kormorane hat es sich dort in der Sonne gemütlich gemacht und genießt den warmen Tag. Einige der Vögel, so scheint mir, blicken genauso interessiert zu mir herüber wie ich zu ihnen – mit dem Unterschied, daß sie jederzeit ohne weiteres den Abstand zwischen uns verringern könnten, wenn sie denn nachsehen wollten, wer sie hier vom Strand aus beäugt. Da sie jedoch bleiben, wo sie sind, ist ihr Interesse wohl doch nicht so groß.

Kormorane vor dem Darßer Weststrand
Wo Kormorane Urlaub machen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Auch ich genieße das schöne Wetter, über das ich mich wirklich nicht beklagen kann. Wie ich jedoch so auf das Meer hinausschaue, dessen spiegelglatte Oberfläche in der Sonne glitzert, vermisse ich doch ein wenig den rauhen Wind und die von ihm an Land getriebenen hohen Wellen, an die ich mich aus meiner Kindheit so gut erinnere. Schmunzelnd denke ich an eine Begebenheit zurück, die sich in einem unserer damaligen Urlaube zutrug, als wir wieder einmal zum Weststrand gewandert waren, den wir nun entlanggingen. Es war ein ganzes Stück weiter südlich gewesen und der Weststrand präsentierte sich an diesem Tag von seiner wilden Seite. Graue Wolken trieben über den Himmel und gaben der Sonne nur ab und zu Gelegenheit, einen ihrer Strahlen zwischen ihnen hindurch zur Erde zu schicken; ein rauher Wind vom Meer warf die hohen Wellen vor sich her auf den Strand; unter unseren Schuhen knirschten die Steine, die wir mit jedem Schritt aneinanderpreßten und umherwarfen und zwischen denen sich Stränge grünen Seetangs verfangen hatten, der immer wieder versuchte, unsere Füße zu umschlingen und uns am Vorwärtskommen zu hindern. Ein Stück vom Wasser entfernt, dort wo die Steine Platz für den Sand ließen, hatten sich vor der Düne, über der hier und da die Kronen vereinzelter Windflüchter aufragten, einige Leute vereinzelt kleine Refugien inmitten nahezu kreisrund aufgeschichteter Sandwälle geschaffen, die sie leidlich vor dem Wind schützten. In einer dieser kleinen Sandburgen lag ein Pärchen mittleren Alters, beide splitterfasernackt wie all die anderen Leute auch, die hier am Weststrand ihrer Leidenschaft für die Freikörperkultur frönten, wofür sie bereit waren, dem Wetter und dem Wind zu trotzen, der doch gehörig blies. Das tat er so hingebungsvoll, daß es ihm gelang, die Temperatur, die an diesem Tag sowieso schon nicht sonderlich hoch war, in unserem Empfinden noch einmal gewaltig nach unten zu drücken, so daß wir uns nicht nur wetterfeste Jacken angezogen, sondern deren Kragen auch noch hochgeschlagen hatten, als wir so den Strand entlangstapften auf dem Weg zu einem der weiter nördlich gelegenen Dünenübergänge, hinter dem wir dann einen Weg zurück nach Prerow zu finden hofften. Dabei kamen wir auch an dem nackten Paar vorüber, das trotz des unfreundlichen Wetters gelassen in seiner Sandburg lag, das Leben genoß und uns Wanderer neugierig beäugte. Als wir genau auf ihrer Höhe angelangt waren, stieß die Frau dem neben ihr liegenden Mann ihren Ellenbogen in die Seite und sagte, als er sich leicht aufrichtete, um zu sehen, was es gäbe, in laut vernehmlichem Ton, der keine Rücksicht darauf nahm, ob wir sie hören konnten, zu ihm: „Guck mal da! Für die einen ist Sommer, für die anderen Winter!“

In der Tat war die gewaltige Diskrepanz zwischen ihrem und unserem Erscheinungsbild überaus skurril – so sehr, daß wir noch lange danach über diese merkwürdige Situation lachen mußten und der so überaus treffende Kommentar dieser Frau in unserer Familie zu einem geflügelten Wort wurde, das immer dann zum Einsatz kam, wenn uns eine vergleichbare Situation über den Weg unseres Lebens lief.

Der Weststrand am Darßer Ort
Keine Steine, keine Windflüchter, keine Wellen. Und doch der Weststrand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Nun, hier und heute lagern keine Anhänger der Freikörperkultur am Strand, obwohl das sonnige Wetter mit dem strahlend blauen Himmel sehr dazu einlädt. Vielleicht ist es ihnen noch nicht warm genug.

Nachdem ich eine Weile auf das Meer hinausgesehen und die am Horizont vorbeiziehenden Schiffe beobachtet habe – hier am Weststrand ist das Meer glücklicherweise völlig windradfrei -, schließe ich mich den Leuten, die den Strand entlangwandern, an und laufe die Wasserkante entlang in nördlicher Richtung. Einen wirklichen Plan, wie es von hier an weitergeht, habe ich nicht, lediglich die vage Idee, daß ich versuchen könnte, über die Spitze des Darß‘ zum Nordstrand zu gelangen, um auf diesem dann zurück nach Prerow zu wandern. Nun, da ich den schmalen Streifen Steine in der Nähe des Wassers gesehen habe, vermute ich, daß die von mir zuvor bemerkten Sucher wohl eher auf Bernstein und Hühnergötter aus sind als auf Muscheln. Ich glaube allerdings nicht, daß sie hier viel Erfolg mit ihrer Suche haben werden. Dafür ist dieser Strandabschnitt mit dem nahen Leuchtturm einfach ein viel zu stark frequentiertes Ziel.

Langsam wandere ich den Strand entlang, wobei ich stets nah am Wasser bleibe, um es beim Gehen leichter zu haben. Nach und nach nimmt die Anzahl der Menschen, denen ich begegne ab – die meisten bleiben ganz offensichtlich in der Nähe des Dünenübergangs am Leuchtturm. Ein Stück voraus kann ich jetzt eine Art hölzernen Zaun erkennen, der von der Düne aus quer über den Strand und ein Stück ins Wasser hinein führt. Geht es dort etwa nicht weiter? Ich überlege kurz, ob ich umkehren soll, verwerfe den Gedanken jedoch wieder. Wenigstens will ich wissen, was das da soll.

Es ist tatsächlich eine Sperre, die Besucher davon abhalten will, den Strand nördlich von hier zu betreten. Ein Schild erklärt mir den Grund. Die Nordspitze des Darß‘ liegt in der Kernzone des Nationalparks, den die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik in einer ihrer letzten Amtshandlungen am 12. September 1990 als Bestandteil des National­park­programms für den Osten Deutschlands ins Leben rief. Hier, so hat man es beschlossen, soll sich die Natur ohne Einfluß des Menschen entfalten dürfen, weshalb der gesamte nördliche Bereich des Darßer Ortes gesperrt ist. Niemand darf den Strand ab hier betreten, und auch das sich anschließende Landesinnere ist tabu. Weitestgehend jedenfalls. Das hat nicht nur die nach wie vor aktive Landbildung als Grund, sondern auch die zahlreichen Tier- und Pflanzenarten, die sich hier unbeeinflußt von menschlicher Aktivität entwickeln können sollen. Einige davon werden auf einer weiteren Tafel in Wort und Bild vorgestellt. Damit nun aber interessierte Menschen nicht gänzlich ausgeschlossen bleiben, hat man einen Rundwanderweg angelegt, der von hier aus in das Innere des Landes führt und über den man zu guter Letzt wieder zum Leuchtturm gelangt. Da ich keine große Lust verspüre, den Weg, der mich hierher geführt hat, einfach wieder zurückzulaufen, und überdies neugierig bin, wie die Landschaft in dem einstigen Sperrgebiet, in das wir früher nie hineindurften, beschaffen ist, gehe ich den Zaun entlang bis zur Düne und stapfe durch den hier recht tiefen Sand den steilen Anstieg hinauf, nicht ohne zunächst noch den Hinweis gelesen zu haben, daß ich doch bitte den Weg keinesfalls verlassen soll. Nun, das versteht sich von selbst.

In den Dünen am Darßer Ort
Rauh weht der Wind über die Dünen. Meistens jedenfalls. Heute jedoch nicht.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Oben angekommen, sehe ich einen Sandweg vor mir, der jedoch bereits nach wenigen Metern wieder zu Ende ist. Damit niemand mit seinen Tritten die Dünen nachhaltig beschädigt, hat man sich die Mühe gemacht, den weiteren durch die Dünenlandschaft führenden Weg mit Bohlen auszulegen. Eine gewaltige Arbeit, wenn ich bedenke, daß ich die nächste halbe Stunde unausgesetzt auf diesem Bohlenweg unterwegs sein werde – was ich in diesem Augenblick allerdings noch nicht weiß.

Von der Anhöhe der Düne kann ich in südlicher Richtung noch einmal den Leuchtturm sehen, der allerdings von einem recht technisch aussehenden Metallungetüm weit überragt wird, das ich später als Marine-Funkturm identifiziere. Nun ja, der Fortschritt hat auch vor dem Darßer Ort nicht haltgemacht. Ich bin ja schon froh, daß hier keine Windräder die Landschaft verschandeln.

Es ist eine auf den ersten Blick karge Landschaft, in der ich nun unterwegs bin. Der Boden ist purer Sand, auf dem sich nur Gräser wie der allgegenwärtige Strandhafer halten können. Hier und da unterbrechen tief dunkelbraune Flecken die Grasfläche. Dort haben sich, wie mir scheint, bereits niedrige Pflanzen angesiedelt, die ich jedoch aus der Entfernung nicht genauer bestimmen kann. Später finde ich heraus, daß es sich um die kleinen Sträucher der Schwarzen Krähenbeere handeln könnte. Vereinzelt stehen auch einige Kiefern, die jedoch so klein sind, daß sie eher wie Büsche wirken. Erst weiter im Landesinneren werden sie nach und nach größer. Und dazwischen windet sich  – mal hierhin, mal dorthin – der Bohlenweg, auf dem ich nun unterwegs bin und dessen Verlauf ich ein weites Stück voraus bereits erkennen kann, weil kaum einmal ein Hindernis den Blick verstellt. Viel mehr ist eigentlich nicht zu sehen. Und doch ist diese Landschaft von einer wahrlich wilden Schönheit. Sanft steigt der grasbewachsene Boden an, um urplötzlich wie an einem Miniaturkliff abzubrechen und eine große Sandfläche freizulegen, die jedoch bereits wieder von vereinzelten Gräsern erobert wird. Praktisch aus nächster Nähe kann ich den Übergang von der direkt auf den Strand folgenden Weißdüne zur Grau- und dahinter zur Braundüne mitverfolgen. Mit jeder von ihnen nimmt die Artenvielfalt Stück für Stück zu. Sind auf der aus purem Sand bestehenden Weißdüne weitestgehend nur Gräser lebensfähig, die jedoch recht vereinzelt stehen, so daß der Sand noch deutlich hervortritt, so ist die Vegetationsdecke auf der Graudüne bereits recht geschlossen. Hier leben auch schon andere Pflanzen, die jedoch noch von recht niedrigem Wuchs sind. In der dahinterliegenden Braundüne, der ältesten der drei, gedeihen dann schon kleine Bäume wie die Waldkiefer. Wenn wie hier am Darßer Ort neues Land gebildet wird, schieben sich auch die Dünen mit der Zeit immer weiter in Richtung Meer und die Natur erobert die neuen Areale. Es dürfte interessant sein, in einigen Jahren wieder hierher zu kommen und zu sehen, wie sich das Land verändert haben wird[1]Mehr Informationen zu den verschiedenen Dünenarten finden sich in dem Blog marionsostsee.de..

In den Dünen am Darßer Ort
Unterwegs auf Bohlen durch Weißdüne, Graudüne und Braundüne. Und dahinter wieder Meer.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Als ich ein Stück auf dem Weg vorangekommen bin, kann ich in einer Lücke zwischen den niedrigen Bäumen, auf die mein Weg mit seinem Schlängelkurs zusteuert, wieder eine bis zum Horizont reichende Wasserfläche erkennen. Und weil das nur erneut die Ostsee sein kann, dürfte ich hier wohl direkt auf die andere Seite der Darßer Nordspitze blicken. Ich vermute daher, daß der Weg, dessen Ziel der in meinem Rücken gelegene Leuchtturm ist, hinter dieser Lücke einen Schwenk nach rechts machen wird – und behalte recht.

Als ich den Knick, den der Bohlenweg hier vollzieht, erreiche, schaue ich vor mir auf eine nahezu ebene Graslandschaft, die zunächst von einigen kleineren Wasserflächen durchbrochen wird, bevor sich dahinter die endlose See erstreckt. Diese Wasserflächen, deren Ufer von hohem Schilf eingerahmt werden, sind sogenannte Brackwasserseen. Die hier an der Nordspitze des Darß‘ immer noch stattfindende Landbildung führte durch die fortschreitende Sandablagerung zur Bildung von Nehrungen und – als diese sich schließlich schlossen – zur Abtrennung der umfaßten Wasserflächen von der Ostsee, den Brackwasserseen. Derzeit gibt es hier am Darßer Ort drei größere dieser Seen und einige kleinere.

Mich führt mein Weg als erstes zum Libbertsee, den es noch gar nicht so lange gibt. Er wurde erst in den 1950er Jahren von der Ostsee abgetrennt. Seitdem sinkt sein Salzgehalt stetig, und weil auch kein Frischwasser mehr in ihn einströmen kann, verlandet er zusehends. Irgendwann wird er möglicherweise sogar austrocknen. Doch noch ist es lange nicht soweit. Und so präsentiert sich mir der Libbertsee als ruhige, ausgedehnte Wasserfläche, eingerahmt von einem wogenden Meer von Schilf. Ein wahres Paradies für Wasservögel. Benannt hat man ihn übrigens nach Friedrich Libbert, einem Pflanzensoziologen und Darßforscher, der von 1892 bis 1945 lebte.

Am Darßer Ort
Ein See an der See. Der Libbertsee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Damit mittelgroße Darßwanderer wie ich einen besseren Ausblick auf die Landschaft haben mögen, hat man freundlicherweise eine hölzerne Aussichtsplattform eben dort aufgestellt, wo mein Bohlenweg nun unvermittelt endet. Um den Paradiescharakter der Landschaft für Wasservögel zu unterstreichen, hat man ihr den Namen „Entenplattform“ gegeben. Neugierig steige ich hinauf, doch die Enten unternehmen wohl gerade einen Ausflug. Ich kann jedenfalls weit und breit keine entdecken. Lediglich ein einzelner Schwan zieht auf der Weite des Libbertsees einsam seine Bahn.

Die Weite der Landschaft zieht mich jedoch in ihren Bann, und so bleibe ich eine ganze Weile hier oben stehen und schaue einfach nur über das Land. Ich spüre, wie sich eine angenehme innere Ruhe in mir ausbreitet. Hier gibt es keine Hast, keine Hektik, keine Eile, kein Sich-beeilen-müssen und kein Schnell-noch-irgendetwas-fertigbekommen. Hier gibt es nur die Beschaulichkeit im Winde sanft sich wiegenden Schilfs, das leichte Gekräusel der Wasseroberfläche und die langsam am Himmel entlangziehenden Wolken. Und natürlich den einsamen Schwan dort draußen auf dem See, der das Wort „Termine“ ganz sicher noch nie gehört hat. Ach, könnte ich doch einfach hier bleiben…

Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, als ich schließlich wieder am Fuße der Treppe, die zur Aussichtsplattform hinaufführt, ankomme und meinen Weg fortsetze. Noch immer besteht der Boden aus Sand, doch man hat ihn nun mit einer Art sehr grober Holzspäne bestreut, auf denen es sich recht bequem laufen läßt, so daß ich zumindest nicht wieder anfangen muß zu stapfen. Da es nun keine Bohlen mehr gibt, hat man vorsichtshalber in regelmäßigen Abständen links und rechts des Wegs kleine Pfosten eingeschlagen, an denen entlang man zu beiden Seiten je einen Draht gespannt hat, damit auch wirklich der Unachtsamste unter den Menschen begreifen kann, daß man den Weg nicht verlassen soll. Nun ist es keineswegs so, daß man nicht mühelos darüber hinwegsteigen könnte, doch das erforderte schon mutwillige Mißachtung dieses nicht gerade dezenten Hinweises, die Landschaft außerhalb des Weges doch bitte nicht zu betreten.

Es sind nur wenige Meter, die ich gehen muß, da führt mich der Weg in ein kleines Kiefernwäldchen. Hier ist der Belag auf dem Sand nicht mehr erforderlich, denn dieser ist nun bereits so festgetreten, daß ich auf einem gut begehbaren Waldweg unterwegs bin. Kurz darauf erreiche ich eine Stelle, an der dieser einen Neunzig-Grad-Knick nach Süden macht und sich somit endgültig zurück in Richtung Leuchtturm wendet. Bevor ich ihm jedoch folge, ersteige ich eine weitere Aussichtsplattform, die man an dieser Stelle errichtet hat. Auch ihr hat man einen Namen gegeben, der sich auf Tiere bezieht, die man von hier aus sehr gut beobachten können soll: „Adlerplattform“. Nun, mit den Seeadlern habe ich genauso viel Glück wie mit den Enten zuvor – es sind weit und breit keine zu sehen. Das macht aber nichts, denn erneut werde ich mit einem phantastischen Landschaftspanorama dafür entschädigt.

Libbertsee am Darßer Ort
Libbertsee. Schilf. Ostsee. Und ein weiter Himmel.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Hinter den Bäumen rechts von mir kann ich gerade noch erkennen, daß dort ein weiterer Brackwassersee zu finden ist, der, wie ich später nachschlage, den Namen Fukareksee trägt. Auch er ist nach einem Forscher benannt, der sich eingehend mit der Naturkunde des Darß‘ beschäftigt hat. In diesem Fall handelt es sich um Franz Fukarek, der von 1926 bis 1996 lebte. An diesem See kann man die Veränderlichkeit der hiesigen Landschaft besonders gut studieren, wenn man genügend Zeit mitbringt. Von der Ostsee durch Sandablagerungen abgetrennt, ist der See erst in den 1980er Jahren entstanden. Vor einiger Zeit wurde jedoch an seinem Nordende wieder etwas Land abgetragen, so daß sich erneut ein Durchlaß zur Ostsee öffnete, der sich seitdem stetig vergrößert hat, wodurch der Fukareksee heute eigentlich gar kein See mehr ist, sondern eher eine Meeresbucht. Doch wer weiß, wie sich das angesichts der Dynamik, mit der hier an der Nordspitze des Darß‘ immer noch Land entsteht, sich verändert und gegebenenfalls auch wieder abgetragen wird, in der Zukunft entwickeln wird. So lange, daß ich das aus erster Hand feststellen kann, will ich allerdings nicht verweilen. Aber ich kann ja in ein paar Jahren noch einmal hier vorbeischauen…

Von der Adlerplattform setze ich meine Wanderung schließlich fort. Bereits nach wenigen Metern schwenkt der Weg weiter nach Südwesten und führt nun am Rand des kleinen Wäldchens entlang. Da ich jetzt die unmittelbare Nachbarschaft des Wassers verlassen habe und sich rings um mich hohe Bäume befinden, ist alsbald der Wind verschwunden und es wird mir im Lichte der strahlenden Sonne schnell recht warm. Nach all den fast schon winterlich kühlen Tagen, die es in diesem Frühjahr bisher gegeben hat, ist mir das durchaus angenehm. Und auch die Tiere des kleinen Waldes locken Licht und Wärme hervor. Direkt vor mir auf dem Weg gewahre ich unvermittelt eine schwarze gewundene Linie, die sich, als ich genau hinschaue, auch noch bewegt. Ich halte inne und beobachte, wie sich eine schwarze Kreuzotter gewandt von einer Seite des Weges zur anderen schlängelt[2]Ich bin zwar kein Experte, doch von einer Eidechse scheint mir das Tier weit entfernt zu sein. Nach einigen Vergleichen mit einschlägigen Bildern habe ich mich schließlich entschieden, die Schlange … [Weiterlesen]. Drüben angekommen, verschwindet sie gemächlich im hohen Gras.

Schwarze Kreuzotter am Darßer Ort
Schlangenlinie.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ein paar Meter weiter passiere ich einen großen Ameisenhaufen, auf dem die unzähligen kleinen Tierchen ein mächtiges Gewimmel veranstalten, das sie in der näheren Umgebung fortsetzen. Obwohl – verglichen mit den Ameisen, denen man gewöhnlich in Städten so begegnen kann, sind diese hier doch recht groß. Ich halte sie für Rote Waldameisen, die es hier in der Gegend geben soll.

Schließlich verläßt der Weg den kleinen Wald und führt hinaus auf eine große Freifläche, die auf mich zunächst den Eindruck einer Mischung aus Wiese und Feld macht, bis ich registriere, daß das, was sich da so anmutig im nun erneut etwas auffrischenden Winde wiegt, schon wieder Schilf ist. Ein Stück voraus bemerke ich eine dritte Aussichtsplattform, die allerdings bei weitem nicht so hoch ist wie die beiden, die ich bisher passiert habe. Sie ist eher ein erhöhtes Podest, zu dem drei, vier Stufen hinaufführen und auf dem man mehrere Holzbänke aneinandergereiht hat. Da diese voller Menschen sind, die sich hier häuslich niedergelassen zu haben scheinen – jedenfalls machen sie keinerlei Anstalten, sich alsbald wieder zu erheben -, halte ich mich hier nicht allzulang auf. Dennoch gestatte ich mir ein paar Minuten für einen Rundblick. Über die in der Nähe des Weges wachsenden Wacholderbüsche hinweg habe ich einen schönen Blick über die weite, riesige Lichtung, auf der wahrlich ein Meer von Schilfrohren im Winde wogt. Das Schilf ist schon so hoch gewachsen, daß ich trotz meiner erhöhten Stellung den See, der einen beträchtlichen Teil dieser Fläche einnehmen soll, gar nicht sehen kann. So habe ich das einigermaßen merkwürdige Bild vor Augen, das mir die Aufbauten einiger Schiffe zeigt, die direkt auf dem Schilf zu schwimmen scheinen.

Auch dieses als Ottosee bezeichnete Gewässer ist ein einst von der Ostsee abgetrennter Brackwassersee, der seinen Namen zu Ehren von  Theodor Otto trägt, der von 1880 bis 1945 lebte und Geograph an der Universität Greifswald war. Da der See den sogenannten Nothafen am Darßer Ort beherbergt, besitzt er noch heute eine Verbindung zur Ostsee, die es allerdings schon längst nicht mehr gäbe, würde man sie nicht stets und ständig freibaggern. Dieser Hafen ist aus dem einstigen Manöverhafen der Nationalen Volksarmee der DDR hervorgegangen. Trotz der Einrichtung des Nationalparks hat man ihn beibehalten, um ihn als Nothafen nutzen zu können, weil zwischen Warnemünde und Barhöft bei Stralsund kein anderer solcher Ankerplatz existiert.

Im Sumpfgebiet am Darßer Ort
Der unsichtbare Ottosee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Die Aussichtsplattform, auf der ich nun stehe, ist mit ihrem Namen „Hirschplattform“ ebenfalls nach den Tieren benannt, die man von hier aus gelegentlich beobachten können soll. Es ist wohl müßig zu erwähnen, daß ich hier natürlich keine Hirsche zu sehen bekomme. Allerdings hätte mich das angesichts der vielen laut durcheinanderschwatzenden Leute um mich herum auch ehrlich gewundert. Und da ich es den Hirschen gut nachfühlen kann, verlasse ich die Plattform alsbald wieder und setze meinen Weg fort.

Der macht nach einigen Metern wieder einmal einen Knick nach rechts, hinter dem er unvermittelt als Bohlenweg mitten in das Schilf hineinführt. Und so soll die Holzkonstruktion diesmal auch keine sandigen Dünen schützen, sondern die Füße der Wanderer trockenhalten. Das Gelände ist hier nämlich plötzlich recht sumpfig. Stellenweise spaziere ich auf den Brettern über stehendes Wasser hinweg, das ich ohne sie hätte durchwaten müssen. Das wäre vermutlich kein so großes Vergnügen gewesen. So aber komme ich trockenen Fußes gut voran, bis ich mich nach einem weiteren Knick, den der Weg diesmal nach links vollzieht, recht unvermittelt vor einer hölzernen Brücke wiederfinde. Hier durchzieht ein kleines Fließ das Schilf, in dessen ruhigem Wasser sich der Himmel spiegelt.

Auf der anderen Seite der Brücke muß ich eine Entscheidung treffen, denn von hier führen zwei Wege weiter. Beide auf Holzbohlen. Nach rechts kann ich weiter dem Rundwanderweg folgen, der mich zurück zum Leuchtturm bringt, während es geradeaus, so verspricht es mir ein Wegweiser, zurück nach Prerow geht. Nun, beim Leuchtturm war ich schon. Und von dort denselben Weg zurück durch den Darßwald zu wandern, den ich am Vormittag gekommen war, dazu habe ich keine rechte Lust. Schon als Kind habe ich das einfache Hin und wieder Zurück gehaßt. Das war mir stets zu langweilig. Und so fällt mir die Entscheidung, welchen Weg ich nehmen soll, nicht schwer. Es geht geradeaus, mitten hinein in eine Allee aus dünnen Bäumchen, die dem Frühling noch nicht so recht trauen und daher bisher davon abgesehen haben, ihr Laub sprießen zu lassen. So stehen sie mir auf meinem weiteren Weg als kahle Baumgerippe Spalier.

Während ich weitergehe, kommen mir nun mehr und mehr Leute entgegen. Offenbar kommen jetzt die Fußgänger, die sich erst am späten Vormittag auf den Weg hierher gemacht haben, so langsam an. Nach einiger Zeit hört der Bohlenweg wieder auf. Das Spalier der dünnen Bäumchen tut es ihm gleich.

Weiter geht es immer am Rande des Sumpfes entlang, bis der Weg sich plötzlich scharf nach links wendet und wieder direkt in diesen hineinführt. Prompt sind auch die Bohlen wieder da. Zum Glück, möchte ich sagen, denn nun geht es wirklich ununterbrochen mitten durch im Wasser stehendes Schilf. Angesichts der mir beständig entgegenkommenden Leute heißt es nun gut aufpassen, denn wir müssen auf dem nur mäßig breiten, geländerlosen Steg aneinander vorbeikommen, ohne daß einer von uns ins Wasser fällt. Schließlich habe ich aber das Ende des hölzernen Pfades erreicht und wieder uneingeschränkt festen Boden unter den Füßen.

Der Weg hat mich bis hierher teils um, teils durch das Sumpf- und Seegebiet des Ottosees geführt, so daß ich nun auf dessen gegenüberliegender Seite angekommen bin und mich nicht allzu weit entfernt vom Nothafen befinde. Dennoch kann ich diesen immer noch nicht sonderlich gut sehen, da nun zahlreiche Bäume zwischen mir und der freien Wasserfläche des Sees aufragen. Diesen komme ich im folgenden näher und näher, bis ich das freie Gelände schließlich verlasse und mich wieder im Wald befinde. Kurz darauf trifft mein Weg auf einen anderen, der jedoch ungleich breiter ist und durchaus als Waldstraße bezeichnet werden darf. Dieser folge ich nun in südöstlicher Richtung, die die einzig mögliche ist, denn in der anderen hindert ein Zaun mit einem geschlossenen Tor jeden Wanderer am Weiterkommen. Das ist wohl die Zufahrt zum Nothafen.

Darüber nachsinnend, ob ich denn wohl doch noch irgendwie einen Blick auf diesen Ankerplatz erhaschen könnte, bin ich noch nicht weit gekommen, als sich auf der linken Seite plötzlich ein Weg ins Gebüsch schlägt, an dem ein Schild verkündet, daß es sich nicht lohne, ihm zu folgen, da er in einer Sackgasse enden würde. Für mich ist das allerdings Grund genug, ihn genau deswegen interessant zu finden. Den was sonst sollte diesem Weg ein abruptes Ende bereiten als das Wasserbecken des in dieser Richtung liegenden Nothafens? So bin ich wenige Augenblicke später bereits ein gutes Stück von meiner Waldstraße entfernt, als ich die Richtigkeit meiner Annahme auch schon bestätigt finde. Meine Schritte haben mich an’s Ufer eines Gewässers geführt, das anhand der darin ankernden Schiffe unzweifelhaft als Hafen identifiziert werden kann.

Am Nothafen Darßer Ort
Der sichtbare Ottosee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Zwei dieser schwimmenden Gefährte machen auf mich einen überaus merkwürdigen Eindruck. Jedes von ihnen besitzt eine rechteckige Grundform, was für ein Schiff schon einmal recht ungewöhnlich ist. Auf beiden sind diverse Aufbauten zu sehen sowie jeweils ein großer Baukran. Daß es sich also um Bauschiffe handelt, ist nicht so schwer zu erraten. Doch wozu die jeweils vier hohen dunkelbraunen Stangen dienen könnten, die meterhoch an jeder Ecke der rechteckigen Schiffsbasis aufragen und deren obere Enden orangefarbenen angepinselt worden sind, so daß sie wie große aufgesetzte Hauben wirken, darauf kann ich mir keinen rechten Reim machen.

Viel mehr ist dann allerdings auch schon wieder nicht zu sehen. Die Ausfahrt aus dem Hafen befindet sich von mir aus gesehen offenbar hinter den Schiffen, so daß sie vor meinen Blicken verborgen bleibt. So wende ich mich wieder um und kehre zur Waldstraße zurück, der ich dann allerdings nur ein kleines weiteres Stück folge, denn schon nach wenigen Metern erreiche ich einen weiteren nach links führenden Abzweig. Diesmal gibt es hier anstelle eines von der Benutzung abratenden Schildes einen eben diese empfehlenden Wegweiser. Als Ziel gibt er eine am Nothafen befindliche Aussichtsplattform aus. Na, wenn das nichts ist…

Einen Fußmarsch von etwa einem halben Kilometer später bin ich am Ende der befestigten Straße angekommen, die mich unmittelbar am einzigen Kai des Hafens entlanggeführt hat und nun vor einem mit einem Tor abgesperrten Gelände ablädt, hinter dem die beiden Bauschiffe im Wasser liegen – das eine bereits in dem Verbindungskanal, der den Nothafen mit der Ostsee verbindet. Hier ist die Welt zu Ende. Oder sie wäre es, gäbe es da nicht den mit Geländern versehenen Holzsteg, der neben der Hafenzufahrt auf die Düne hinaufführt. Ob dort oben wohl die Aussichtsplattform zu finden ist?

Am Nothafen Darßer Ort
Wald, Düne, Strand und Meer – der Nordstrand des Darß.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Sie ist es. Der Ausblick, den ich von hier oben nun genießen kann, ist allerdings ein wenig nüchtern. Links verläuft die Hafenzufahrt, die, das liegt in der Natur der Sache, den Strand unterbricht. So ist es auch nicht verwunderlich, daß dieser hier mit einem ebensolchen Holzzaun abgesperrt ist, wie ich ihn zuvor am Weststrand bereits angetroffen hatte. Auf der anderen Seite des Zufahrtskanals ist nicht sonderlich viel zu sehen, da das Gelände dort ebenso hoch ist wie hier und Bäume den Blick in die Ferne behindern. So bleiben also nur die Aussicht nach Westen auf’s Meer hinaus und nach Südwesten über die Düne den Strand entlang. Dieser beschreibt eine weite Kurve vom nördlichen Ende des Darß, an dem ich mich derzeit befinde, hinüber nach Prerow, wo er dann genau von West nach Ost verläuft, wie es sich für einen Nordstrand gehört. Da der Ort vom Strand jedoch durch den Dünenwald getrennt ist, kann ich ihn von hier aus nicht sehen. Das vor mir liegende Bild beschränkt sich also im wesentlichen auf vier aufeinanderfolgende Streifen, die von mir weg in einem weiten Bogen zum Horizont führen: der Wald, die Düne, der Strand und das Meer. Unendliche Weite…

Wie ich das Meeresufer so entlangschaue, kommen mir doch leise Zweifel daran, ob die Idee, auf dem Nordstrand nach Prerow zurückzulaufen, wirklich so gut ist. Das könnte auf die Dauer dann vielleicht doch etwas eintönig werden. So entschließe ich mich, den Weg durch den Wald zu nehmen, und kehre um. Auf dem Rückweg bemerke ich am Hafenkai eine Rettungsstation, die die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger hier unterhält, und mache mir die gedankliche Notiz, daß der Hafen damit also noch einen weiteren Zweck erfüllt als nur den, in Bedrängnis geratenen Schiffen ein kurzzeitiges Refugium zu bieten.

Ich habe etwa die Hälfte der Strecke zurück zur Waldstraße zurückgelegt, als ich einen kleinen Weg bemerke, der in westlicher Richtung in den Wald hineinführt. Angesichts der vielen Urlauber, die mittlerweile hier unterwegs sind und die ich auch zuvor auf der Waldstraße ständig um mich hatte, erscheint es mir sehr verlockend, die Straßen gänzlich hinter mir zu lassen und auf einem ruhigen Waldweg zurück nach Prerow zu laufen. Gesagt, getan. Einen Schwenk und ein paar Schritte später bin ich unter den Bäumen verschwunden und von herrlicher Waldesruh umgeben.

Doch die Freude währt nicht allzulang. Denn wie ich schon nach relativ kurzer Zeit feststellen muß, führt mein stiller Waldweg direkt auf den riesigen Zelt- und Campingplatz zu, der sich von hier mehr als eineinhalb Kilometer bis zum Ortseingang von Prerow erstreckt. Und so laufe ich alsbald an einer endlosen Reihe von Campingwagen, Caravans und Zelten vorüber, die jedoch alle mehr oder weniger verlassen wirken, denn ich begegne lange Zeit keiner Menschenseele. Erst als ich mich in dieser provisorischen Stadt deren Zentrum nähere, zeigen sich dann doch ein paar ihrer Bewohner. Sie streben der einzigen Attraktion entgegen, die es heute hier zu geben scheint: ein mit lauter Musik die Gegend beschallendes Imbiß-Etablissement, das im Freien ein paar Tische und einen Grill aufgestellt hat. Daß der Lebensmittelladen und die anderen möglicherweise noch vorhandenen Geschäfte an diesem Montag hingegen alle geschlossen haben, finde ich merkwürdig, bis mir schließlich wieder einfällt, daß gerade Ostern und damit heute Feiertag ist.

Ich kann mich noch sehr gut erinnern, daß wir in einem unserer damaligen Urlaube einmal eine Wanderung den Nordstrand entlang unternommen hatten und dabei bis hierher zum Zeltplatz gekommen waren, wo wir den Strand schließlich verlassen hatten, um von hier aus irgendwie nach Prerow zurückzukommen. Auf dem Weg zwischen den Zelten und Wohnwagen hindurch hatte es uns auch zum Zentrum des Zeltplatzes verschlagen. Ob das damals schon an dieser Stelle oder irgendwo anders gewesen war, weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Daß es dort allerdings ein sogenanntes Zeltplatzkino gegeben hat, das ist mir sehr deutlich in Erinnerung geblieben. Denn dieses Kino, das es heute nicht mehr zu geben scheint – ich kann jedenfalls keines entdecken -, hatte mich damals sofort in seinen Bann gezogen. Neugierig war ich an jenem frühen Nachmittag stehengeblieben und studierte die aufgehängten Filmplakate mit den Ankündigungen, wann welcher Film laufen würde. Eines fand ich besonders lustig. Auf ihm waren drei drollig aussehende Typen zu sehen, von denen der kleinste und älteste eine Melone auf dem Kopf und einen Zigarrenstummel im Mund hatte. Bekleidet mit einem Anzug, sah er so aus, als nähme er sich überaus wichtig. Der zweite, etwas größere Mann wirkte überaus freundlich, machte aber einen etwas einfältigen Eindruck. Er trug eine Schiebermütze mit einem kurzen Schirm sowie eine Brille und war mit einer weiten Hose und einer braunen Jacke bekleidet. Unter den Arm hatte er eine abgewetzte Ledertasche geklemmt, die wie die altmodische Tasche eines Landarztes aussah. Der Dritte im Bunde war der Größte. Mit seinem Hut und seinem karierten Jackett hätte er vielleicht elegant gewirkt, wären im nicht seine Hosen deutlich zu kurz gewesen. Der Titel des Films verriet, daß die drei Figuren, denen man irgendwie ansah, daß sie alles versuchen, aber nichts auf die Reihe kriegen würden, in dem Streifen damit beschäftigt sein würden, Weichen zu stellen. Das klang skurril.

Nun war ich damals als angehender Teenager noch nicht in einem Alter, in dem ich besonders häufig ins Kino gegangen wäre. So war ein Kinobesuch für mich schon etwas absolut Besonderes. Da stand ich nun also vor diesem Filmplakat, las den Filmtitel und die Angaben mit den Spielzeiten – und war auf einmal ziemlich aufgeregt. Ich hatte gerade entdeckt, daß eben dieser Film, der seinem Plakat zufolge ganz sicher wahnsinnig lustig sein mußte, in wenigen Augenblicken anlaufen würde. Und so bekniete ich meine Eltern umgehend, ob wir nicht bitte bitte gleich jetzt in diesen Film gehen könnten. Nun, ich mußte nicht lange bitten, denn dankenswerterweise waren sie sofort einverstanden, spontan einen Kinobesuch einzulegen – und so kam es hier in Prerow, in eben diesem Zeltplatzkino zu meiner allerersten Begegnung mit – der Olsenbande. Ich könnte heute nicht mehr sagen, wann, wo und unter welchen Umständen ich die anderen Filme dieses Trios Infernale gesehen habe, aber dieser eine, der für mich der erste war, ist mir in Erinnerung geblieben.

Daß es das Kino von damals heute nicht mehr gibt, ist eigentlich nicht verwunderlich, denn es war eine recht provisorische Anlage. Im Grunde bestand es vollständig aus Wellblech und wirkte in seinem äußeren Erscheinungsbild so, als hätte man eine riesige Tonne der Länge nach in der Mitte aufgeschnitten und eine Hälfte dann auf den Boden gelegt. Blechbüchsenkino nannten die Urlauber das damals, und genauso sah es auch aus. Daß das heute natürlich den Ansprüchen an ein Kino nicht mehr genügt, ist wohl klar. Schade ist aber, daß man es einfach wegrationalisiert hat, anstatt den Zeltplatzgästen ein besseres Filmhaus hinzustellen. Nun ja, es rechnet sich wohl nicht. So müssen filmverrückte Camper heute nach Prerow hineinfahren, um das dortige Kino zu besuchen.

Vom Zentrum des Zeltplatzes setze ich meinen Weg am landseitigen Rand des riesigen Areals fort, und als ich zu guter Letzt doch noch dessen östliches Ende erreiche, habe ich nur noch etwas mehr als einen und einen halben Kilometer zu laufen, bis ich wieder in meiner Pension angelangt bin und meine Wanderung endet.

Zwar bin ich, der in der zurückliegenden Winterzeit nicht sonderlich viele größere Strecken am Stück zurückgelegt hat, nun doch ganz anständig geschafft, doch wirkt eine kleine Erholungsphase von ein, zwei Stunden wahre Wunder. Und so bin ich am frühen Abend bereits wieder fit genug, um auf der Suche nach einem Restaurant, das mir ein anständiges Abendbrot serviert, noch einen kleinen Bummel durch den Ort zu machen.

Am Gemeindeplatz mitten im Zentrum des Ortes entdecke ich in einer kleinen Grünanlage ein Denkmal, das an Einwohner des Ortes erinnert, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind. Eine kleine daran angebrachte Plakette verrät mir, daß es bereits am 16. Oktober 1921 durch den damals im Ort ansässigen Kriegerverein eingeweiht worden ist. Nun, von kriegerischen Traditionen hatte man wohl nach dem darauffolgenden Zweiten Weltkrieg erst einmal die Nase voll, so daß es diesen Verein dann vielleicht nicht mehr gegeben hat. Zur Stiftung eines weiteren Denkmals für die aus dieser Apokalypse nicht mehr heimgekehrten Einwohner scheint er jedenfalls nicht gekommen zu sein, denn ein solches gibt es in Prerow nicht.

Denkmal für den I. Weltkrieg in Prerow
Prerower Gedenken. Sie zogen begeistert in den Krieg und kamen nie zurück. Heute sind sie nurmehr Namen auf einem Stein.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Am nördlichen Ende des Gemeindeplatzes, auf dem sich Grünanlage und Denkmal befinden, finde ich die Touristeninformation des Ortes, die im alten Gemeindeamt untergebracht ist. Ich meine, mich zu erinnern, daß sich zu Zeiten unserer damaligen Urlaube hier die Kurverwaltung befand, die wir nach der Ankunft immer als erstes aufsuchen mußten, um dort unsere Kurtaxe zu entrichten. Dort erfuhren wir dann auch, in welchem der hiesigen FDGB-Heime wir uns täglich einfinden konnten, um unser Mittagessen einzunehmen. Denn auch für Urlauber, die privat ein Zimmer gemietet hatten, boten diese vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund der DDR betriebenen Heime mittägliche Urlaubsverpflegung zu moderaten Preisen an. Allerdings konnten wir dort nicht einfach erscheinen, wann wir dazu Lust hatten. Und schon gar nicht war vorgesehen, daß wir jeden Tag in einem anderen Heim zu Mittag aßen. Nein, für den Mittagstisch gab es klare Regeln. Wir meldeten uns in der Kurverwaltung an und bekamen dann vom Feriendienst eines der im Ort ansässigen Heime zugewiesen – oder wurden einem zugeteilt, je nachdem, wie man das sehen möchte. Und damit auch alles seinen geregelten Gang nähme, erhielten wir Essenmarken, die uns als im entsprechenden Ferienheim zum Essen Berechtigte auswiesen. Natürlich hätte wir uns dieser Prozedur nicht unbedingt unterziehen müssen. Es wäre auch möglich gewesen, sich selbst um den Erhalt eines Mittagessens zu kümmern, indem man beispielsweise ein Restaurant besuchte. Angesichts der großen Zahl an Urlaubern wäre das aber stets mit längeren Wartezeiten verbunden gewesen, die man am Eingang des jeweiligen Etablissements zu verbringen hatte, bis man plaziert wurde. Da war es keine Frage, was uns lieber war.

Ist es nicht interessant, welche Erinnerungen plötzlich aus den Tiefen des eigenen Geistes an die Oberfläche aufsteigen, an die man jahrzehntelang keinen einzigen Gedanken verschwendet hat, nur weil man sich nach all der Zeit wieder einmal an einem Ort befindet, an dem man einst gewesen? Bis zu diesem Augenblick habe ich nicht einmal geahnt, was ich aus der Zeit von damals alles noch weiß. Vielleicht sollte ich öfter solche Reisen in die eigenen Erinnerungen unternehmen…

Die Touristeninformation in Prerow
Das alte Gemeindeamt von Prerow – ein Haus wie für den Darß gemacht.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Das Gebäude, das heute die Touristeninformation beherbergt, stammt bereits aus dem Jahr 1931 und ist, so erzählt mir ein ebensolches orangefarbenes Schild, wie ich es tags zuvor bereits an der Bäckerei Koch studiert hatte, im sogenannten Darß-Stil errichtet worden. Für diesen charakteristisch sind das schilfgedeckte Dach und die bunt bemalte Eingangstür. Nun, das kann ich bestätigen. In Prerow und überhaupt auf dem Darß findet man viele solcher Häuser. Dafür fehlen Bauten der sogenannten Bäderarchitektur, wie man sie beispielsweise in Binz, Sellin und den anderen Seebädern auf Rügen so häufig antrifft, hier völlig. Prerow und die anderen Orte auf dem Darß waren eben immer Siedlungen, in denen die einfachen Leute wohnten, die ihren Lebensunterhalt mit harter Arbeit verdienen mußten. Und als solche waren sie, auch wenn sie Urlauber stets anzogen, nie das Ziel der Reichen und Mondänen. Die einfachen Leute aber, die hier lebten, drückten ihren Stolz auf ihre Heimat und ihre Arbeit dadurch aus, daß sie begannen, ihre Türen mit geschnitzten Motiven zu verzieren und diese zu bemalen. Diese Sitte entwickelte sich mit der Zeit zu einem wahren Charakteristikum für den Darß, so daß die „Darßer Tür“ heute als Markenzeichen der Halbinsel gilt. Besonders oft sind in den Verzierungen Sonnen, Tulpensträuße und Blüten zu finden, was keineswegs Zufall ist. Es handelt sich dabei um alte Darßer Motive.

Ich habe schnell herausgefunden, daß Prerow kein Ort ist, in dem es an jeder Ecke ein anderes Restaurant gibt. Insbesondere der in dieser Hinsicht verwöhnte Großstädter dürfte möglicherweise die Abwechslung vielfältiger internationaler Küchen hier vermissen. Lasse ich jegliche Form von Imbißstand außer Acht, habe ich im Zentrum des Ortes – den Hauptweg zum Strand eingeschlossen – bisher nur zwei Arten fremdländische Küche anbietender Restaurants gefunden: spanisch und italienisch. Letztere scheint hier allerdings überaus beliebt zu sein, denn es gibt gleich drei davon. Desweiteren bin ich an einem Brauhaus mit eher rustikaler und sehr fleischlastiger Küche, einem Fischrestaurant, einem Café sowie drei Etablissements vorübergekommen, die eine gewisse Vielfalt auf ihrer Karte bevorzugen, die von Fisch über Steaks bis zu vegetarischen Gerichten reicht. Wer erwartet, noch mehr Restaurants zu finden, dürfte wohl enttäuscht sein. Nicht so ich. Mir genügt das Angebot vollkommen, und für meine Zeit hier ist auch für genug Abwechslung gesorgt. Außerdem möchte ich, wenn ich irgendwohin reise, auch lieber die dortige lokale Küche probieren als die internationale. Von letzterer habe ich in meiner Heimatstadt Berlin bereits ausreichend zur Verfügung. Eine gewisse Schwierigkeit stellt allerdings die Tatsache dar, daß die hiesigen gastronomischen Einrichtungen ihre Öffnungszeiten in hohem Maße an den von ihnen erwarteten Gästezahlen ausrichten, das heißt danach, ob gerade Urlaubssaison ist oder nicht. Und da wir gerade April haben, uns also noch in der Vorsaison befinden, öffnen einige Restaurants erst um 17 Uhr, während andere an gewissen Werktagen ganz geschlossen bleiben. Das mag hinsichtlich des erwarteten Umsatzes angemessen sein, stellt mich aber vor das Problem, das ich nicht in jedem Restaurant zeitnah einen Platz bekommen kann, wenn ich das gerade möchte. Wie es aussieht, befinden sich bereits genügend Urlauber im Ort, um das zur Verfügung stehende Angebot auszureizen. Letztlich gelingt es mir heute aber doch, genau wie am Vortag, ein Abendessen zu ergattern.

Danach ist es immer noch hell genug, um noch einmal den Weg hinunter zum Strand einzuschlagen. Ich wähle diesmal nicht den Hauptweg, sondern den, der den Prerower Strom über die östlich benachbarte Holzbrücke überquert. Als ich sie hinter mir gelassen habe und den sich anschließenden Dünenwald durchwandere, stoße ich hier auf einige Reste des sumpfigen Geländes, das ich tags zuvor am Hauptweg vermißt hatte. Die dem Horizont bereits entgegenstrebende Sonne sorgt hier für einige schön anzusehende Lichteffekte und im Wasser für interessante Spiegelungen.

Tümpel im Prerower Dünenwald
Der Wald der Gegenwelt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Am Strand hat jemand nah am Wasser eine Sandburg gebaut. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Kleckerburg. Sie besteht aus einer Ansammlung von Türmen und Türmchen, die sich aneinanderreihen und ein Rechteck bilden, dessen Inneres mit weiteren Türmen angefüllt ist. An den Außenseiten hat der Wind bereits sein Zerstörungswerk begonnen, denn dort sind die Kleckerfassaden schon recht brüchig geworden, so daß ihr Zerfall bereits eingesetzt hat. Doch wird dieser sicher bald beschleunigt werden, wenn auch das Wasser der Ostsee seinen Weg zu der nah an seinem Rand errichteten Burg gefunden haben wird. Noch ist es nicht so weit, doch die Ausläufer der Wellen kommen näher und näher…

Ich erinnere mich noch gut, wieviel Arbeit mit der Errichtung einer solchen Burg verbunden war, denn als Kind habe ich damals an so gut wie jedem Tag eine gebaut, den wir am Strand verbrachten. Dafür braucht man eigentlich nur einen Baustoff: Sand. Weil man aber unter normalen Umständen damit nichts errichten kann, da er einem in trockenem Zustand nur so durch die Finger rieselt, muß noch etwas anderes her: Wasser. Um das zu bekommen, gibt es drei Möglichkeiten. Die erste besteht in der Errichtung der Burg direkt am Wasser. Das hat den Vorteil, daß man kurze Wege hat. Mir machte das allerdings stets wenig Freude, denn zum einen ist die Wassergrenze an einem Strand voller Urlauber immer überlaufen, weil es sich dort bequemer auf dem Sand gehen läßt, zum anderen besteht stets die Gefahr, daß eine mächtigere Welle ein großes Stück den Strand hinaufschwappt und die gerade in Bau befindliche Burg gleich wieder niederreißt. Da war es mir immer lieber, die Burg dort zu bauen, wo wir am Strand gerade lagerten, also nahe an unserem Strandkorb. Da wir auch meist einen Windschutz um unseren Lagerplatz errichteten, hatte das an windigeren Tagen auch den Vorteil, daß die Burg nicht gleich wieder niedergeweht werden konnte. Möglichkeit zwei besteht also darin, weiter oben, gegebenenfalls sogar nah an der Düne mit dem Burgenbau zu beginnen und sich das dafür nötige Wasser mittels Eimern vom Meer zu holen. Weil man jedoch eine ganze Menge Wasser benötigt, bedeutet das ganz schön viel Lauferei. So griff ich stets zu Möglichkeit drei. Die besteht darin, an Ort und Stelle zunächst ein Loch zu graben, und zwar so tief, bis das Grundwasser erreicht ist. Dann hat man Wasser, soviel man benötigt. Je näher an der Düne wir uns befanden, um so tiefer mußte ich graben.

Hatte ich nun also Sand und Wasser, konnte es losgehen. Zunächst galt es, einen halbwegs glatten Untergrund zu bekommen. Also mußte erst einmal jede Menge lockerer Sand – ich nannte ihn immer Zuckersand, weil er im Sonnenlicht so schön glitzerte, wie es Zuckerkörner auch tun – beiseitegeschafft werden. War das getan, begann die Errichtung der Burgwälle und Mauern. Standen diese schließlich, konnte es an den Bau der Türme gehen. Diese wurden, wie es sich für eine Kleckerburg gehört, mittels Kleckertechnik Stück für Stück aufgeschichtet. Dazu mußte ich tief in mein gegrabenes Loch greifen, um aus der Grundwasserschicht mit Wasser durchtränkten Sand heraufzuholen, denn nur dieser ließ sich aus der geschlossenen Faust heraustropfen – also kleckern. Das war an der breiten Basis des Turms immer noch relativ leicht, weil man einfach so draufloskleckern konnte. Doch je höher er wurde, desto schmaler mußte er werden, bis er schließlich in einer schönen Spitze auslief. Das erforderte, da meine Ansprüche an die Ästhetik der Burggestaltung ausgesprochen hoch waren, viel Geschick und Geduld, besonders, wenn es zum Schluß um die Spitze ging, die ihrem Namen natürlich Ehre machen und möglich spitz zulaufen sollte. Aber ich hatte ja Zeit.

Doch was ist eine Burg, die nur aus Burgwällen und Türmen besteht? Da fehlte doch was. Also mußte ein Burgtor her, vor dem sich eine Zugbrücke befand. Und damit die auch über etwas hinüberführen konnte, brauchte die Burg natürlich einen Wassergraben. Um den zu füllen, war viel mehr Wasser nötig, als das gegrabene Loch hergab, so daß ich nun doch mehrmals hinunter zum Meer laufen mußte. Aber was tat ich nicht alles für eine schöne Sandburg. Natürlich ließ sich die Ziehbrücke nicht wirklich hochziehen. Um sie aber möglichst gut aussehen und stabil werden zu lassen, brauchte ich nun noch einen dritten Baustoff: Holz. In Form von Stöcken – oder Stöckern, wie der Berliner sagt. Die konnte ich im nahen Dünenwald sammeln. Aber auch am Strand lag meist genug herum. Ich war schließlich nicht das einzige Kind, das anspruchsvolle Sandburgen baute. Im Inneren der Burg errichtete ich meist weitere Mauern, damit es mehrere Höfe gab. Die konnte ich dann wieder mit Durchfahrten in den Mauern verbinden. Kleine Gebäude in den Höfen zu plazieren, war dann schon wieder eine vergleichsweise leichte Übung.

Und wenn ich mal keine Lust hatte, wieder eine Sandburg zu bauen, dann baute ich Straßenlandschaften. Mit Kreuzungen, Brücken, Bergen und Tunneln. Es gab immer was zu tun.

Sandburg am Prerower Ostseestrand
Kleckerburg am Meeresstrand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Hatte man zwecks Wasserbeschaffung ein Loch gegraben, mußte man natürlich dafür sorgen, daß dieses später nicht zur Falle für ahnungslose Strandwanderer wurde. Wenn wir also abends unser Lager am Strand auflösten, bestand meine Aufgabe darin, daß am Tag gegrabene Loch wieder mit Sand aufzufüllen. So konnte nichts passieren. Leider wurde mir mein Wasserloch aber einmal selbst zum Verhängnis. Wieder einmal hatte ich eines gegraben und eine prächtige Sandburg gebaut. Mittlerweile war ich dafür schon ganz prächtig ausgestattet und hatte einen kleinen Kinderspaten dabei, der über ein Metallblatt verfügte, mit dem sich in Windeseile ein Wasserloch graben ließ. Als wir des Mittags unser Strandlager für eine Weile verließen, um zum Mittagessen in das uns zugewiesene FDGB-Heim zu gehen, stellte ich, besorgt um meinen Spaten, diesen in das Loch und legte unsere aufgepumpte Luftmatratze darüber. So konnte niemand das Loch und den Spaten darin sehen, geschweige denn entwenden. Eine Gefahr für andere stellte das nicht dar, denn da wir unser Strandlager für den Gang zum Mittagessen nicht extra auflösten, blieb es mittels der Windschutze abgesteckt und niemand konnte hindurchlaufen. Als wir, nach der Nahrungsaufnahme gestärkt, wieder zurückkehrten, hatte ich allerdings das Loch und den Spaten darin völlig vergessen. Da ich etwas lesen wollte, hob ich die Luftmatratze auf, um sie in den Schatten des Windschutzes zu legen. Dabei trat ich unversehens in das darunter zum Vorschein kommende Loch und versank bis zum Knie darin. Ach was, kein Problem. Zog ich den Fuß halt wieder heraus. Da ich nichts spürte, ahnte ich auch nichts Böses und ging weiter, legte die Luftmatratze ab, drehte mich um… und gewahrte plötzlich rote Flecken im Sand! Gerade wollte ich mich fragen, wo die wohl auf einmal herkamen, da spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz am Ballen meines linken Fußes. Weil der eine Weile hatte auf sich warten lassen, war mir völlig entgangen, daß ich beim Tritt in das Loch mit dem Ballen auf das Blatt meines kleinen Spatens geraten war und mir ein Stück Haut aus diesem herausschnitten hatte. Jedoch nicht ganz, denn es war noch dran. Aber der Schnitt war immerhin tief genug, um nun unausgesetzt zu bluten. Ach herrje…

Das Nächste, das ich noch weiß, ist, daß ich im Turm der Rettungsschwimmer am Dünenübergang war. Wie ich dort hingekommen war, hat sich in meiner Erinnerung nicht erhalten. Nun saß ich auf einer Liege – oder war es ein Stuhl? – und sah zu, wie einer der Sanitäter die Wunde an meinem Fuß säuberte und anschließend mit einer Spraydose etwas darauf sprühte. Dieses Etwas erwies sich, als es getrocknet war, als eine Art Pflaster, das nun die Blutung zum Stillstand brachte. Ich war beeindruckt. Flüssiges Pflaster. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Für einen Moment vergaß ich sogar, daß mir der Fuß immer noch wehtat.

Doch was nun? Laufen ging einigermaßen, wenn ich nicht gerade direkt mit dem Fußballen auftrat. Doch an Spielen im Sand oder Badengehen, so schien es, war nun für den Rest des Urlaubs nicht mehr zu denken. Doch auch dafür gab es eine Lösung. Meine Mutter stülpte einfach eine große Plastiktüte über meinen verbundenen Fuß, den sie mit einem Bindfaden festband, und so konnte ich, wenn ich aufpaßte, nicht zu tief hineinzugehen, immerhin im Wasser der Ostsee herumpatschen, wenn auch nicht untertauchen. So wurde es, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, doch noch ein schöner Urlaub.

Diese Kindheitserlebnisse kommen mir eines nach dem anderen in den Sinn, als ich hier am Meeresufer stehe und auf die Kleckerburg hinabblicke, die jemand – möglicherweise ein Kind – an diesem Tag mit Hingabe hier errichtet hat. Morgen wird sie wohl schon wieder im Sand des Strandes versunken sein. Doch heute bringt sie mir einige Erinnerungen an meine Kindheit zurück, und dafür bin ich den kleinen oder vielleicht auch großen Baumeistern dankbar.

Die Sonne ist dem Horizont in der Zwischenzeit wieder ein Stück nähergekommen, und so beschließe ich, den Rückweg anzutreten. Über die Düne, durch den Dünenwald und über den Prerower Strom, an dem ich noch ein wenig verweile, um einen Schwan zu beobachten, der allein auf der ruhigen Wasseroberfläche umherschwimmt, spaziere ich langsam wieder zurück zu meiner Pension. Ein Tag voller schöner Naturerlebnisse und Erinnerungen geht zu Ende…

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Referenzen

Referenzen
1 Mehr Informationen zu den verschiedenen Dünenarten finden sich in dem Blog marionsostsee.de.
2 Ich bin zwar kein Experte, doch von einer Eidechse scheint mir das Tier weit entfernt zu sein. Nach einigen Vergleichen mit einschlägigen Bildern habe ich mich schließlich entschieden, die Schlange für eine schwarze Kreuzotter zu halten. Wer mich sachkundig eines Besseren belehren kann und möchte, kann mich gerne kontaktieren.

Ankunft in meinen Erinnerungen

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Beim Blättern in den Bildern meiner KindheitFind‘ ich viele vergilbt in all‘ den Jahr’n.Und and’re von fast unwirklicher Klarheit,Von Augenblicken, die mir wichtig war’n![1]Reinhard Mey: Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit, Album „Jahreszeiten“, 1980, Intercord, INT 160.139

Es ist noch gar nicht so lange her, da saßen wir wieder einmal im trauten Kreise der Familie beisammen und sprachen über dies und das und jenes. Und wie es manchmal so kommt, führte uns der Faden des Gesprächs geradewegs auf den Pfad der Erinnerung und wir schwelgten ein wenig in eben dieser. Wir gelangten dabei zurück in die 1980er Jahre, in denen wir einige schöne Urlaube an der Ostsee verbracht hatten, wie es damals sicher viele Familien in der DDR taten. Unser Ziel war stets der Darß gewesen, wo wir in dem einst kleinen Fischerdorf Prerow, das sich längst zu einem beliebten Urlaubsort gemausert hatte, für alljährlich vierzehn Sommertage Quartier nehmen konnten. Nun muß man wissen, daß es zu Zeiten der DDR nicht unbedingt einfach war, an der Ostsee, die ein überaus begehrtes Urlaubsziel war, ein solches Quartier zu finden. Man konnte entweder das Glück haben, einen vom FDGB[2]Das Kürzel stand für Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. Das war der Dachverband der Gewerkschaften in der DDR. vergebenen Urlaubsplatz zu ergattern, was jedoch nicht jedes Jahr der Fall war. Oder man gehörte zu den glücklichen Leuten, denen es gelungen war, durch Kontakte – meist über mehrere Ecken – an ein privat vermietetes Zimmer zu kommen. Wer es aber einmal geschafft hatte, in diesen Kreis einzutreten, der verließ ihn nach Möglichkeit nicht wieder und sicherte sich bei der Abreise im einen Jahr das Zimmer gleich für das nächste. Nun, meinen Eltern war der Zugang zu diesem Kreis irgendwie geglückt, und so fuhren wir in jener Zeit alljährlich nach Prerow, mieteten uns für die bereits erwähnten vierzehn Sommertage bei der Familie Koch in der Bergstraße 10 ein und genossen wunderschöne Tage auf dem Darß und am Meer, die mit zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen gehören. Die Kochs vermieteten allerdings nicht nur Zimmer – das taten sie eigentlich nur nebenbei -, sondern betrieben eine kleine Bäckerei, die ich als Kind ungeheuer faszinierend fand. All die leckeren Düfte und die noch viel leckereren Kuchen, die großen Öfen, die großen Bottiche mit Teig… Ich gehörte hier zum Kreise der Eingeweihten, die wußten, wie es hinter den Kulissen eines Bäckereiladens zuging.

Während wir da nun also saßen und uns erinnerten, fragten wir uns plötzlich, ob es die Bäckerei wohl heute noch gäbe. Irgendwann in den Zeiten der Wende war unser Kontakt dorthin bedauerlicherweise abgerissen. Man hatte in jenen Jahren voller Wirren und Umbrüche einfach andere und viel dringendere Sorgen als Urlaube. Meine Eltern verloren ihre Jobs und mußten sich um neue bemühen, was nicht einfach war angesichts der über Nacht gänzlich veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse, aber glücklicherweise schließlich gelang. Zur selben Zeit endete meine Schulzeit und ich kämpfte mit der Planung meiner Zukunft, für die ich ein Studium vorgesehen hatte, von dem ich nun zunächst gar nicht wußte, ob und wie das unter den neuen Bedingungen möglich sein würde. Erfreulicherweise regelte sich schließlich alles zum besten, wenn auch in völlig anderer Weise als ursprünglich gedacht – aus einem Mathematik- wurde unversehens ein Informatikstudium -, doch das brachte neue Aufregungen mit sich, denn mit dem Eintritt in die Humboldt-Universität stand ich vor gänzlich anderen Herausforderungen, als sie die Schule mir bisher abverlangt hatte. Angesichts all dessen konnten alljährliche Ostseeurlaube nicht mehr auf der Tagesordnung stehen und wir sahen Prerow, in dem wir alljährlich so gerne gewesen waren, letztlich nie wieder.

Nun, die Frage, ob es die Bäckerei noch gab oder nicht, konnten wir in unserem Gespräch im Familienkreise letztlich nicht beantworten. Doch nun, da die Erinnerungen einmal geweckt waren, ließen sie mich nicht mehr los. Und so setzte ich mich eines Abends kurzentschlossen an den Computer und begann, ein wenig zu recherchieren. Es dauerte nicht lange, da führte mich meine Suche in den Weiten des Internets zu einer Zeitschrift, die sich „Der Darßer“ nennt. Es ist wohl angesichts dieses Namens für niemanden eine wirkliche Überraschung zu erfahren, daß sie sich der Region der Halbinsel namens Darß widmet. Und so kommen natürlich auch immer wieder Beiträge aus und über Prerow darin vor. Und wie ich nun so stöberte, fand ich in der Nummer 30 vom Dezember 2020 einen Beitrag über eben jene Bäckerei Koch, nach der ich gerade suchte. Ich erfuhr, daß sie zwei Monate zuvor nach stolzen 43 Jahren[3]Tatsächlich ist die Bäckerei allerdings älter. Der Zeitraum bezieht sich auf ihren letzten Inhaber. ihre Pforten für immer geschlossen hatte. Dies zu lesen, stimmte mich auf einmal etwas wehmütig, kam es mir doch so vor, als sei etwas, an das ich mich aus meiner Kindheit erinnerte, nun für immer verloren. Nun ja, das Leben ist, wie es ist. Und das ist der normale Lauf der Zeit.

Und doch mußte ich in den folgenden Monaten immer wieder einmal daran denken und ich blätterte in Gedanken in den Kindheitsbildern jener Urlaube am Meer in der Mitte der 1980er Jahre…

Und ganz langsam keimte sie auf in mir, die Idee, jenen Ort, der mit diesen Erinnerungen so eng verbunden war, nach all den Jahren doch wieder einmal aufzusuchen. Sie wuchs und wuchs, und schließlich, in diesem April des Jahres 2023 ist sie groß genug, daß ich sie nicht länger unbeachtet lassen kann. Und so mache ich mich schließlich auf den Weg auf den Darß, nach Prerow am Ufer der Ostsee.

Zugangsweg zum Strand bei Prerow
Gleich hinter der Düne liegt das Meer. Nur noch ein paar Schritte… Dort will ich hin.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Wenn jemand wie ich, der weder Auto noch Fahrerlaubnis sein eigen nennt, auf den Darß fahren will, so ist das nicht ganz einfach, wenn diese Fahrt außerhalb der Saison stattfindet. Zwar gibt es von Berlin aus eine Direktverbindung mit dem Flixbus, doch wird diese nur während der Saison bedient. Da aber der April im besten Falle nur als Vorsaison zählt, ist die Direktverbindung nicht zu haben und mir bleibt nur die Eisenbahn als Alternative. Mit dieser kommt man allerdings nicht bis auf den Darß, es sei denn, man schaffte es irgendwie, in der Zeit zurückzureisen. Eine Eisenbahnlinie, die bis Prerow führte und als Darßbahn bezeichnet wurde, hatte es nämlich durchaus einmal gegeben, allerdings nur bis etwa 1945, als man ihren Schienenstrang abtrug, um ihn als Teil der Reparationsleistungen für die mit dem Zweiten Weltkrieg verursachten Schäden in die Sowjetunion zu verfrachten. So hat man heute nur die Möglichkeit, bis Ribnitz-Damgarten oder Barth zu fahren, von wo es in beiden Fällen das letzte Stück Wegs mit dem Bus zurückzulegen gilt. Das steht nun auch mir bevor.

Natürlich hat sich Die Bahn wieder einige Überraschungen für ihre Fahrgäste überlegt, um ihnen die Reise möglichst unan… Verzeihung, ich meine selbstverständlich: angenehm wie möglich zu machen. Die schnellere Verbindung über Rostock fällt schon einmal aus, da über das Osterwochenende auf der Strecke zwischen Rostock und Ribnitz-Damgarten gebaut werden soll und daher nur ein Schienenersatzverkehr angeboten wird. Daß dieser am Ostersonntag tatsächlich unterwegs ist, kann ich während meiner Anreise höchstselbst feststellen, obwohl ich ihn nicht benutzen muß. Daß aber ausgerechnet am Ostersonntag wirklich irgendwer an der Strecke mit Bauarbeiten beschäftigt sein soll, das glaube ich keine Sekunde[4]Vehemente Verteidiger der Bahn mögen nun einwenden, daß die Bauarbeiten ja sicher länger als ein Wochenende gedauert haben und am Osterwochenende somit nur eine Pause eingelegt worden ist. Das ist … [Weiterlesen]. Wie dem auch sei – ich habe jedenfalls die Strecke über Stralsund zu nehmen, die allerdings ausschließlich mit Regionalzügen befahren wird, was die Fahrt zwar billiger, aber auch langsamer macht. Fünfeinhalb Stunden würde ich von Berlin nach Prerow brauchen. Sagt jedenfalls der Fahrplan. Doch der kann ja nicht wissen, daß der Zug hinter Züssow, kaum daß er dort losgefahren, plötzlich wieder halten würde, um dann eine ganze lange Weile untätig auf freier Strecke herumzustehen. Schon wundere ich mich, warum das permanente, einem Rauschen nicht unähnliche Hintergrundgeräusch, das so ein Regionalexpreß unablässig verbreitet, plötzlich erstorben ist. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, habe ich es überhaupt erst bemerkt, als es mir nun so unvermittelt nicht mehr ständig in den Ohren liegt. Doch daß es nun nicht mehr vorhanden ist, kann mir eigentlich schon ein Hinweis auf die Ursache des außerplanmäßigen Haltes sein, doch ich denke zunächst nicht darüber nach. Und als ich gerade damit beginnen will, erbarmt sich der Zugführer – oder ist es der Zugbegleiter? – seiner Fahrgäste und erklärt in einer Durchsage, daß der Zug – man halte sich fest – einen Energieausfall habe. Und das wäre, so seine professionelle Meinung, „gar nicht gut“. Ob daran die Bahn selbst die Schuld trägt oder dies bereits eine Folge der derzeitigen glorreichen Energiepolitik unserer Regierung ist, dazu äußert er sich nicht. Auch ich werde hier darauf verzichten und mir meinen Teil dazu nur denken. Immerhin hat seine Durchsage zur Folge, daß die Geister der Elektrizität offenbar beschließen, sie umgehend Lügen zu strafen, denn es dauert nur einige weitere Minuten und unser Zug setzt sich wieder in Bewegung. Halleluja!

Strandhafer an der Ostsee
Hinter der Düne rauscht das Meer. Um mich herum rauscht noch nur der Zug. Und momentan noch nicht einmal das!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Für mich hat dieser ungeplante Halt allerdings zur Folge, daß ich mit meinem Zug deutlich später als geplant in Stralsund eintreffe und so meinen Anschlußzug um ganze sieben Minuten verpasse. Ich darf mich allerdings damit trösten, als Ersatz dafür nun weitere zwei Stunden auf diesem schönen Bahnhof zu verbringen, denn so lange dauert es, bis der nächste Zug in Richtung Ribnitz-Damgarten fährt. Für Fahrgäste, die nach Rostock wollen, hat man besagten Schienenersatzverkehr eingerichtet, den man sogar von Stralsund fahren, aber – aufgrund welcher hochintelligenten Überlegung auch immer – nicht in Ribnitz-Damgarten halten läßt, so daß mir diese Möglichkeit des Weiterkommens nicht offensteht. Notgedrungen sitze ich also meine Zeit am Bahnhof ab und steige dann in den Zug in Richtung Ribnitz-Damgarten, den ich jedoch in Velgast bereits wieder verlasse, um in einen weiteren Zug nach Barth umzusteigen. Trotz es zusätzlichen und ursprünglich nicht vorgesehenen Umstiegs, so hatte es mir der Fahrplan verraten, ist das die schnellere Verbindung nach Prerow, da die Meister der Verkehrsplanung die Abfahrtszeit des Busses in Ribnitz-Damgarten auf fünf oder zehn Minuten VOR die dortige Ankunft des Zuges terminiert haben, was mir wenigstens weitere sechzig Minuten Wartezeit, wenn nicht mehr, eingebracht hätte. In Barth würde ich zwar auch warten müssen, aber wenigstens nur eine halbe Stunde.

Zu guter Letzt lange ich dann nach siebeneinhalb Stunden und damit zwei Stunden später als geplant in Prerow an. Glücklich, endlich am Ziel zu sein, suche ich als erstes mein Quartier auf. Für die sechs Tage und sieben Nächte habe ich mich in der Pension Linde einquartiert. Dort angekommen, werde ich nach meinem Klingeln von einem freundlichen Mann mittleren Alters empfangen, der mich sogleich mit den Worten begrüßt:

„Herzlich willkommen! Komm rein! Ich bin der Sven!“

Ein wenig verdattert über diese ungezwungene, direkte Art der Begrüßung bringe ich nur ein

„Ja, äh, guten Tag. … Glintschert mein Name. … Der Vorname ist Alexander.“

heraus. Sofort verspüre ich ob dieses zusammenhanglosen Gestammels das dringende Bedürfnis, hier an Ort und Stelle im Boden zu versinken. Er ignoriert das jedoch, grinst mich freundlich an und meint nur:

„Das hab‘ ich mir schon gedacht!“

Offenbar bin ich der einzige Gast, der heute noch erwartet wird. Er heißt mich meinen Koffer im Flur stehen lassen und bittet mich in sein Büro, wo er mir den Zimmerschlüssel übergibt und mir die Frühstückszeiten erklärt, woraufhin er mich zu meinem Zimmer führt. Dort angekommen, wünscht er mir einen schönen und angenehmen Aufenthalt und bittet mich, jederzeit auf ihn zuzukommen, wenn ich einen Wunsch hätte oder etwas benötigte. Dann empfiehlt er sich und überläßt mich meiner selbst.

Da bin ich nun also glücklich angekommen. Schnell packe ich meine Sachen aus und richte mich in dem gemütlichen Zimmer, das ausgesprochen ordentlich und sauber gehalten und überdies recht geräumig ist, ein. Schließlich habe ich noch etwas vor.

Immer, wenn ich irgendwohin an’s Meer fahre, statte ich diesem noch am Abend meiner Ankunft einen ersten Besuch ab, sozusagen als eine Art Begrüßung. An dieses kleine Ritual erinnere ich mich noch aus meiner Kindheit. Immer wenn wir hier in Prerow angekommen waren, gingen wir noch am selben Nachmittag oder Abend hinunter an den Strand und begrüßten die Ostsee. So will ich es also auch diesmal halten. Kaum daß ich also fertig bin mit Auspacken und Einrichten, schnappe ich mir meinen Fotoapparat und mache mich auf den Weg zu einem abendlichen Spaziergang.

War der Himmel am Morgen in Berlin noch von dicken, grauen Wolken verhangen gewesen, so hatte es auf meiner Fahrt hierher, je weiter ich nach Norden kam, mehr und mehr aufgeklart. Nun, hier in Prerow, wölbt sich über mir ein strahlend blauer Himmel und die Sonne, die sich langsam auf ihren Weg in Richtung des westlichen Horizonts macht, scheint mir ins Gesicht. Was für eine schöne Begrüßung…

Von meiner Pension, die sich direkt im Zentrum Prerows befindet, spaziere ich langsamen Schrittes zum Hauptweg, der zum Strand hinunterführt, und biege in diesen ein. Ich erkenne ihn sofort wieder. Gesäumt von hohen Bäumen, die eine Allee bilden, führt er geradewegs auf einen Deich zu. Während auf der rechten Seite einige Häuser stehen, liegt am linken Rand des sauber gepflasterten Weges eine Wiese. Dort steht ein altes Postauto, von dem man das rote DHL-Logo säuberlich entfernt hat. Der Besitzer dieses Fahrzeugs ist offenbar ein Buchhändler, denn er hat auf mehreren davor aufgestellten Tischen jede Menge Kisten plaziert, in denen sich Unmengen von Büchern befinden, die er zum Verkauf anbietet. Obwohl ich ausgesprochen gerne lese, steht mir in diesem Augenblick allerdings nicht der Sinn danach, ausgiebig darin zu stöbern. Bücher gibt es auch in Berlin. Und schließlich will ich an’s Meer!

Der Hauptweg zum Prerower Strand
Strahlend blauer Himmel über den Alleebäumen des Hauptweges zum Prerower Strand. Was für ein schöner Empfang!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Während ich langsam weitergehe, zieht plötzlich eine Erinnerung durch meinen Kopf und ich sehe mich wieder als Kind eben diesen Hauptweg entlanggehen, begeistert darüber, was ich hier gerade entdeckt habe. Genau auf dieser Wiese, wo der Buchhändler mit seinem alten Postauto seine Bücherkisten aufgestellt hat, hatten damals Pferde gestanden, die bei den Kindern wahre Begeisterungsstürme auslösten. Ponyreiten hat eben zu jeder Zeit bei den kleinen und größeren Pferdenarren hoch im Kurs gestanden.

Darüber sinnierend, wandere ich den Weg weiter und erinnere mich daran, daß er damals gar nicht so einen ebenmäßig gepflasterten Belag besessen hatte. Zwei breite Fahrspuren aus Beton, dazwischen und daneben jede Menge festgetretener Sand – das war’s. Wenn es heftig geregnet hatte, tat man wohl daran, gut darauf zu achten, die Betonstreifen nicht zu verlassen, wollte man seine Schuhe nicht über und über mit matschigem Dreck bedecken.

Nun, diese Gefahr besteht mit der sorgfältigen Pflasterung heute nicht mehr. Auf ihr wandere ich nun den Deich hinauf und auf dessen anderer Seite wieder hinab, wo der Weg einen kleinen Schwenk nach rechts macht und zu einem Damm führt, auf dem er den Prerower Strom überquert. Zwischen Strom und Deich liegt auf der rechten Seite ein kleiner Platz, auf dem meine Erinnerung ein Kettenkarussell plaziert, das heute jedoch nicht mehr da ist. Stattdessen stehen dort zwei Zelte, ein Bierwagen und eine Holzhütte, die sich etwas hochtrabend als „Stromblick“ bezeichnet und einen Thai-Imbiß beherbergt, der jedoch gerade geschlossen hat und auch die ganzen nächsten Tage nicht öffnen wird. Vom tags zuvor hier veranstalteten Osterfeuer liegen noch die verkohlten Reste herum.

Auf der gegenüberliegenden Wegseite stehen hohe Bäume, vorwiegend Kiefern, zwischen die ein Waldweg hineinführt, der sich nach wenigen Metern in zwei aufteilt. Ein Schild weist mich darauf hin, daß sich hier der Kurpark Prerows befindet. Okay. Das ist neu. Also für mich. Einen Kurpark gab es damals noch nicht. Aber Seebad ist Prerow ja auch erst seit 1997.

Am Prerower Strom
Idyll am Prerower Strom.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Auf dem Dammweg überquere ich den Prerower Strom und durchquere den dahinter gelegenen Dünenwald. Ganz sicher bin ich nicht, aber es kommt mir so vor, als habe man diesen mächtig ausgedünnt. In meiner Erinnerung ist das Unterholz zu beiden Seiten des breiten Weges, auf dem ich unterwegs bin, bedeutend dichter und erinnert streckenweise an ein Dickicht, das mich als Kind stets neugierig gemacht hat, was sich wohl darin verbergen mag. Auch habe ich, besonders in Stromnähe, ein sumpfiges Waldgelände vor Augen, in das man sich besser nicht hineinwagt, will man nicht unversehens im Boden versinken. Demgegenüber blicke ich heute in einen vergleichsweise lichten Wald mit wenig Unterholz. Und sumpfiges Gelände kann ich so gut wie überhaupt nicht mehr entdecken.

Nach wenigen Metern beginnen die Buden. Nun, das ist vielleicht ein bißchen ungerecht, denn die Hütten, die nun zu beiden Seiten des Hauptweges stehen, sind eigentlich recht ansehnlich, wie sie da so stehen mit ihren hübschen Schilfdächern. In jeder von ihnen ist ein anderer Laden untergebracht. Von Restaurants über Imbisse bis hin zu zahlreichen Souvenir- und Kunstläden ist hier alles zu finden, was Ostsee-Touristen interessieren könnte. Wobei die kulinarischen Angebote eindeutig in der Überzahl sind.

Ich passiere die Ladenstraße vor der Düne und frage mich, ob es damals eigentlich auch schon so viele Verkaufsstände waren wie heute. Ich neige dazu, die Frage zu verneinen, bin mir aber nicht sicher. Zumindest auf der rechten Seite des Weges, so scheint mir jedoch, sind seit damals einige Hütten hinzugekommen. Ich weiß noch genau, wie damals an ihrer Stelle fliegende Händler mit ihren Klapptischen am Wegesrand standen und allerlei Klimbim anboten. Bei den Kindern und Jugendlichen ganz besonders hoch im Kurs standen die Ansteckbuttons mit den Konterfeis der angehimmelten Stars der Rock- und Pop-Musik, vornehmlich aus dem Bereich der westlichen Hemisphäre. Daß es für derartige Angebote fliegender Händler bedurfte, war klar, denn offiziell wurden Fanartikel von Künstlern aus dem Westen in der DDR selbstverständlich nicht verkauft. Auch an mir ging das Verlangen, wenigstens ein paar dieser Ansteckbuttons mit meinen Lieblingen mein eigen nennen zu können, natürlich nicht spurlos vorüber. Und so sehe ich sie heute noch vor mir, die von mir erstandenen Buttons: einer zeigte die Band a-ha, der andere das Duo Modern Talking. Dabei bedurfte es in meiner Schulklasse schon durchaus einer gewissen Courage, Modern Talking am Revers zu tragen. Denn die Modern-Talking-Fraktion war in der absoluten Minderheit und stand einer ungleich größeren Depeche-Mode-Fangruppe gegenüber, von der sie regelmäßig ausgelacht wurde. Immerhin gab es über die Akzeptanz von a-ha keine Diskussion. Ach, hatten wir damals Probleme…

Schließlich steigt der Weg etwas an und führt über die große, dem Strand nachgelagerte Sanddüne. Langsam gehe ich zur Anhöhe hinauf und erreiche auf deren anderer Seite schließlich die Seebrücke von Prerow. Oder ich täte es, wäre sie noch da. Tatsächlich sind jedoch lediglich ein paar kreisrunde Pfeiler zu sehen, die aus dem Sand ragen. Und weil sie bereits auf der zum Strand abfallenden Seite der Düne beginnen, erscheinen die ersten von ihnen nur sehr kurz, während jeder weitere ein Stück mehr aus dem Sand herausragt. Tatsächlich sind sie jedoch alle gleich hoch. Die alte Seebrücke, die es hier seit 1993 gab, hat man bereits vollständig abgerissen. Die Reihe der Pfeiler setzt sich zum Meer hin und in diesem fort, bis sie schließlich schon ein paar Meter hinter dem Ufer aufhört. Ganz offensichtlich ist man mit dem Setzen dieser die neue Seebrücke später tragen sollenden Stützen noch längst nicht fertig, denn etwas so kurzes würde man wohl kaum als Seebrücke bezeichnen.

Wo die Prerower Seebrücke sein sollte
Eine Ansammlung von (noch) nutzlosen Pfeilern. Das ist alles, was derzeit von der Prerower Seebrücke zu sehen ist.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ein wenig geahnt hatte ich schon, daß ich hier am Strand von Prerow wohl keine Seebrücke zu sehen bekommen würde, als ich noch auf dem Dammweg über den Prerower Strom unterwegs gewesen war. Denn bereits von dort aus hatte ich den hoch aufragenden Kran deutlich sehen können, den ich nun aus nächster Nähe bewundern kann. Er steht allerdings ziemlich untätig in der Gegend herum, denn heute, am Ostersonntag, ist hier natürlich niemand mit irgendwelchen Bauarbeiten beschäftigt.

Der Weg zum Strand wird von der großen Baustelle weitestgehend versperrt. Lediglich auf seiner rechten Seite hat man einen schmalen Durchgang gelassen. Bevor ich diesen jedoch hinabsteige, gehe ich noch weiter rechts auf die Aussichtsplattform, die man dort eingerichtet hat, damit man von hier oben auf den Strand und die Baustelle hinabschauen kann. Weiter draußen im Meer, ein ganzes Stück hinter der Pfeilerreihe, kann ich einen steinernen Wall entdecken, auf dessen Zweck ich mir jedoch keinen Reim machen kann. Und in einem weiteren Abstand zu diesem ist ein zweiter solcher Wall zu sehen, dessen Sinn mir ebenso unklar ist. Immerhin meine ich, dort einen Bagger ausmachen zu können, was bedeutet, daß diese beiden Wälle ebenfalls gerade in Bau sind. Ob sie wohl zu der neuen Seebrücke gehören werden? Ich weiß es nicht. Vielleicht finde ich es irgendwann später noch heraus.

Ganz hinten am Horizont ist eine unregelmäßige Reihe von Windrädern zu sehen. Einundzwanzig Stück zähle ich. Sie bilden den vor der Küste des Darß positionierten sogenannten Offshore-Windpark namens Baltic 1. Hier nimmt man es mit der Energiewende offenbar sehr genau. Ob sie wohl gelingen wird? Wenn ich in Betracht ziehe, daß eine ganze Reihe dieser einundzwanzig Windräder gerade in Untätigkeit verharrt, obwohl doch ein recht lebhafter Wind um meine Nase weht, dann kommen mir daran gewisse Zweifel. Denn immerhin reicht der ja aus, um einen Kitesurfer mit seinem Drachen über die Wellen reiten und dabei ein beachtliches Tempo erreichen zu lassen. Und trotzdem steht eine ganze Menge dieser Windräder gerade ziemlich still…

Baltic 1
Technik, die begeistert. Am Strand von Prerow hat man den Offshore-Windpark Baltic 1 immer vor der Nase. Ist das nicht ein schöner Blick auf’s Meer?
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich stapfe durch den Sand zum Strand hinunter und begebe mich geradewegs zur an diesen anbrandenden Ostsee, um ihr nun wirklich Guten Tag zu sagen, ganz wie es mein Ritual verlangt. Als das erledigt ist, entschließe ich mich, den Strand ein kleines Stück nach Westen entlangzuwandern, bis ich den nächsten Dünenübergang erreiche. Selbstverständlich ist es aus Gründen des Umwelt- und Küstenschutzes nicht gestattet, einfach so irgendwo über die Düne zu stapfen.

Weil das Laufen im tiefen Sand auf die Dauer doch etwas beschwerlich ist, gehe ich nahe am Wasser entlang, wo er dank der beständigen Feuchtigkeit fester und damit einfacher zu gehen ist. Allerdings muß ich dafür beständig darauf achten, daß die Wellen mich nicht erwischen und meine Schuhe überspülen, was mir ziemlich nasse Füße einbringen würde.

Als ich den nächsten Übergang erreicht habe, wende ich mich wieder landeinwärts und spaziere durch den Dünenwald zurück zum Strom. Kaum habe ich die Düne überquert, besteht der Boden des Weges plötzlich aus gelben, orangenen und roten Ziegeln. Sehe ich einmal davon ab, daß die Ziegel nicht nur gelb sind, könnte ich fast meinen, ich habe den Backsteinweg erreicht, der mich in die Smaragdenstadt führt. Ach, was habe ich als Kind die Bücher von Alexander Wolkow geliebt. Regelrecht verschlungen hab ich sie. Kaum hatte ich eines ausgelesen, rannte ich in die in unserer Straße beheimatete Kinderbibliothek und holte mir das nächste. Daß der erste Band, der den Titel „Der Zauberer der Smaragdenstadt“ trug und von dem Mädchen Elli erzählte, das ins Zauberland verschlagen wird und gemeinsam mit ihrem Hündchen Totoschka, dem (erst später weise werdenden) Scheuch, dem eisernen Holzfäller und dem feigen Löwen Abenteuer erlebt, eine freie Nacherzählung von Lyman Frank Baums Buch „Der Zauberer von Oz“ ist, wußte ich damals noch nicht. Es tut der Qualität des Buches und meiner Liebe zu ihm aber auch keinen Abbruch.

Im Prerower Dünenwald
Auf dem Weg in die Smaragdenstadt ist man hier wohl doch nicht. Dafür ist dieser Weg aber mehr als einhundert Jahre alt!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nun, der gelbe Backsteinweg ist es nicht, sondern lediglich ein Weg durch den aus Kiefern bestehenden Dünenwald. Auch diesen darf man, genau wie die Dünen, nur auf den gekennzeichneten Wegen betreten – aus den gleichen Gründen. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte man in Prerow fast im gesamten Ort die Bürgersteige mit Klinkersteinen wie diesen hier gepflastert, damit sie auch nach starkem Regen noch passierbar waren. Dabei hatte man die Wege im Dünenwald nicht ausgespart. Heute sind es eben diese Waldwege, auf denen die originalen Steine noch erhalten geblieben sind. Ich wandle also nun auf mehr als einhundert Jahre alten Ziegeln.

Zurück am Strom, überquere ich diesen über eine Brücke, die, soweit ich mich erinnere, damals noch eine reine Holzbrücke war. Aus Holz besteht sie auch heute noch, doch sieht sie recht neu aus und die Geländer zu beiden Seiten sind mit Netzen verhängt, deren engmaschige Fäden sich auf den zweiten Blick als dünne stählerne Seile herausstellen. Offenbar hat man hier große Angst davor, daß jemand durch die Holzbalken der Geländer hindurch ins Wasser fällt. Als könnten die Menschen nicht selbst auf sich aufpassen. Eigentlich ist es schon fast ein Wunder, daß man die Geländer nicht gleich übermannshoch gestaltet hat.

Auf der anderen Seite wende ich mich nach rechts und folge ein Stück einem Waldweg, der sich mir auf einem Schild als Johann-Niemann-Weg vorstellt. Bereits nach wenigen Metern entdecke ich unter den Bäumen am Ufer des Stroms eine hölzerne Bank. Da sie frei ist, setze ich mich und lasse für einige Minuten die abendliche, langsam zur Ruhe kommende Natur auf mich wirken. Schilf wiegt sich sacht im Wind, der hier so zahm ist, daß er die Wasseroberfläche nur leicht kräuselt. Eine himmlische Ruhe liegt über dem Strom und dem angrenzenden Wald, in der lediglich ein paar Vogelstimmen hier und da zu hören sind. Und so langsam spüre ich, wie auch ich mehr und mehr zur Ruhe komme.

Schilf am Prerower Strom
Sacht wiegt sich das Schilf im Wind am Prerower Strom. Wer Ruhe sucht, wird hier außerhalb der Saison ganz sicher fündig.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Als ich mich schließlich wieder erhebe und meinen Spaziergang fortsetze, indem ich den Weg zurückgehe, gelange ich nach wenigen Metern wieder zum Deich, den ich überquere. Einige Minuten später bin ich wieder im Zentrum des Ortes angelangt. Hier gestatte ich mir noch einen kleinen Schlenker durch die Bergstraße, der mich bis zur Hausnummer 10 führt. Denn schließlich bin doch ein bißchen neugierig, wie das Haus, in dem wir früher für unsere Tage in Prerow stets Quartier bezogen hatten, heute aussieht. Das einst von einer wilden Wiese bedeckte Gelände davor ist heute dicht bebaut, so daß ich für einen Augenblick daran zweifle, daß ich in der richtigen Straße unterwegs bin. Doch schon nach einigen Metern sehe ich sie vor mir – die alte Bäckerei. Und ein wenig erleichtert stelle ich fest, daß sie noch fast genauso aussieht, wie ich sie in Erinnerung habe. Lediglich die Veranda auf der linken Seite kommt mir unbekannt vor. Vermutlich ist sie erst in der Zeit nach unseren Aufenthalten hier hinzugekommen.

Die (ehemalige) Bäckerei Koch
Die einstige Bäckerei Koch in Prerow. Heute hat sie ihre Pforten für immer geschlossen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ein orangefarbenes Schild, aufgestellt ganz in der Nähe, verrät mir Dinge, die ich noch nicht wußte. Das Gebäude, so lese ich da, stammt bereits aus den Anfangsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Als Villa Ruheleben errichtet, wurde darin 1910 das Café Stein eröffnet. Im Jahre 1928 übernahm es der Bäckermeister Friedrich Koch und richtete darin seine Bäckerei ein. Bis heute ist das Gebäude im Familienbesitz. Und, so wird berichtet, noch immer backe man hier nach alter Tradition. Nun, daß das so nicht mehr stimmt, darüber bin ich dann doch bereits informiert. Daß hier jedoch einmal eine Bäckerei gewesen ist, kann man noch erahnen, selbst wenn man es nicht weiß. Die Markise über der abgeschrägten Ecke mit der Eingangstür, zu der drei kleine Stufen hinaufführen, ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß sich hier einmal ein Laden befunden hat. Und wer genau hinsieht, kann in dem weißen Rechteck im oberen Stockwerk noch das einstige Bäckerei-Logo mit dem großen K erkennen, das für den Namen der Eigner steht.

Zufrieden mit all meinen ersten Entdeckungen und auch ein wenig glücklich darüber, doch bereits so vieles, das mir aus meiner Kindheit noch in Erinnerung ist, wiedergefunden zu haben, schließe ich für diesen ersten Tag meines kleinen Urlaubs in Gedanken das Album mit den Bildern meiner Kindheit und mache mich auf den Weg zurück zu meinem Quartier.

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Referenzen

Referenzen
1 Reinhard Mey: Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit, Album „Jahreszeiten“, 1980, Intercord, INT 160.139
2 Das Kürzel stand für Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. Das war der Dachverband der Gewerkschaften in der DDR.
3 Tatsächlich ist die Bäckerei allerdings älter. Der Zeitraum bezieht sich auf ihren letzten Inhaber.
4 Vehemente Verteidiger der Bahn mögen nun einwenden, daß die Bauarbeiten ja sicher länger als ein Wochenende gedauert haben und am Osterwochenende somit nur eine Pause eingelegt worden ist. Das ist sicher richtig. Allerdings habe ich dagegen einzuwenden, daß angesichts der Tatsache, daß eine Woche später die Bahn bereits wieder durchfuhr, durchaus eine andere Planung möglich gewesen sein müßte, als ausgerechnet am Osterwochenende, wo viele Menschen ein sehr langes Wochenende frei haben, das zu Kurzreisen auch an die Ostsee geradezu einlädt, eine dafür wichtige Strecke mit stillstehenden Bauarbeiten zu blockieren!

Für meine Mutter

Zum 80. Geburtstag

Man schreibt das Jahr neunzehnvierzig und drei,
die Macht des Winters verfällt.
Im schlesischen Lande der Frühling fängt an,
da trittst Du des Lebens Reise an
und kommst hoffnungsfroh auf die Welt.

Die Zeiten sind alles and’re als leicht,
Faschisten entfachten den Krieg.
Am End‘ treibt man Euch aus der Heimat hinaus,
Verlassen müßt Ihr Hof und Haus
mit Wenigem nur, das Euch blieb.

Vom Auffanglager Merane geht es
nach Mittweida weiter sodann.
Ein Teil der Familie zieht Richtung West.
Weil Euch man jedoch schließlich bleiben läßt,
fangt Ihr hier in Sachsen neu an.

Zum Glück gibt es Arbeit, doch ist’s trotzdem hart,
zu sorgen für’s tägliche Brot.
Auch sind die Flüchtlinge nicht gern geseh’n
und haben so Manches auszusteh’n.
Es sind die Jahre der Not.

Sie weicht nicht so bald und folgt Dir auf Schritt
und Tritt in die Schule hinein.
Flüchtling und arm als Kombination
sorgt bei den Mitschülern für sehr viel Hohn.
Sie sparen nicht mit Hänselei’n

Die Lehre eröffnet Dir dann die Welt
der Stoffe, Bekleidung und Co.
Du wirst bester Lehrling im ersten Jahr.
Die örtliche Zeitung berichtet sogar
von der Verkäuferin der HO.

Und dann, eines Sonntags, ist es soweit.
Das Leben, es stellt seine Weichen
Es bittet ein junger Mann Dich galant
Zum nächsten Tanze um Deine Hand.
Und Du willst sie gerne ihm reichen.

Es dauert nicht einmal ein halbes Jahr,
da bittet er Dich erneut.
Doch diesmal soll’s nicht zum Tanze sein,
denn jetzt willigst Du für immer ein
in’s gemeinsame Leben zu zweit.

Gemeinsam durch’s Leben, das sollte zunächst
Euch gar nicht so einfach werden.
Der Wehrdienst den Liebsten fern von Dir hält.
Inzwischen bringst Du Euren Sohn auf die Welt,
zum Glück ohne größ’re Beschwerden.

Als kleine Familie fangt Ihr nun an,
ein Leben Euch aufzubauen.
Doch auch, wenn man Euch den Weg erschwert,
ein Hindernis ihn manchmal ganz versperrt,
Ihr könnt aufeinander vertrauen.

Für Deinen Sohn gibst Du auf den Beruf,
damit Du für ihn kannst sorgen.
Doch arbeitest Du zusätzlich in dieser Zeit
und reparierst Strümpfe in Heimarbeit,
damit das Geld reicht auch morgen.

Und doch bleibt es knapp, drum trittst Du beherzt
entgegen des Lebens Tristessen.
Beim Rat des Kreises fängst Du neu an,
sorgst als Sachbearbeiterin dafür dann,
daß Arbeiter haben zu essen.

Du hältst Deinem Mann den Rücken frei, als
zum Studium er weit weg muß zieh’n.
Alleine zu Hause schlägst Du Dich gut,
bringst Kind, Heim und Arbeit unter den Hut,
bis Ihr schließlich geht nach Berlin.

Die große Stadt und der Neuanfang
sind nichts, was Dich wirklich aufhält.
Die Wohnung, die Arbeit, alles neu macht Berlin,
und Du hochschwanger mitten darin.
Eines Nachts bringst Du mich auf die Welt.

Ich bin, wie es scheint, kein ganz einfaches Kind
und lange als Schreihals voll hin.
Es splittern die Babyfläschchen en masse,
sie stets wegzuwerfen, macht mir wohl viel Spaß.
Doch immer hast Du mir’s verzieh’n.

Und schon steht der nächste Umbruch in’s Haus.
Nach Ungarn soll es nun gehen.
Zur dortigen Botschaft Dein Mann wird entsandt.
Daß Du ihn begleitest in’s ferne Land,
daran kann kein Zweifel bestehen.

In neuer Arbeit mußt Du Dich sodann
als Sekretärin bewähr’n.
Und wieder gelingt Dir das bravourös,
nie gibt’s wirklich Grund, zu werden nervös,
bald können sie Dich kaum entbehr’n.

Und doch müssen sie’s, da immer Du uns
bei dir setzt an vorderste Stell‘.
Weil Krankheit mich oft hält von allem fern,
bleibst Du ganz zu Haus, und das tust Du gern,
damit ich gesund werde schnell.

Die Schule schaffen zu können, verdank‘
ich nur Dir, denn zu meinem Glück
machst Du mit mir heimischen Unterricht,
lernst mit mir gemeinsam, und so fall‘ ich nicht
komplett in der Schule zurück.

Fünf Jahre darauf, wieder in Berlin,
kehrst Du in die Arbeit zurück.
Doch mit sicherer Hand, wie aus einem Guß,
hältst Du unser Familienleben in Schuß,
sorgst für unser aller Glück.

Und dann, plötzlich, ist einfach fort über Nacht
das Land, das das Deine auch war.
Sie rufen nach D-Mark und Reisefreiheit,
doch kriegen sie Armut und Unsicherheit.
Dir ist das von Anfang an klar.

Noch einmal wagst Du den Neubeginn
im Beruf, den Du einst hatt’st erwählt.
Du arbeitest Dich als Verkäuferin ein.
Bald schmeißt Du den halben Laden allein,
so daß jeder gern auf Dich zählt.

Und nun bist Du achtzig, was für eine Zahl!
Es wird einmal Zeit, Dank zu sagen!
Stets hast Du für mich alles möglich gemacht.
An Dich hast Du stets nur zuletzt gedacht.
Nie hörte ich Dich einmal klagen.

Du bist für mich da, zu jeder Stund‘,
an guten Tagen und schlechten.
Du hast mich gepflegt, wenn ich war krank,
und nie erwartet den kleinsten Dank,
trotz manchen durchwachten Nächten.

Und immer stehst Du mit Rat und Tat
zur Verfügung ganz unweigerlich.
Machst Essen, gibst Tips für Gesundheit und
unendlich viel Liebe, drum sag‘ ich heut‘ rund-
heraus: MUTTI, ICH LIEBE DICH!

© 2023, Alexander Glintschert. Alle Rechte vorbehalten.

Tanz auf dem Vulkan

Dieser Beitrag ist Teil 10 von 10 der Beitragsserie "Reise nach Neuseeland & Singapur"
Wie ich auf Lava wandelte und trotzdem keine brennenden Sohlen bekam

Als ich am vierten Tag unseres Aufenthalts in Auckland – es ist der siebte unserer Reise – kurz nach dem Aufstehen aus dem Fenster unseres Hotelzimmers blicke, ist der Himmel wolkenverhangen. Nicht wie tags zuvor einfach nur stärker bewölkt, sondern über weite Strecken grau. Es sieht nach Regen aus. Nun, es kann ja nicht immer nur die Sonne scheinen.

Und wie ich da so stehe und hinausschaue, habe ich das Gefühl, daß das Wetter irgendwie ganz gut zu meinem momentanen Empfinden paßt. Denn auch mir ist gewissermaßen ein wenig grau zumute, verspüre ich doch seit dem gestrigen Tag die ersten Anzeichen einer sich nähernden Erkältung. Nichts, was wirklich schlimm wäre. Doch was sich vordem lediglich als ein leichtes Kratzen im Hals bemerkbar gemacht hatte, ist heute bereits ein dauerhaft spürbarer Schmerz, den ich als störend empfinde. Dabei fühle ich mich ansonsten überhaupt nicht krank. Und doch drückt die Aussicht, in den nächsten Tagen möglicherweise an einer Erkältung herumzulaborieren, auf meine Stimmung, die dementsprechend ausfällt, wie der Himmel aussieht: grau.

„Ach was“, rufe ich mich selbst zur Ordnung. „Ich werde nicht krank!“

Wahrscheinlich verspüre ich nur eine allergische Reaktion auf irgendwelche hier herumfliegenden Pollen, die ich nicht gewohnt bin, versuche ich mir einzureden, um mich aus meiner trüben Stimmung zu reißen. Schließlich bin ich nicht um die halbe Welt gereist, um hier krank herumzusitzen, wo es doch soviel zu sehen und zu unternehmen gibt.

Und um mich von dem Schmerz in meinem Hals abzulenken, packe ich meine Siebensachen für den heutigen Tag zusammen. Als ich damit fertig bin, ist es auch schon Zeit, zum Frühstück hinunterzugehen. Das ist in unserem Hotel ganz anständig. Eier, Speck und Würstchen gehören ebenso wie Pancakes zum Angebot, was in Ländern, die im Einflußbereich des einstigen britischen Empires lagen, eine Selbstverständlichkeit ist. Wer es konventioneller oder einfach nur der Gesundheit weniger abträglich mag, hat meist auch die Wahl, das sogenannte kontinentale Frühstück zu nehmen – eine Bezeichnung, die den Blickwinkel der Bewohner der britischen Inseln auf die Frühstücksgewohnheiten, die auf dem europäischen Kontinent vorherrschend sind, widerspiegelt. Interessant ist, daß man das in allen Ländern des Commonwealths so nennt, also auch hier in Neuseeland, wo die Bezeichnung eigentlich nicht sonderlich viel Sinn ergibt, würde man sie doch bestenfalls auf den australischen Kontinent beziehen können. Doch auch dort spricht man, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, vom kontinentalen Frühstück und meint eines, das man für ein europäisches hält. Nun kenne ich mich, wenn ich ehrlich bin, nicht mit allen Frühstücksgewohnheiten in den vielen verschiedenen Ländern unseres schönen Kontinents aus. Doch als Deutscher sollte man, wenn man das kontinentale Frühstück bestellt, nicht erwarten, dabei etwas vorgesetzt zu bekommen, was man von zu Hause kennt. Man würde mit ziemlicher Sicherheit enttäuscht werden, es sei denn, man zieht es vor, lediglich Toastbrot zu frühstücken, das mit Butter bestrichen und etwas Wurst oder Käse belegt ist. Marmelade und Honig sind natürlich auch im Angebot. Viel mehr aber nicht. Brötchen? Fehlanzeige. Schwarzbrot? Hier völlig unbekannt. Immerhin kann man die Brotscheiben toasten. Dennoch ißt man sich an dem Zeug eher hungrig. Jedenfalls geht es mir stets so.

Eine besondere Erwähnung verdient ein Brotaufstrich, der in Australien überall zum Frühstücksangebot gehört, aber auch hier in Neuseeland anzutreffen ist: Vegemite. Ausgesprochen wird das in etwa als „Wedschimeit“. Als ich ihn auf dem Frühstücksbüfett gewahre, fällt mir eine Begebenheit wieder ein, die sich zweieinhalb Jahre zuvor während unserer Australienreise in dem kleinen Ort Erldunda zugetragen hat. Nun, eigentlich ist Erldunda gar kein Ort, sondern lediglich ein sogenanntes Roadhouse an der Kreuzung, wo der Lasseter Highway auf den Stuart Highway trifft. Letzterer verbindet Port Augusta im Süden mit Darwin im Norden und durchquert das inmitten des australischen Outbacks gelegene Alice Springs. Der Lasseter Highway zweigt von ihm ab und führt in westlicher Richtung zum Uluru, jenem berühmten Berg, der in unseren Breiten auch als Ayers Rock bekannt ist. Während unseres Besuchs in Alice Springs hatten wir eine zweitägige Tour unternommen, die uns zunächst zum Kings Canyon führte und tags darauf zum Uluru. Zu beiden Orten führt der Weg von Alice Springs über Erldunda. Um nun nicht die gesamten 250 Kilometer, die Erldunda von Alice Springs entfernt liegt, an beiden Tagen zurücklegen zu müssen, hatten wir in dem Roadhouse übernachtet. Mit diesem Begriff bezeichnet man in englischsprachigen Ländern Raststätten, die Durchreisenden alles für die Reise Notwendige bieten, wozu bei Bedarf natürlich ein Dach über dem Kopf gehört. So verfügt auch Erldunda über eine Tankstelle, ein Restaurant, ein Motel und einen Caravanpark sowie eine Landebahn für Flugzeuge. Das ist dann aber auch schon nahezu alles. Da sich die Unterhaltungsmöglichkeiten lediglich auf ein Gehege für Emus und in klaren Nächten den phantastischen Sternenhimmel beschränken, plant hier niemand längere Aufenthalte ein. Doch dafür ist ein Roadhouse wie Erldunda auch nicht gedacht.

Am Ende des ersten Tages fuhr uns unser Bus also zu dieser Raststätte, wo ein Zimmer auf uns wartete, verbunden mit einem guten Abendbrot im Restaurant. Dieses nahmen wir gemeinsam mit unserer Reisegruppe ein, der wir uns für diese zwei Tage angeschlossen hatten, ein bunt zusammengewürfelter Trupp von netten Menschen aus verschiedenen Gegenden Australiens und der Welt. Einen gewichtigen Teil zur Unterhaltung trug unser Tour-Guide bei – die hiesige Bezeichnung für jemand, der in sich die Funktionen eines Fahrers, eines Reiseleiters, eines Organisators und eines Problemlösers für alle Belange der ihm anvertrauten Touristen vereint. Unserer war ein waschechter Australier, der uns den ganzen ersten Tag zum Kings Canyon und zurück kutschiert und uns die interessantesten, am Weg gelegenen Orte im Outback gezeigt hatte, die wir ohne ihn mit Sicherheit nie gefunden und gesehen hätten. Lautstark erzählte er nun uns am Tisch Versammelten einige Geschichten, an die ich mich nicht mehr genau erinnere, bis er schließlich auf Vegemite zu sprechen kam.

„Wir Einheimische“, so erklärte er grinsend, „haben stets einen Heidenspaß, wenn wir Touristen, vorzugsweise Europäer, dabei beobachten können, wie sie das erste Mal Vegemite probieren.“

Ganz besonders lustig sei es, so erzählte er uns, wenn es sich dabei um Deutsche handle. Die würden Vegemite wegen seiner braunen Farbe stets für so etwas wie ihre geliebte Haselnußcreme halten. Oder, wenn sie doch einmal genauer hinsehen, für einen süßen, sirup­artigen Brotaufstrich. Aber nie, wirklich nie, rechneten sie mit dem, was Vegemite tatsächlich ist. Ganz offensichtlich bereitete ihm seine Geschichte großes Vergnügen, denn während er sie erzählte, brach er zwischendurch immer wieder in Gelächter aus, ohne daß die meisten seiner Zuhörer noch genau wußten, was ihn daran so amüsierte, war er doch bis zur Pointe noch gar nicht vorgedrungen.

Die bestand darin, daß es in den von ihm beschriebenen Situationen fast immer kommt, wie es wohl kommen muß: der unbedarfte, vorzugsweise deutsche Tourist streicht sich eine kräftige Portion Vegemite auf seinen Toast, beißt in froher Erwartung herzhaft hinein – und erstarrt förmlich. Langsam, ganz langsam, verzieht er angewidert das Gesicht, ganz offensichtlich mit sich ringend, ob er die als völlig ungenießbar empfundene Masse in seinem Mund herunterschlucken oder sich ihrer doch lieber entledigen soll. Daß dies ihn dabei möglicherweise beobachtende Einheimische stets köstlich amüsiert, dafür war unser Tourführer, der uns all dies beschrieb, mit seinem dröhnenden Gelächter, das seine Erzählung begleitete, der beste Beweis.

Denn der arme Tourist verspürt nun in seinem Mund anstatt der erwarteten Süße die Empfindung eines salzigen, malzigen, leicht bitteren Geschmacks. Vegemite hat nämlich nichts, aber auch gar nichts mit Nutella, Nudossi oder wie all die Nuß-Nougat-Cremes so heißen, zu tun. Und auch nicht mit süßem Sirup. Vegemite ist konzentrierter Hefeextrakt. Da es nur sehr wenig Zucker, dafür aber viel Vitamin B und andere der Gesundheit förderliche Stoffe enthält, kann man es durchaus als ein gesundes Lebensmittel ansehen, wenn man die acht Prozent Salz außer Acht läßt. Ein starker Gegensatz zu unseren Nußcremes. Oder eben Sirup. Der Geschmack ist, vorsichtig ausgedrückt, auf jeden Fall gewöhnungsbedürftig. So sehr, daß das 1922 von Cyril Callister entwickelte Produkt auch in Australien zunächst kein Erfolg war. Es bedurfte erst der kostenlosen Beigabe eines Glases Vegemite zu dem ebenfalls von Callister erfundenen, überaus erfolgreichen Schmelzkäse und der Zeit der Großen Depression um 1930, als die Verschwendung jeglicher Lebensmittel tabu war, um die Australier an den Geschmack zu gewöhnen. Heute gilt die braune Paste als der Inbegriff der typischen australischen Ernährung. Und weil ihr Geschmack so ungewöhnlich und gewöhnungsbedürftig ist, bezeichnen ihn die Australier als „the taste of Australia“ – den Geschmack Australiens. Auch unser Tourführer versäumte damals nicht, uns das stolz unter die Nase zu reiben. Soweit ich mich erinnere, wußte ich damals nicht so recht, ob ich seiner Geschichte und des Vergnügens, mit dem er sie erzählte, wegen amüsiert oder beleidigt sein sollte. Denn immerhin waren es seiner Meinung nach gerade wir Deutschen, die bei den Einheimischen für besonderes Amüsement sorgten. Da ich es jedoch nicht schaffte, angesichts der Herzlichkeit, die er gleichzeitig ausstrahlte, während er redete, mich wirklich beleidigt zu fühlen, amüsierte ich mich schließlich mit. Erst recht, weil mir meine eigene erste Begegnung mit Vegemite gleich am ersten Tag nach unserer Ankunft in Australien wieder in den Sinn kam, die, ich muß es gestehen, ziemlich exakt so abgelaufen war, wie er es beschrieben hatte. Auf der gesamten Reise durch den großen Kontinent war es mir anschließend nicht gelungen, mich an Vegemite zu gewöhnen. Und so mache ich nun, als ich es hier in Neuseeland wieder auf dem Frühstücksbüfett stehen sehe, einen weiten Bogen darum. Ich habe es damals übrigens nicht über’s Herz gebracht, unserem Tourführer zu erzählen, daß wir beide zu eben jenen Deutschen gehörten, die er in seiner Geschichte für ihr Potential, ihn zu amüsieren, so sehr gewürdigt hatte. Diese Verlegenheit wollte ich ihm dann doch lieber ersparen…

Nachdem der letzte Toast aufgegessen und die letzte Tasse Kaffee beziehungsweise Tee ausgetrunken ist, erheben wir uns von unseren Stühlen und gehen zurück in unser Zimmer, doch nur, um unsere Sachen zu holen, die wir für unsere heutige Tagestour benötigen. Kurz darauf verlassen wir durch die große Eingangstür in der Lobby unser Hotel und finden uns auf der Wellesley Street wieder. Zu Fuß spazieren wir erneut in Richtung des an der Waterfront gelegenen Fährterminals, denn unser heutiges Ziel ist nur mit dem Schiff zu erreichen. Weil dessen Abfahrt aber noch eine ganze Weile hin ist, lassen wir uns viel Zeit und gehen gemächlich durch die kleineren Nebenstraßen des Central Business Districts Aucklands.

Nicht allzu weit von unserem Hotel entfernt entdecke ich in der Elliott Street etwas, das ich in Auckland bisher noch kaum irgendwo wahrgenommen habe: ein Graffiti. Allerdings ist es keines, wie man es in deutschen Städten so oft findet und das man eher als Schmiererei bezeichnen muß. Nein, hier handelt es sich um ein kleines Kunstwerk, das sich dem Betrachter auch erst mit einigem Abstand offenbart, verziert es doch die Vorderseiten der Stufen einer Treppe im Eingang eines Gebäudes. Es zeigt das Gesicht einer jungen Frau, die den Blick nach oben richtet, um den sie einhüllenden Schneeflocken entgegenzusehen. Ihr Gesicht und ihre Haare scheinen sich nach hinten immer mehr in den Schwaden wallenden Nebels aufzulösen oder aber aus diesen hervorzugehen, je nach Fantasie des Betrachters. Die purpurnen und blau-schwarzen, winterliche Stimmung vermittelnden Farbtöne der wabernden Luftschichten gehen mit zunehmender Entfernung von ihrem Gesicht mehr und mehr in helle Gelb- und Rottöne über, die den Eindruck lodernden Feuers erwecken. Ob es den Winter besiegen kann? Oder wird es von diesem überwältigt werden? Ich bin mir nicht recht schlüssig. Auf jeden Fall ist es ein schönes Bild, das mich da im Vorbeigehen gefesselt und zum Innehalten bewegt hat.

Graffiti in der Elliott Street in Auckland
Kunst in der Stadt – ein Treppengraffiti in der Elliott Street in Auckland.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als wir wenig später dort, wo die Queen Street auf die Quay Street trifft, die Waterfront erreichen, liegt das Kreuzfahrtschiff, das zwei Tage zuvor bereits am Queens Wharf längsseits festgemacht hatte, immer noch dort vor Anker. Offenbar hat die Crystal Serenity, wie das Schiff den großen Lettern an seinem Rumpf zufolge heißt, es nicht sonderlich eilig. Nun, Auckland hat ja auch einiges zu bieten, was anzusehen sich lohnt, wie wir nun aus eigener Erfahrung bestätigen können.

Da unsere Fähre erst in knapp zwei Stunden abfahren wird, nutzen wir die uns dadurch zur Verfügung stehende Zeit, um die Waterfront noch ein wenig zu erkunden. An unserem ersten Abend waren wir die Quay Street in Richtung des Viaduct Bassins entlanggegangen, daher schlagen wir jetzt die entgegengesetzte Richtung ein und spazieren den Roten Zaun entlang, der uns nun auf der linken Seite der Straße begleitet. Hinter den durchgehend roten Zaunstäben dehnt sich das Hafengelände, im vorderen Bereich meist eine weitgehend leere, betonierte Fläche, auf der vereinzelt Autos parken, während dahinter die Wasser des Waitematā Harbours mal näher, mal weiter entfernt wogen, je nachdem, ob wir gerade einen der zahlreichen Piers oder eines der zwischen ihnen liegenden Hafenbecken passieren. Hafenkräne, Lagerhallen, vor Anker liegende Kutter, Schlepper und große Frachtschiffe bestimmen das Bild, das sich uns bietet, wenn wir den Blick durch den Zaun lenken.

Die gegenüberliegende Straßenseite gehört hingegen vollständig der Stadt. Hier bestimmen zunächst moderne Geschäfts- und Bürohäuser das Bild, einige mehr, anderer weniger hoch. Nichts jedoch, was sonderlich in Erinnerung bleiben würde. Das ändert sich erst, als wir die von links in die Quay Street einmündende Gore Street passiert haben. An der Straßenecke erhebt sich ein dreistöckiges Gebäude, das mit seiner gelben Ziegelfassade und den die Stockwerke voneinander trennenden Gesimsen so offensichtlich aus einer anderen Zeit stammt, daß es der an dem oben aufgesetzten, terrassenartig ansteigenden und mit weißen Steinkugeln verzierten Scheingiebel plazierten Jahreszahl 1898 gar nicht bedarf, um das 19. Jahrhundert als seinen zeitlichen Ursprung zu vermuten. Die Vorderfront dieses Hauses Quay Street 266 gliedert sich in fünf Fensterachsen, die voneinander durch Pilaster getrennt werden, deren zwei weitere die Fassade an den beiden Außenseiten abschließen. An der mittleren Achse sind die sie einfassenden Pilaster gedoppelt und gehen nach oben hin direkt in den Scheingiebel über, der sie mit einem kleinen, bekrönenden Giebeldreieck abschließt. Das Erscheinungsbild der Fassade wird von den regelmäßig angeordneten, nahezu quadratischen, meist zweigeteilten Fenstern im zweiten und dritten Stock bestimmt. Lediglich in der hervorgehobenen mittleren Achse sind diese etwas größer und bestehen nicht aus zwei, sondern aus drei Scheiben. Das Erdgeschoß ist mit großen, repräsentativen Rundbögen versehen, die sowohl die hier stets dreiteiligen Fenster als auch die beiden Eingangsportale überwölben, deren eines sich in der mittleren Achse befindet und angesichts des dreieckigen Türgiebels zweifellos das Hauptportal ist, während das andere in der linken äußeren Achse ohne einen solchen Schmuck auskommt. Über den Rundbögen befindet sich unter dem Gesims, das den ersten Stock vom Erdgeschoß abgrenzt, ein durchgängiger weißer Streifen, auf dem große, steinerne, etwas vorstehende und ebenfalls weiße Lettern aufgebracht sind. „The Northern Steamship Company Ltd.“ ist dort zu lesen – fünf Wörter über fünf Fenstern, je Fenster eines.

Das Gebäude der einstigen Northern Steamship Company in Auckland
Ein ehrwürdiges, geschichtsträchtiges Gebäude – der einstige Sitz der Northern Steamship Company Ltd. in der Quay Street 122.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Die auch kurz als NSS bezeichnete Schiffahrtsgesellschaft befuhr in den Jahren von 1881 bis 1974 die Gewässer rund um die nördliche Hälfte der Nordinsel Neuseelands. Als sie Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Geschäftsgebäude benötigte – das alte in der Queen Street war zu klein geworden -, ließ sie das Gebäude, das wir nun vor uns sehen, vom Architekten Arthur P. Wilson entwerfen und anschließend nach seinen Plänen errichten. 1898 fertiggestellt, wurde es von der Firma im Jahr darauf bezogen.

Der neue Unternehmenssitz befand sich dabei auf einem Areal, das man vom Auckland Harbour Board, der städtischen Betreibergesellschaft des Hafens, gepachtet hatte und das noch wenige Jahrzehnte zuvor von den Fluten des Waitematā Harbours überspült wurde. In den 1860er Jahren hatte man für den weiteren Ausbau der Siedlung Auckland, zu dem unter anderem auch die Anlage einer Eisenbahnstrecke gehörte, begonnen, Land aufzuschütten, was die Küstenlinie vor dem heutigen Central Business District dramatisch veränderte. Ganze Buchten und Landzungen verschwanden, als man das Wasser Stück für Stück zurückdrängte, um neue Gebiete zu schaffen, die man bebauen konnte. Namen wie Freemans Bay, Commercial Bay, Official Bay und Mechanics Bay, Point Stanley und Point Britomart sind heute nur noch in den Geschichtsbüchern oder auf alten Karten zu finden. So bekommt der Name Waterfront, unter dem das Areal heute bekannt ist, eine ganz neue Bedeutung.

Das Firmengebäude der Northern Steamship Company besaß zunächst lediglich zwei Stockwerke. Gußeiserne Säulen stützten die hohen Decken mit dem dunkelgrünen Gebälk. Hier war genug Platz für das öffentliche Büro der Gesellschaft, einen Telefonraum, das Büro des Managers, weitere Räume für die Mitarbeiter und einen Sitzungssaal. War all das über das zentrale Portal zu erreichen, so führte die östliche Tür, die ich links an der Frontseite bemerkt hatte, vom Gebäude zu den Kais, die die Passagiere über einen Steg erreichen konnten – ein Umstand, der es ihnen erlaubte, den damals noch allgegenwärtigen Schlamm zu vermeiden, denn das Gelände war noch lange nicht so mit Beton und Asphalt versiegelt, wie es heute der Fall ist. Ein Lagerhaus, das sich auf der Rückseite des Firmengebäudes befand, war ebenfalls über diese Tür zu erreichen. Als das expandierende Unternehmen im Jahre 1921 mehr Platz für Unterkünfte und eine Wäscherei benötigte, erweiterte man das zweistöckige Haus um eine dritte Etage.

Bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts machte der nach wie vor auf die Schiffahrt konzentrierten Gesellschaft die Konkurrenz von Eisenbahn und Straße zu schaffen. Die Zahl der Passagiere ging mehr und mehr zurück, was das Unternehmen zwang, deren Transport immer weiter einzuschränken und entsprechende Schiffahrtslinien einzustellen. Es verlegte sich daher auf den Handel und den Transport von Waren, doch auch das erwies sich mit der Zeit als immer weniger profitabel, da deren Beförderung mit Eisenbahn und Lastkraftwagen einfach schneller vonstattenging. Eine Zeitlang konnte die Northern Steamship Company, die natürlich längst nicht mehr mit Dampfschiffen unterwegs war, noch mit dem Handel zwischen den neuseeländischen Inseln und auch mit Australien überdauern, doch 1974 wurde das Unternehmen dann schließlich aufgelöst. Das Gebäude ging in den Besitz des Auckland Harbour Boards über, dem das Land, auf dem es stand, sowieso gehörte. Heute beherbergt der einstige Sitz einer Schiffahrtsgesellschaft eine Bar.

Direkt gegenüber befinden sich im Roten Zaun mehrere nebeneinanderliegende Tore, die, wären sie geöffnet, Zugang zum Hafengelände dahinter gewährten. Für uns ist das eine weitere Gelegenheit, die kunstvolle Gestaltung dieser gewaltigen schmiedeeisernen Konstruktion eingehend zu betrachten und angemessen zu bewundern. Auch hier sind in der Mitte der Torflügel die großen wappenartigen Siegel des Auckland Harbour Boards angebracht, wie sie uns schon am Tor zum Queens Wharf begegnet waren. Und auch die großen Laternen mit den kleinen bärtigen Männerköpfen an ihren Sockeln fehlen natürlich nicht und bekrönen elegant-gewaltig die Torpfosten.

Das Wappen des Auckland Harbour Board am Roten Zaun in Auckland
Das Wappen des Auckland Harbour Boards am Roten Zaun an der Waterfront in Auckland.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Wir setzen unseren Weg fort und spazieren weiter den Roten Zaun entlang. Meine Hoffnung, noch einige weitere altehrwürdige Gebäude wie das der einstigen Northern Steamship Company zu sehen zu bekommen, erfüllt sich allerdings leider nicht, sieht man einmal von einem als Quay Buildings bezeichneten Bau ab, bei dem ich mir allerdings nicht ganz sicher bin, ob es sich dabei nicht einfach nur um einen auf alt getrimmten modernen Bau handelt. Das einzige weitere wirklich ältere Gebäude ist ein langgestreckter einstöckiger Ziegelbau mit Spitzdach, den wir an der Ecke Quay Street und Britomart Place antreffen und bei dem es sich, wie ich zunächst vermute, um ein altes Lagerhaus handeln könnte. Heute scheint der Aufschrift „Brew on Quay“ und den wenigen Tischen und Stühlen auf dem schmalen Gehsteig nach zu urteilen darin ein Restaurant der Art untergebracht zu sein, die man bei uns Brauhaus nennt. Daß ich mit der Lagerhaustheorie falsch liege, finde ich bei späteren Recherchen heraus. Tatsächlich handelt es sich bei dem im Jahre 1903 errichteten Gebäude um den einstigen Hauptsitz der Colonial Sugar Refining Company, was man mit Koloniale Zuckerraffinerie-Gesellschaft übersetzen könnte. Die Gesellschaft hatte ihr Hauptquartier nahe dem Hafen errichtet, mußte es später aber aufgeben, als sich das Zuckergeschäft auf dessen andere Seite verlagerte. So brachte man in dem Gebäude die Polizei unter, die es als Operationsbasis für ihre Suche nach Kriminellen an den Kais benutzte. Weil das nahe der Innenstadt gelegene Hafengelände schließlich seiner ursprünglichen Funktion verlustig ging, als der Hafen von Auckland mehr und mehr in östlicher Richtung verschoben wurde, schloß man 1993 diese Polizeistation. Vielleicht ist es ein Hinweis auf die Art und Weise, wie unsere heutige, schwerpunktmäßig auf Dienstleistungen ausgerichtete westliche Gesellschaft tickt, daß auch dieses historische Gebäude, genau wie das einstige Firmengebäude der Northern Steamship Company, nun ein Etablissement des Gastgewerbes beherbergt.

Wir gehen noch ein Stück weiter. Die Gegend wird jedoch immer uninteressanter. Auf der rechten Straßenseite zieht sich nun ein Parkhaus scheinbar endlos hin. Links haben wir immer noch den Roten Zaun neben uns, der jetzt aber lediglich aus einfachen, völlig schmucklosen Zaunfeldern besteht, in denen sich Stab an Stab reiht. Gerade überlegen wir, unsere Wanderung die Quay Street entlang abzubrechen und umzukehren, da hört der Rote Zaun neben uns plötzlich auf und tritt etwa zwei Meter vom Gehweg zurück, um einer mit Ziegeln gepflasterten geneigten Ebene Platz zu machen, die an ihrem hinteren Ende von einer merkwürdigen langgestreckten Wand begrenzt wird, deren Sinn sich mir nicht so recht erschließt. Sie ist durch einen massiven blau-grauen Stahlrahmen eingefaßt und in eine Reihe von Wandfeldern unterteilt, deren jedes aus einer großen gerippten Metallplatte besteht, die links, rechts und unten von Glasscheiben umgeben ist, durch die man auf das Hafengelände dahinter sehen kann. Dieses wird auf der gesamten Länge der Wand etwa fünf Meter weit von einem Dach überschattet, das von großen, galgenartigen Metallpfeilern gehalten wird, die zum Balanceausgleich über rückwärtige Ausleger verfügen, deren Stützen als Säulen am vorderen Ende der schrägen Ebene stehen und diese so in zu den Wandfeldern passende Bereiche einteilen. Ganz schön viel Aufwand für die lediglich teilweise Überdachung eines großen Platzes. Aber es wird sich schon jemand etwas dabei gedacht haben, geht es mir durch den Kopf, und ich wende mich einem ungleich interessanteren Detail zu, das mir just in diesem Augenblick zu meinen Füßen ins Auge springt.

Im zweiten der Felder, in die die geziegelte Schrägebene durch die Stützsäulen unterteilt wird, ist nämlich ein vornehmlich in Blau und Gelb gehaltenes Mosaik in den Boden eingelassen. Es ist in zwei Teile geteilt, deren linker, größerer ein Segelschiff mit tiefblauen Segeln inmitten eines aufgewühlten Meeres von ebensolcher Farbe zeigt, über dem sich ein gelber Himmel wölbt, an dem links das Kreuz des Südens prangt, während rechts ein Schweifstern herniederstürzt. Der Rumpf des Schiffes zeigt am Bug einen breiten Streifen in den Farben des Regenbogens, während an seiner Seite in großen Buchstaben das Wort GREENPEACE zu lesen ist. Umrahmt ist das Mosaik von einem Streifen aus schwarzen Fliesen, über die sich am linken, oberen und rechten Rand ein blaues Band windet. Der untere Rand ist ebenfalls mit großen Lettern beschriftet. RAINBOW WARRIOR lese ich, gefolgt von der Wiederholung des Wortes GREENPEACE.

Der rechte Teil des Mosaiks setzt das Bild des gelben Himmels und des blauen Meeres fort, über das jedoch das Bild mit dem Gerippe einer Echse gelegt ist, das mich in seiner Darstellung irgendwie an ein Röntgenbild erinnert. Darüber befinden sich drei weiße Bereiche, die mit dem Text, den sie enthalten, ein wenig wie Sprechblasen in einem Comic wirken. Als ich beginne, den Text zu lesen, wird mir sehr schnell klar, daß ich hier ein Denkmal vor mir habe, das an ein sehr ernstes Ereignis der Weltgeschichte erinnert[1]Der Text lautet im Original: At Marsden Wharf in July 1985 the Rainbow Warrior, the flagship for Greenpeace, was bombed and sunk by agents of the French Government killing photograper Fernando … [Weiterlesen]:

Im Juli 1985 wurde die Rainbow Warrior, das Flaggschiff von Greenpeace, am Marsden Wharf von Agenten der französischen Regierung bombardiert und versenkt, wobei der Fotograf Fernando Pereira getötet wurde. Das Schiff war auf dem Weg in den Pazifik, um friedlich gegen französische Atomtests zu protestieren. Die öffentliche Empörung und der anhaltende Druck führten dazu, daß Frankreich die Bombentests nach 1995 einstellte und irreparable Schäden auf Moruroa hinterließ.

Heute inspiriert die Rainbow Warrior II die Menschen überall auf der Welt, da sie weiterhin rund um den Globus ein „Zeugnis ablegt“ gegen Atomwaffen und alle anderen zerstörerischen Umweltpraktiken.

„Einen Regenbogen kann man nicht versenken“

Das Denkmal für die Rainbow Warrior in Auckland
Das Mahnmal für die Rainbow Warrior vor dem Marsden Wharf an der Quay Street in Auckland.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Die Rainbow Warrior war, wie hier zu lesen ist, nicht nur irgendein Gefährt der Umweltschutzorganisation Greenpeace, sondern deren Flaggschiff. Sie war aus dem Nordpazifik eingetroffen, wo sie bei der Evakuierung der durch die Atomtests der 1950er und 1960er Jahre gesundheitlich geschädigten Bewohner des zu den Marshall­inseln gehörenden Rongelap-Atolls geholfen hatte, um nun an einer Protestaktion teilzunehmen, mit der sich die Organisation gegen die Atomwaffentests wandte, die Frankreich nach wie vor auf dem Mururoa-Atoll[2]Bei uns ist die Namensvariante Mururoa gebräuchlich. In der Sprache der Polynesier lautet der Name des Atolls allerdings Moruroa. durchführte. Geplant war, daß die Mannschaft der Rainbow Warrior die Auswirkungen dieser Tests überwachen sollte – ein Vorhaben, das der französischen Regierung offenbar ein Dorn im Auge war und das sie zu verhindern trachtete.

Und so brachten, als das Schiff am 10. Juli des Jahres 1985 am Marsden Wharf, einem Pier des Hafens von Auckland, vor Anker lag, Agenten des französischen Geheimdienstes unter Wasser Sprengsätze an seinem Rumpf an, deren Detonation nicht nur die Rainbow Warrior so stark beschädigten, daß sie schließlich sank, sondern auch den an Bord befindlichen niederländisch-portugiesischen Greenpeace-Fotografen Fernando Pereira das Leben kosteten. Heute würde man solch einen Anschlag, verübt auf ein ziviles Schiff, ungeschminkt als das bezeichnen, was er ist: Terror. Und es war eine westliche Regierung, die ihn in Auftrag gab.

Natürlich nahmen die Neuseeländer ein solches Verbrechen, das auf ihrem Territorium verübt wurde, nicht einfach hin. Die Polizei konnte zwar nicht alle, aber immerhin zwei der Attentäter ausfindig machen und verhaften. Sie wurden in der Folge zu jeweils zehn Jahren Gefängnis verurteilt, später jedoch auf Vermittlung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Javier Pérez de Cuéllar, an Frankreich übergeben, das sie zwar zunächst vereinbarungsgemäß auf einem französischen Stützpunkt im Pazifik in Haft behielt, doch einige Zeit später zurückholte. So kam es schließlich, daß sie zwar als einzige der an der Tat Beteiligten überhaupt zur Verantwortung gezogen wurden, ihre Strafe aber dennoch nicht vollständig absitzen mußten.

Als die Umweltschutzorganisation Greenpeace im September 2001 ihr dreißigjähriges Bestehen feiern konnte, nahm man das zum Anlaß, dieses Denkmal vor dem Marsden Wharf zu errichten. Die Künstlerinnen Vicki Worthington und Claudia Pond Eyley entwarfen das Mosaik und Jan Morrison übernahm die Realisierung. Wir waren bereits in der St. Mary’s Church einem Werk der neuseeländischen Malerin und Filmemacherin Pond Eyley begegnet. Dort hatte sie die sogenannten Frauenfenster gestaltet.

Heute ist der Anschlag auf die Rainbow Warrior wohl weitgehend in Vergessenheit geraten, auch wenn Denkmale wie dieses – ein weiteres befindet sich bei den Cavalli-Inseln vor der Matauri Bay, wohin man das Wrack der Rainbow Warrior schließlich brachte, um es endgültig zu versenken – daran erinnern. Und so besteht leider auch nur wenig Hoffnung, daß die Aufforderung, die inmitten des Mosaiks dessen beide Teile miteinander verbindet, in der aktuellen Zeit und der näheren Zukunft beherzigt werden wird[3]Im Original: „Let the world be nuclear-free!“:

Laßt die Welt atomwaffenfrei sein!

Für uns ist es nun an der Zeit, den Rückweg in Richtung Fährterminal anzutreten, denn die Abfahrtszeit unseres Schiffes rückt langsam näher. Damit wir nicht denselben Weg zurückgehen müssen, den wir gekommen sind, biegen wir, als wir den Britomart Place wieder erreichen, in diesen ein, zur Kenntnis nehmend, daß der Name für uns als Deutsche, die wir Place wegen der klanglichen Ähnlichkeit zuerst mit Platz übersetzen, etwas irreführend ist, handelt es sich doch keineswegs um einen Platz, sondern um eine Straße. Wäre es einer, spräche man hier wohl eher vom Britomart Square. Um jedoch nicht zu weit von dem Weg zu unserem Ziel, dem Fährterminal, abzukommen, nehmen wir bereits die nächste Querstraße, die wir nun in Richtung Queen Street entlangwandern. Viel Erinnernswertes bekomme ich hier allerdings nicht zu sehen. Die Tyler Street ist lediglich eine schmale Straße, die zwischen vergleichsweise gesichtslosen Häusern entlangführt, bis sie schließlich am Britomart Transport Centre auf die Queen Street trifft. Das gibt uns noch einmal Gelegenheit, sowohl dessen rückwärtigen Glaspavillon als auch sein an der Queen Street gelegenes Empfangsgebäude, das einstige Hauptpostamt der Stadt, zu betrachten.

Gegenüber dem altehrwürdigen Gebäude, das ebenso wie das Ferry Building im Stil des Edwardianischen Barocks gestaltet ist, liegt auf der anderen Seite der Queen Street ein kleiner Platz. Um ihn zu erreichen, müssen wir den Busbahnhof, zu dem die westliche Straßenseite umfunktioniert worden ist, durchqueren. Eigentlich ist es einfach eine lange Abfolge von Haltestellen, die zwischen Quay Street und Customs Street West aneinandergereiht und mit einem auf Stützen ruhenden Dach versehen sind, das die Wartenden vor möglicherweise vom Himmel herniederstürzenden Wasser schützt. Der besagte kleine Platz, von dem ich nicht einmal weiß, ob er überhaupt einen Namen besitzt, ist zwischen zwei Hochhäusern gelegen und an sich nicht sonderlich spektakulär. Mein Interesse weckt lediglich ein kleiner Brunnen in seiner Mitte, der aus zwei großen, übereinandergelegten Steinen dunkelbrauner Färbung besteht, in die kunstvolle Schnörkel und Ornamente eingemeißelt sind. Während am oberen Ende der beiden Steine unaufhörlich Wasser austritt, an ihnen herunterrinnt und sich in ein kleines, quadratisches Becken mit vielleicht eineinhalb Metern Seitenlänge ergießt, ist das eigentlich Interessante das, was sich nur gelegentlich ereignet. An der Spitze des oberen Steins flammt in unregelmäßigen Abständen immer wieder ein kleines Feuer auf, brennt für ein paar Augenblicke und erlischt dann wieder. Ob ihm der Brennstoff immer wieder entzogen wird oder ob das Wasser es nach kurzer Dauer wieder löscht, kann ich, der ich lediglich zu ihm hinaufschauen kann, nicht ergründen. Letztlich spielt es aber auch keine Rolle. Mich fasziniert die diesem Brunnen innewohnende Koexistenz der beiden gegensätzlichen „Elemente“ Feuer und Wasser. Beiden gemein ist, daß es für uns Menschen stets ein Quell der Ruhe ist, ihrer steten, sich beständig ändernden Bewegung zuzusehen und den sanften Geräuschen, die sie begleiten – das Rauschen der Wellen oder das Tröpfeln und Wispern rinnenden Wassers ebenso wie das Knistern und Prasseln von Flammen – zu lauschen. In diesem überaus interessanten und ästhetisch schönen Kunstwerk sind beide Elemente harmonisch miteinander vereint.

Der Brunnen mit Feuer und Wasser in Auckland
Der Feuer-und-Wasser-Brunnen an der Queen Street in Auckland, direkt gegenüber dem Empfangsgebäude des Britomart Transport Centres.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Nachdem wir dem Brunnen eine Zeitlang fasziniert zugesehen haben, ist es jedoch Zeit, uns zum Fährterminal zu begeben. Denn schließlich wollen wir die Fähre, die uns dem eigentlichen Ziel des heutigen Tages näherbringen soll, keineswegs verpassen.

Und so stehen wir wenig später auf der Plattform, von der aus wir auf das Schiff gelangen und die hier Gate heißt, genau wie an einem Flughafen, was aber auch ganz passend ist, wenn man bedenkt, daß es in der Fliegerei auch Luftschiffe gibt. Die Anzeigetafel am Gate 2B kündigt unsere Fähre bereits an: Rangitoto Island. Die Vulkaninsel.

Nachdem wir diese markante grüne Insel mit dem weithin erkennbaren Berg in den vergangenen Tagen immer wieder vor Augen gehabt haben, wollen wir sie uns nun endlich einmal genauer ansehen. Es liegt in der Natur der Sache, daß der einzige Weg dorthin ein Schiff erfordert. Glücklicherweise ist das aber kein Problem, denn die Fähren des Unternehmens Fullers Ferry bringen regelmäßig jeden, der dorthin will, hinüber. Und natürlich auch wieder zurück. Die Tickets haben wir schnell erstanden, und nun warten wir, daß wir unsere Fähre betreten können.

Das ist wenig später der Fall. Wieder verzichten wir darauf, uns Plätze zu suchen, auch wenn die Fahrt aufgrund der größeren Entfernung etwas länger dauern wird als unsere kurze Überfahrt nach Devonport drei Tage zuvor. Allerdings auch nicht zu lange, wie wir dem Fahrplan entnehmen können. Eine knappe halbe Stunde, dann werden wir da sein. Ausreichend Gelegenheit, um vom Heck des Schiffes erneut den Ausblick über den Waitematā Harbour und auf die Innenstadt zu genießen.

Als sich unsere Fähre in Bewegung setzt, ziehen sich das Ferry Building und mit ihm die Hochhäuser des Central Business Districts langsam zurück. Als wir den Bereich der Piere verlassen und die offene Wasserfläche des Naturhafens erreicht haben, beschleunigt unsere Fähre und wir ziehen wieder eine breite Spur aufgewühlten Wassers hinter uns her. Wir passieren den Queens Wharf und können nun das riesige Kreuzfahrtschiff Crystal Serenity aus nächster Nähe bewundern. Ihm folgt ein großes Transportschiff der norwegisch-schwedischen Reederei Wallenius Wilhelmsen Lines, das am Bledisloe Wharf vor Anker liegt und genau wie wir weit weg von zu Hause ist.

Kreuzfahrtschiff am Queens Wharf in Auckland
Queens Wharf mit Kreuzfahrtschiff und die Hochhäuser des Central Business Districts – vom Deck einer Fähre auf der weiten Fläche des Waitematā Harbours ist Aucklands Waterfront immer wieder ein faszinierender Anblick.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Der Blick auf die Skyline der Innenstadt ist genauso atemberaubend wie drei Tage zuvor, als wir nach Devonport unterwegs waren. Der Unterschied ist allerdings, daß der Himmel dieses Mal nicht strahlend blau ist und auch keine weißen Wolkentupfer zu sehen sind. Über der heute weniger blau- als grau-grünen Wasserfläche dräuen dichte Wolken, die so dicht gepackt sind, daß wir lediglich ihre Unterseiten sehen können. Sie schweben so tief über uns, daß es scheint, als würde die Spitze des Sky Towers sie jeden Augenblick aufreißen können. Einige von ihnen künden mit ihrem tiefdunklen Grau von der Schwere der Regenfluten, die sie in ihrem Inneren tragen. Die Bereitschaft, sie jeden Moment über das Land zu verteilen, ist ihnen förmlich anzusehen. Glücklicherweise für uns halten sie sich bisher aber noch zurück und beschränken sich darauf, einfach nur beeindruckend und – je nach Gemüt – auch ein wenig bedrohlich auszusehen.

Die Skyline Aucklands vom Waitematā Harbour aus gesehen
Dunkel dräuen die Wolken über dem Waitematā Harbour…
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Trotz der dunklen Wolken ist der Wind vergleichsweise mild und die Wasserfläche dementsprechend ruhig, wenn auch sehr gekräuselt. An uns gleiten andere Fähren sowie zahlreiche Segelboote vorüber. Devonport, die Stadt der Victoria, und der hinter ihr sich erhebende Mount Victoria ziehen im Norden an uns vorüber, und als der North Head hinter uns liegt, hat unser Schiff den Waitematā Harbour verlassen und durchschneidet nun die Fluten des Hauraki-Golfs.

Wenn man es genau nimmt, war das eigentlich von Beginn unserer Fahrt an der Fall, denn der Hauraki-Golf ist eine große Bucht im Nordwesten der Nordinsel Neuseelands, in die zahlreiche Landzungen einschneiden, so daß sie wiederum aus kleineren und größeren Buchten und insbesondere Naturhäfen zusammengesetzt ist, von denen der Waitematā Harbour einer ist. Der Name Hauraki entstammt der Sprache der Māori. Und auch wenn er vergleichsweise kurz ist, setzt er sich doch aus zwei Wörtern zusammen: zum einen hau, was Wind bedeutet, zum anderen raki, das Māori-Wort für Norden. Hauraki ist demzufolge mit „Nordwind“ zu übersetzen. Doch gibt es bei den Māori noch einen zweiten Namen für den Golf: Tīkapa Moana, dessen Bedeutung sich am ehesten mit „schwermütiges Meer“ wiedergeben läßt. Doch ob schwermütig oder vom Nordwind in Wallung gebracht – die Wasser, über die unsere Fähre nun dahingleitet, sind ein Teil des Pazifiks.

Fähre auf dem Waitematā Harbour
Fähren wie die „Superflyte“ bestreiten den Personenfährverkehr auf dem Waitematā Harbour. Mit einer von ihnen sind wir nach Rangitoto Island unterwegs.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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In südöstlicher Richtung gewahre ich inmitten des Golfs eine kleine, nahezu kahle Insel, die nur in der Nähe ihrer Ufer ein paar Bäume aufweist, deren dunkles Grün sich von dem hellen des mit Gras bewachsenen Landes deutlich abhebt. Dieses steigt vom südlichen Ende des Eilands allmählich zu einem kleinen Hügel an, der im Norden unvermittelt zum Meer hin abfällt. Es ist natürlich überhaupt keine Überraschung mehr für mich, daß dieser 68 Meter hohe Hügel zu den Vulkanen des Auckland Volcanic Fields gehört. Aufgrund seiner Insellage gehört er zu den besterhaltenen dieser einst feuerspeienden, doch nun ruhenden Erhebungen. Weil sich im Westen der Insel Muschelbänke ins Meer ziehen, bezeichnen die Māori sie als Motukorea – Austernfischerinsel -, denn sie betrieben hier, lange bevor die Europäer eintrafen, eben jenes Gewerbe. Der englische Name des Eilands ist ungleich prosaischer: Browns Island. Er geht auf William Brown zurück, der gemeinsam mit John Logan Campbell ab 1840 auf der Insel siedelte, was diese zu einer der frühesten europäischen Siedlungen im Gebiet Aucklands macht. Heute lebt jedoch niemand mehr auf Motukorea. Daher gibt es auch keine Fährverbindung und man gelangt nur dorthin, wenn man mit dem eigenen Boot über den Golf schippert oder jemandem auftreibt, der ein solches Gefährt besitzt und gewillt ist, einen dorthin zu bringen. An Geologie Interessierte mögen es vielleicht noch interessant finden, daß man im Jahre 1977 auf Motukorea ein Mineral entdeckte, das bis dahin völlig unbekannt war. Es nach seinem Fundort zu benennen, lag nahe, und so kam das Motukoreait zu seinem etwas schwierig auszusprechenden Namen.

Als ich den Blick schließlich von Browns Island abwende und nach vorn in Richtung Rangitoto Island schaue, stelle ich zu meiner Überraschung fest, daß uns die große grüne Insel, das Ziel unserer Fahrt, bereits sehr nahe gerückt ist. Just in diesem Augenblick verlangsamt unser Schiff seine Fahrt und steuert auf einen langen Steg zu. Weit ragt er vom Inselufer in den Hauraki-Golf hinaus und knickt erst an seinem Ende im rechten Winkel ab, um in einer breiten Plattform zu enden. Diese ist ringsum von dicken Holzpfeilern umgeben, an denen die anlegenden Schiffe festmachen können. Es vergehen nur noch wenige Minuten, dann liegt unsere Fähre längsseits und ist an einem der Pfähle sicher vertäut. Zeit, von Bord zu gehen.

Kurz darauf stehen wir auf dem massiven Betonboden der Plattform und werfen einen letzten Blick zurück auf die Fähre. In rund dreieinhalb Stunden wird sie uns an dieser Stelle wieder abholen. Vorsichtshalber schaue ich auf mein Mobiltelefon, um den Ladestand des Akkus zu überprüfen. Schließlich möchte ich während unseres Aufenthalts hier die Uhrzeit genauestens im Auge behalten können, denn die Abfahrt der Fähre sollten wir keinesfalls verpassen. Andernfalls würden wir die Nacht auf der Insel verbringen müssen…

Wir machen uns auf den Weg. Gut einhundert Meter ist der Rangitoto Wharf, so der Name des Stegs, lang und etwas mehr als einen Meter breit. Durchgehend betoniert und auf Pfeilern aus demselben Material ruhend, macht er einen sehr soliden Eindruck. Links und rechts hält ein Geländer, bestehend aus jeweils einer durchgehenden Metallstange, die auf Pfosten aus demselben Material ruht, die auf ihm Wandelnden davon ab, ins Wasser zu fallen. Und damit auch niemand unter den Stangen durchrutsche, hat man in dem Raum zwischen ihnen und dem Boden des Stegs Drahtseile gespannt. Das dürfte auch die unsicherste Landratte vor jeglichem Wasserschaden bewahren.

Am Fähranleger von Rangitoto Island
Rangitoto Island heißt uns willkommen. Sein markanter Berg, der sich hier noch dezent im Hintergrund hält, ist unser nächstes Ziel.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Der Steg wurde erst im Jahr vor unserem Besuch hier eröffnet. Zuvor konnten die die Insel ansteuernden Schiffe lediglich an einem alte Holzkai festmachen, der noch aus dem Jahr 1958 stammte. Für einen Steg, der tagtäglich den Wassern und Wettern des Hauraki-Golfs ausgesetzt ist, hatte er damit ein recht stattliches Alter erreicht. So verwundert es nicht, daß seine Unterhaltung eine immerwährende Wartung erforderte, die mit der Zeit doch recht kostspielig war. Als zudem klar wurde, daß infolge der immerfort steigenden Besucherzahlen größere Schiffe eingesetzt werden mußten, die jedoch nicht in der Lage waren, an dem alten hölzernen Kai festzumachen, entschloß man sich schließlich zu dem Neubau, auf dem wir nun unterwegs sind.

Wir genießen für einen kurzen Moment den ersten Blick auf die Insel aus allernächster Nähe, dann folgen wir zügig dem Steg zu ihrem Ufer. Wir haben es fast erreicht, da halte ich kurz inne. Was ich sehe, fasziniert mich. Anstelle eines Sandstrandes blicke ich auf pechschwarze Klippen, die von den Wellen des Hauraki-Golfs umspült werden. Kein Zweifel – das ist Vulkangestein. Weiter hinten verschwindet es unter dem üppigen Grün der Vegetation, die die Insel so reichhaltig bedeckt und es verbirgt, doch hier, direkt am Ufer, tritt es ungeschminkt zu Tage. Ein ungewöhnlicher Anblick.

Dort, wo der Rangitoto Wharf auf die Insel trifft, ragen zu seinen beiden Seiten zwei runde, dunkle, hölzerne Pfosten auf, deren obere Enden in Schnitzereien enden, die auf mich den Eindruck kunstvoller Masken machen. Etwas unterhalb dieser Schnitzkunstwerke ist an den Pfosten eine Querstrebe befestigt, die den Steg überspannt. Sie besteht jedoch nicht aus einem einzigen Stück, sondern ist aus zwei Brettern zusammengesetzt, die in einem etwa Vierzig-Grad-Winkel aufwärts führen und sich an ihrem höchsten Punkt direkt über der Mitte des Stegs treffen, so daß eine Art Tor entsteht, das allerdings gänzlich ohne Türflügel auskommen muß. Die Nahtstelle zwischen den beiden Brettern wird von einer weiteren geschnitzten Maske kaschiert. Diese und die beiden anderen sind ebenso wie die Pfosten in Schwarz gehalten, während die Bretter des Torbogens in kräftigem Rot leuchten. Auch sie weisen über ihre gesamte Länge führende und als Bänder gestaltete Schnitzereien auf, die sich durch ihre ebenfalls schwarze Farbe von ihrem roten Untergrund abheben. Mit dem Durchqueren dieses Waharoa beziehungsweise Tors, das von Reuben Kirkwood, einem Schnitzer aus dem Stamm der Ngāi Tai ki Tāmaki, geschaffen wurde, verlassen wir den Rangitoto Wharf und betreten die Insel.

Der Rangitoto Wharf auf Rangitoto Island
Dieses Waharoa beziehungsweise Tor bildet das Ende des Rangitoto Wharfs und stellt gewissermaßen den Eingang zu Rangitoto Island dar.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Natürlich sind wir nicht auf die Insel gekommen, um uns einfach nur so mal ein wenig umzuschauen. Vielmehr haben wir uns einen ungefähren Plan für unseren Besuch hier zurechtgelegt, den wir nun sogleich in Angriff nehmen. Unser Ziel ist – wie sollte es auch anders sein – der Vulkan, der sich in Luftlinie nicht ganz zweieinhalb Kilometer entfernt von unserem jetzigen Standort befindet. Beziehen wir in unsere Schätzung mit ein, daß der Weg aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in direkter gerader Linie dorthin führen wird und wir an seinem Ende auch noch den Berg erklimmen müssen, gehen wir optimistisch davon aus, daß wir in etwa einer Dreiviertelstunde von seinem Gipfel auf die Umgegend der Insel hinabblicken werden.

Gesagt, getan. Das Wetter ist für eine Wanderung bestens geeignet. Der Himmel ist nach wie vor weitestgehend von dichten Wolken bedeckt, die nur manchmal die Sonne hindurchlassen. Dennoch ist es angenehm warm. Ich schätze die Temperatur auf irgendetwas zwischen dreiundzwanzig und fünfundzwanzig Grad. Ein leichter Wind streicht über uns hinweg und verbreitet so eine angenehme Atmosphäre, in der wir nun entspannt die ersten Schritte auf der Insel wagen. Diese führen uns zunächst einen breiten Uferweg entlang in eine kleine Bucht hinein. Der Boden sieht dabei so aus, als wäre er zwar nicht befestigt, aber doch planiert und so verdichtet worden, um einen möglichst ebenen Untergrund abzugeben, auf dem man gegebenenfalls auch bequem fahren könnte. Während links von uns das Gelände etwas ansteigt, einige Felsen flach aus ihm herausragen und Bäume uns die Sicht auf das Innere der Insel versperren, wird unser Weg auf der rechten Seite von einer etwa dreißig Zentimeter hohen Mauer eingefaßt, hinter der sich die Wasserfläche der Bucht erstreckt. Ein zwischen zwei niedrigen Pfosten aufgehängtes grünes Schild verkündet uns in leuchtend gelben Lettern, daß wir hier im Rangitoto Island Scenic Reserve – dem Landschaftsschutzgebiet der Insel Rangitoto – herzlich willkommen sind.

Unser Weg folgt den Krümmungen und Biegungen des Ufers, von dem er sich kaum einmal entfernt, und wenn doch, dann nur, um einigen Bäumen ein wenig Platz zu machen, die die Nähe des Wassers suchen, oder um einem Rastplatz Raum zu gewähren. Zweimal führen kleinere Wege rechts ins Inselinnere hinein, deren Ziel jedoch nicht besonders ausgewiesen ist, so daß wir sie ignorieren. Als wir das Ende der kleinen Bucht erreicht haben, stoßen wir schließlich auf einen dritten Abzweig. Islington Bay – Islington-Bucht – steht auf einem kleinen Schild, das ebenso gestaltet ist wie die Willkommenstafel zuvor. Ein Pfeil deutet an, daß wir zum Erreichen der Bucht einfach der Uferstraße folgen sollen. Da das allerdings nicht unserer Absicht, mit der wir auf die Insel gekommen sind, entspricht, schenken wir lieber dem anderen Eintrag Beachtung: Rangitoto Summit – Rangitoto-Gipfel – ist dort zu lesen und der zugehörige Pfeil zeigt unmißverständlich auf den abzweigenden Weg.

Es sind nur einige wenige Schritte, die ich auf ihm unternommen habe, als mir bereits einige entscheidende Veränderungen auffallen. Da wäre zunächst einmal die Beschaffenheit des Weges. Waren wir zuvor auf einer breiten Uferstraße unterwegs, wandern wir nun auf einem weitaus schmaleren Weg. Und auch wenn er durchaus bequem zu gehen ist, läßt er die Beschaffenheit des Inselbodens viel unmittelbarer zutagetreten, als das zuvor der Fall gewesen war. So ist der vulkanische Ursprung des Geländes, durch das wir uns bewegen, nun kaum mehr zu übersehen, weist doch allein die fast schwarze Färbung des Untergrunds bereits überdeutlich darauf hin. Doch auch die Witterung scheint sich nun, da wir die Bucht verlassen haben und mit jedem Schritt weiter ins Inselinnere vordringen, irgendwie verändert zu haben. Das angenehme Lüftchen, das uns am Meeresufer noch umweht hatte, ist jetzt vollständig verschwunden. Und obwohl sich die Temperatur vermutlich nicht verändert hat, kommt es mir mit einem Mal so vor, als sei es um einige Grad wärmer geworden. So sehr, daß das Wandern, wenn auch nicht beschwerlich, so doch auf eine gewisse Weise durchaus anstrengender geworden ist. Doch davon lasse ich mich nicht abhalten.

Vielmehr betrachte ich neugierig die Umgebung, die wir nun durchwandern. Sie wird in erster Linie durch Bäume geprägt, die mich in ihrer Form eher an Büsche erinnern, die allerdings übergroß gewachsen sind. Das liegt vor allem daran, daß sie nicht so recht dem Bild entsprechen, daß ich von ihren europäischen Vettern gewohnt bin, die in der Regel über einen markanten Stamm verfügen, aus dem erst in einer gewissen Höhe Zweige ausgebildet werden, um eine Baumkrone zu formen. Demgegenüber wirken die Bäume, die sich hier rings um mich herum befinden, eher so, als besäßen sie entweder mehrere Stämme oder verzweigten sich bereits direkt über dem Boden. Ihre Höhe ist nichtsdestoweniger beachtlich. Dafür sind die Blätter vergleichsweise klein. Das hat zur Folge, daß das Laubwerk vergleichsweise licht wirkt und die Sonnenstrahlen, so es ihnen einmal gelingt, durch die den Himmel nach wie vor bedeckenden Wolken zu brechen, ohne größere Probleme bis zum Boden gelangen können. Die Schattenwirkung der Bäume ist daher geringer als beispielsweise die einer voll belaubten heimischen Eiche oder Buche, was in mir eine gewisse Dankbarkeit für die Wolkendecke aufkommen läßt.

Leider habe ich, während ich zwischen und unter diesen Bäumen der Inselmitte entgegenwandere, keine rechte Ahnung, welcher Art diese sind. Erst später werde ich herausfinden, daß die Māori ihnen den Namen Pōhutukawa gegeben haben, während sie bei uns als Neuseeländischer Weihnachtsbaum bekannt sind, was für einen immergrünen Laubbaum ein etwas ungewöhnlicher Name ist, der sich allerdings dadurch erklärt, daß die Pflanze um die Weihnachtszeit herum, wenn in Neuseeland Sommer ist, puschelige, leuchtend rote Blütenstände ausbildet. Tatsächlich bin ich hier im größten Pōhutukawa-Wald der Welt unterwegs, ein Superlativ, der jedoch eher Bezug auf die Vielzahl der Exemplare Bezug nimmt als auf die Charakteristik einer dicht mit Bäumen bestandenen, in tiefe Schatten getauchten Landschaft, die ich normalerweise mit einem Wald verbinde. Allerdings kann es durchaus sein, daß dieser Wald diese Eigenschaften in zukünftiger Zeit noch entwickelt, ist er doch, genau wie die ganze Insel, noch relativ jung. Und so sind auch die Bäume noch weit davon entfernt, ihr mögliches Alter von mehr als eintausend Jahren erreicht zu haben. Der älteste Pōhutukawa-Baum in Neuseeland befindet sich auf der Nordinsel in der Nähe des East Cape und soll ungefähr sechshundert Jahre alt sein. Fotografischen Aufnahmen nach zu urteilen verfügt er durchaus über eine dichte, ausladende Baumkrone, die reichlich Schatten spendet.

Daß es die Vegetation der Insel, die es mittlerweile auf mehr als zweihundert Baum- und Blumen- sowie mehr als vierzig Farnarten bringt, nicht gerade leicht hat, erschließt sich mir das erste Mal bereits nach wenigen Metern, die wir auf dem Weg ins Inselinnere unterwegs sind. Unvermittelt tritt rechterhand die Vegetation vom Wegesrand zurück und öffnet den Raum für ein kleines Feld, das mich aufgrund der überaus dunklen Färbung des Bodens beim ersten flüchtigen Blick darauf an einen umgepflügten Acker denken läßt. Als ich jedoch genauer hinschaue, stelle ich fest, daß ich es hier keineswegs mit aufgebrochener Erde zu tun habe, sondern vielmehr pures Lavageröll vor mir sehe. Angesichts der völligen Abwesenheit jeglicher Pflanzen wirkt dessen Schwärze absolut lebensfeindlich und bildet so einen scharfen Kontrast zu der üppigen Lebendigkeit des Grüns der sie umgebenden Vegetation. Nichts, gar nichts scheint hier gedeihen zu können. Und doch ist das unverwüstliche pflanzliche Leben gerade dabei, auch dieses Areal zu erobern. An den Rändern des Lavafeldes scheinen sich kleine Ranken und Zweige der umstehenden Bäume und Sträucher unverzagt vorzutasten, ragen hier und da bereits mit einigen grünen Blättern besetzte Zweige zwischen den Geröllbrocken hervor und sprengen sie im Zusammenwirken mit den Elementen der Witterung – Regenwasser, Wind und die Wärme der Sonne – Stück für Stück und sehr geduldig auf, so daß sich das Geröll nach und nach in kleinteiligere Fragmente verwandelt und von den Pflanzen mit der Zeit in Besitz genommen werden kann. Auf diese Weise hat die grüne Vegetation bereits den größten Teil der Insel in Beschlag genommen und begonnen, den bereits erwähnten Wald auszubilden. So wirken die Lavafelder, an denen wir auf unserem weiteren Weg zu dessen beiden Seiten immer wieder vorüberkommen und die mal so klein wie dieses erste, mal weitaus größer und damit hinsichtlich der Ödnis, die sie darstellen, unglaublich beeindruckend sind, wie letzte, vage Erinnerungen an den Ursprung der Insel.

Lavafeld auf Rangitoto Island
Lavafelder wie dieses sind in den äußeren Bereichen Rangitoto Islands allgegenwärtig. Die lebensfeindliche Schwärze des Gerölls bildet einen scharfen Kontrast zu der üppigen Lebendigkeit des Grüns der umgebenden Vegetation, die die Insel zum überwiegenden Teil erfolgreich erobert hat.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Daß dieser in vulkanischer Aktivität liegt, ist angesichts des deutlich ausgeprägten Vulkankegels in der Mitte der Insel offensichtlich. Weniger ins Auge fällt allerdings die Tatsache, daß das inmitten des Hauraki-Golfs gelegene Rangitoto Island noch gar nicht so alt ist. Wenn wir über die Entstehung von Landschaften, die wir besuchen und betrachten, nachdenken, gehen wir meist davon aus, daß diese in Zeiträumen stattgefunden hat, die so weit zurückliegen, daß wir sie uns kaum vorstellen können. Die fast kreisrunde Insel, deren Durchmesser zwischen fünf und sechs Kilometern liegt, entstand jedoch erst vor etwa sechs- bis siebenhundert Jahren. Ein Zeitraum also, als die Geschichte der menschlichen Zivilisation nicht nur bereits in vollem Gange war, sondern als auch bereits Menschen in dieser Region der Welt siedelten. Man nimmt heute an, daß der Vulkan Rangitoto in zwei Phasen mehrfach ausgebrochen ist, die sich wahrscheinlich über einen Zeitraum von nur fünf bis zehn Jahren erstreckten und in deren Zuge die Lavaströme die Insel formten. Weil allein etwa sechzig Prozent des von allen Vulkanen des Auckland Volcanic Fields ausgeworfenen Materials auf das Konto des Rangitoto gehen, ist dieser nicht nur der jüngste, sondern auch der größte Vulkan des Vulkanfeldes. Das ist auch mit bloßem Auge zu erkennen, wenn man ihn mit seinen Geschwistern vergleicht. Ihnen gegenüber ist seine Höhe von 260 Metern geradezu außerordentlich zu nennen.

Unser Weg führt uns weiter und weiter in die Insel hinein. Wir passieren weitere Lavafelder, die zunächst lediglich links oder rechts des Wegs auftauchen, bis wir schließlich eines erreichen, daß wir geradewegs überqueren müssen. Glücklicherweise ist der Pfad, auf dem wir unterwegs sind, gut ausgetreten, so daß sich für uns dabei keine große Schwierigkeiten ergeben und wir uns auch kaum darüber unsicher sein können, wo wir entlanggehen müssen. Dort, wo die Lavafelder dichter aufeinanderfolgen, nimmt die Höhe der Vegetation entsprechend ab. Offenbar ist in diesem Bereich der Eroberungsfeldzug der Vegetation noch nicht so weit vorangeschritten wie zu Beginn dieses Wegs. Das eröffnet uns allerdings die Möglichkeit weitreichender Ausblicke über die Insel. In der Ferne sehen wir immer wieder den Vulkankegel des Rangitoto vor uns, dem wir uns mit jedem Schritt nähern, auch wenn das aufgrund der zahlreichen Windungen des Weges zunächst gar nicht so sehr auffällt.

Nur sehr vereinzelt begegnen uns Wanderer, die in der entgegengesetzten Richtung unterwegs sind. Respektvoll machen wir einander Platz, denn der Weg ist inzwischen schmaler geworden. Aufgrund der hier nicht allzu hoch aufragenden Vegetation und der immer wieder auftretenden Geröllbrachen der Lavafelder haben wir stets ein gutes Stück des Wegs voraus im Blick und können, wenn wir uns umdrehen, auch einen gehörigen Abschnitt der zurückgelegten Strecke überblicken. Dabei fällt mir auf, daß ich so gut wie nie andere Personen entdecken kann, die in dieselbe Richtung wie wir unterwegs sind. Mir drängt sich die Frage auf, wo eigentlich die ganzen Leute abgeblieben sind, die mit uns gemeinsam die Fähre verlassen haben. Doch weil ich darauf keine Antwort weiß, halte ich mich nicht allzu lange damit auf und wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Weg und der Landschaft zu.

Diese hat ihr Antlitz nun schon eine ganze Weile nicht mehr verändert. Noch immer wechseln sich Areale dichter Vegetation, die hier aus buschhohen Pflanzen mir unbekannter Arten besteht und nur vereinzelt mit Bäumen durchsetzt ist, mit tiefschwarzen Lavafeldern ab. Das Gelände gewinnt hier kaum an Höhe, und wo es das doch einmal tut, ist es fast nicht merkbar. Als wir eine dieser Stellen erreichen, registrieren wir den Höhenunterschied eigentlich nur wegen der acht Stufen, die man hier in den Weg eingelassen hat, die jedoch ausschließlich der Bequemlichkeit dienen. Zur Überwindung des Anstiegs notwendig wären sie nicht.

Wir sind nun bereits gute zwanzig bis dreißig Minuten auf dem Rangitoto Summit Track genannten Weg unterwegs, als sich der Charakter der Landschaft langsam zu ändern beginnt. Die Lavafelder hören nach und nach auf, dafür nimmt die Anzahl der Bäume wieder zu. Die Büsche rücken näher an den Weg heran und ich bemerke nun auch einige Gräser, die teils beachtlich Höhen erreichen. Glücklicherweise ist der Pfad nach wie vor recht frei und weiterhin bequem zu gehen, doch zu beiden Seiten haben wir nun dichte Vegetation neben uns, die jeden Ausblick wirksam verhindert und ein Abweichen vom Weg nahezu unmöglich macht.

Auf dem Weg zum Rangitoto
Je weiter man sich dem Rangitoto nähert, um so seltener werden die Lavafelder. Stattdessen verdichtet sich die Vegetation mehr und mehr und es treten Felsen links und rechts des Weges zutage.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als ich am Wegesrand die ersten Felsen bemerke, die aus dem Boden lugen und nach und nach größer und auch höher werden, weiß ich, daß wir dem in der Inselmitte aufragenden Berg nun schon recht nahe sind. Bestätigt werde ich in dieser Annahme auch durch die nun häufiger und vor allem merkbar werdenden Anstiege des Geländes.

Gerade als ich in Gedanken diese Feststellung mache, scheint es fast so, als wolle die Insel mir zeigen, wie wenig berechenbar sie ist. Denn als ich eine weitere Biegung des Weges hinter mir gelassen habe, gewahre ich unmittelbar vor mir ein weiteres Lavafeld und für einige Minuten sieht die Landschaft wieder aus wie zuvor.

Doch letztlich erweist sich dies nur als kurze Episode auf dem Weg zum großen Berg, denn bereits hinter einer weiteren Biegung kehren der dichte Bewuchs und die aus dem Boden ragenden Felsen zurück und ich muß nun wirklich aufpassen, wo ich meinen Fuß hinsetze, denn der Weg ist plötzlich gar nicht mehr so eben und ausgetreten wie noch kurz zuvor. Jetzt heißt es genau hinschauen, um sorgsam und sicher aufzutreten, haben sich doch die Felsen nun auch auf den Weg vorgewagt und Baumwurzeln trachten danach, des Wanderers Schritte zu hemmen und ihn zu Fall zu bringen.

Wieder hat man Stufen in den Boden eingelassen, um steilere Anstiege leichter begehbar zu machen. Doch weil diese Stufen aus natürlichen Steinen bestehen, die man zurechtgehauen und mit irgendeiner Masse zusammengefügt hat, ist es auch hier wichtig, gut aufzupassen, wo man hintritt, denn Witterung und Erosion verrichten unablässig ihr Werk und sorgen für jede Menge Unebenheiten und kleines Geröll, das sich auf den Stufen abgelagert hat. Wer hier unachtsam ist und unpassendes Schuhwerk trägt, hat gute Chancen, unversehens der Länge nach hinzuschlagen.

Schließlich erreichen wir wieder eine Weggabelung. Ein weiteres der grünen Schilder heißt uns, die rechte Abzweigung zu nehmen, was wir bereitwillig tun. Erneut passieren wir Areale schwarzen Lavagerölls, die jedoch längst nicht mehr die Ausdehnung der früheren Lavafelder erreichen. Es handelt sich lediglich um kleine Brachen, die uns jedoch nun, da wir bereits eine gewisse Höhe gewonnen haben, hier und da erste Fernblicke über die Insel gewähren, für die wir uns allerdings umdrehen müssen, da vor uns das Gelände weiter ansteigt. Immerhin sind wir dem Berg in der Mitte der Insel nun schon sehr nah. Hinter uns jedoch schweift unser Blick über die Insel und die Wasserfläche des Hauraki-Golfs, hinter der wir in der Ferne die Innenstadt von Auckland erkennen können. Wir halten uns allerdings nicht lange damit auf zurückzublicken, drängt es uns doch vorwärts und hinauf auf den Gipfel des Rangitoto, von dem wir uns um ein Vielfaches spektakulärere Ausblicke erwarten.

Wieder geht es durch dichte Vegetation, über Stock, über Stein und über Stufen den gut erkennbaren Weg entlang, der nun wirklich deutlich merkbar bergauf führt. Ganz offensichtlich haben wir den Hang des Berges erreicht. Und hier gewahre ich zum ersten Mal, seit wir auf der Insel unterwegs sind, Bäume, die nach meinem Verständnis den Namen auch verdienen. Nahezu sofort scheint der Lavaboden verschwunden zu sein. Er hat einem typischen Waldboden Platz gemacht, der von jeder Menge trockener Blätter, kleiner Holz- und Rindenstückchen und Erde bedeckt ist. Und auch der für einen Wald charakteristische Schatten hat sich zu guter Letzt eingestellt. Nur daß es hier in irgendeiner Weise kühler ist, kann ich nicht feststellen. Vielleicht liegt es ja nur an der Anstrengung des bisherigen Aufstiegs, aber mir ist recht warm. Daß dies jedoch noch gar nichts ist im Vergleich mit dem, was noch folgen sollte, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich bin gerade damit beschäftigt, ein weiteres der grünen Hinweisschilder zu studieren, das sich dort befindet, wo unser Weg sich mit zwei anderen trifft. Es bestätigt mir, was ich angesichts des Blickes auf die Uhr meines Mobiltelefons bereits weiß, nämlich daß wir uns bei der Zeit, die wir für den Weg zum Gipfel benötigen würden, etwas verschätzt haben. Die Entfernungen sind hier nämlich nicht in Metern angegeben, sondern mittels Zeitangaben. Und für den eben von uns zurückgelegten Weg vom Rangitoto Wharf hierher gibt das Schild eben jene fünfundvierzig Minuten an, die wir in etwa auch benötigt haben. Der Weg hinauf zum Gipfel wird mit weiteren fünfzehn Minuten beziffert. Und weil wir angesichts der feststehenden Abfahrtszeit der Fähre, die uns später nach Auckland zurückbringen soll, keine einzige Minute zu verlieren haben, machen wir uns unverzüglich daran, den letzten Abschnitt unseres Aufstiegs in Angriff zu nehmen.

Als ich mittels meines Mobiltelefons auf die Karte der Insel schaue, erkenne ich schnell, daß der Weg hinauf zum Gipfel von hier aus gerade einmal wenig mehr als 400 Meter lang ist. Dafür fünfzehn Minuten zu veranschlagen, scheint mir doch ein wenig übervorsichtig zu sein. Wie langsam soll man denn da unterwegs sein?

Nun, ich erfahre es am eigenen Leib schon nach wenigen Metern. Gleich zu Beginn des Wegs hat man ihn mit Stufen versehen, die helfen sollen, die Steigung leichter zu überwinden. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch recht optimistisch bin, die paar Meter ohne Schwierigkeiten zurücklegen zu können, wundere ich mich etwas über diese Maßnahme, denn so stark scheint mir der Anstieg eigentlich nicht zu sein, daß es hier Stufen bedurft hätte, um ihn begehbar zu machen. Und wenn man es genau nimmt, sind es auch nicht wirklich Stufen, sondern lediglich schmale Trittleisten, die man in den Boden gesetzt hat, um zu verhindern, daß er einfach eine Schräge bildet, denn zwischen diesen Leisten befindet sich ganz normaler Waldboden wie überall sonst auch. Als wir diese Treppen hinter uns haben, wandern wir auf einem Waldweg weiter, der einen reichlichen Meter breit ist und sich wieder recht bequem gehen läßt. Doch was so harmlos aussieht, ist es nicht, denn es geht nun wirklich unablässig bergauf. Zwar ist der Anstieg nicht übermäßig steil, dafür aber von strikter Kontinuität, so daß man, um vom Bergauf-Gehen einmal Pause zu haben, stehenbleiben muß. Das allein wäre sicher gar kein Problem, nicht einmal für einen ungeübten Wanderer, denn lang ist der Weg, wie bereits gesagt, nicht. Auch geht er zunächst einfach geradeaus, bevor er eine weite Kurve nach rechts absolviert. Was ihn mich jedoch bereits nach kurzer Zeit als recht anstrengend empfinden läßt, sind zwei Dinge. Zum einen ist die Atmosphäre hier im Wald aus irgendeinem Grund ausgesprochen unangenehm. Hatte es auf dem Weg hierher zwar keinen Wind mehr, so doch aber immerhin ab und an ein ganz leises Lüftchen gegeben, war nun auf einmal damit gänzlich Schluß. Die Luft, so mein Eindruck, steht förmlich um mich herum. Auch scheint es in diesem Wald nach meinem Empfinden erneut irgendwie wärmer geworden zu sein als vorher. Vielleicht ist die Temperatur auch dieselbe geblieben und es kommt mir nur so vor, als sei sie noch einmal gestiegen, weil ich wie bei jedem Wald erwartet hatte, daß es unter den Bäumen kühler sein würde, was ganz offensichtlich nicht der Fall ist. Doch wie dem auch sei, der andere Grund für mein Unbehagen ist mein schon seit dem Morgen eingeschränktes Wohlbefinden. Bisher hatte ich keine sonderlichen zusätzlichen Beschwerden empfunden, doch nun, da die körperliche Anstrengung durch den Weg bergauf noch einmal zugenommen hatte, fühle ich mich auf einmal etwas angeschlagen.

Doch weil ich mich davon nicht aufhalten lassen will, reiße ich mich zusammen, setze stur einen Fuß vor den anderen und steige langsam, aber stetig den Weg hinan. Als ich schließlich eine weitere Wegkreuzung erreiche, wähne ich mich schon am Ziel, doch ein weiteres der mir nun schon hinlänglich bekannten grünen Schilder weist mich darauf hin, daß die Stelle, die ich für den Rand des Gipfels hielt und die ich nun erreicht habe, lediglich der Rundweg um den Krater des Rangitoto ist. Wolle ich tatsächlich hinauf zum Gipfel – und das steht außer Frage -, müsse ich noch einmal etwa einhundert Meter zurücklegen. Natürlich bergauf. Da ich befürchte, daß eine Rast zu diesem Zeitpunkt meine Motivation, den Weg fortzusetzen, doch arg dämpfen würde, halte ich mich gar nicht lange auf und gehe weiter. Allerdings, und das merke ich sofort, hat der folgende und letzte Wegabschnitt mit Gehen eigentlich nichts, absolut gar nichts zu tun. Denn nahezu sofort finde ich mich im wahrsten Sinne des Wortes auf einem Holzweg wieder. Nur daß dieser hier ausschließlich aus Stufen besteht.

Zu Beginn ist die Steigung noch moderat, und so liegen die einzelnen Stufen teils rund einen Meter auseinander. Ein Umstand, der den Anstieg nicht unbedingt einfacher macht, habe ich doch nun immer ein bis zwei Schritte zu gehen, bevor ich die nächste Stufe nehmen muß. Als nach knapp fünfzig Metern die Abstände zwischen ihnen kürzer und kürzer zu werden beginnen, ist mir klar, worauf das hinausläuft. Und richtig: der letzte Abschnitt des Weges besteht aus einer Treppe. Immerhin mit Geländer, zuerst einseitig, dann auf jeder Seite. Nun sind die Stufen auch nicht mehr in den Boden eingelassen, sondern darübergebaut worden. Als ich endlich oben ankomme, bin ich, wie man so sagt, völlig durch. Mein T-Shirt kann ich quasi auswringen. Nun, darauf verzichte ich zwar, doch ich wechsle es wenigstens aus, denn ich mag es nicht sonderlich, in feuchten Klamotten herumzulaufen. Als ich auf die Uhr schaue, stelle ich fest, daß ich tatsächlich rund fünfzehn Minuten hier hinauf unterwegs war. Ganz offensichtlich hat man hier das Vermögen der üblichen Besucher – und damit auch meines -, den Berg zu ersteigen, recht gut eingeschätzt. Irgendwie komme ich mir angesichts meiner etwas großspurigen Gedanken zu Beginn des Weges etwas dumm vor. Da tröstet es mich auch nicht sonderlich, daß es nicht vierhundert, sondern fünfhundert Meter waren, auf die sich die Zeitangabe bezog.

Doch diese Gedanken sind schnell vergessen, als ich mich, nachdem ich mich etwas erholt habe, erst einmal umschaue. Das erste, was mir dabei ins Auge fällt, ist die Tatsache, daß, obwohl ich die Treppe hinter mir habe, der Weg weiterhin aus Holz besteht. Er bildet eine Art Steg, zusammengesetzt aus aneinandergereihten Holzbohlen und zu beiden Seiten mit einem massiven Geländer versehen. Am oberen Rand der Treppe, die ich hinaufgekommen bin, führt auf diese Weise der Weg geradeaus weiter, während sich gleich rechts ein weiterer solcher Steg anschließt, der jedoch nach wenigen Metern als Sackgasse endet. Er dient lediglich zum Erreichen eines Aussichtspunktes, den ich mir natürlich nicht entgehen lasse. Am Ende des Steges angekommen, kann ich den Blick über ein atemberaubendes Panorama schweifen lassen. Im Norden schaue ich direkt über den Hauraki-Golf, der linkerhand von der Küste der Nordinsel Neuseelands begrenzt wird. Nordöstlich liegt die Nachbarinsel Motutapu Island, von Rangitoto Island nur durch einen schmalen Kanal getrennt, der in die zwischen den beiden Inseln liegende Islington Bay mündet. Diese kann ich von hier aus genau im Osten sehen. Nun weiß ich auch, wohin uns die Uferstraße geführt hätte, auf der wir zu Beginn unseres Besuches auf Rangitoto Island unterwegs waren, wenn wir ihr weiter gefolgt wären. Was mich fasziniert, ist, daß im Gegensatz zu unserer Insel, die von hier oben dicht bewaldet erscheint und in einem satten Grün leuchtet, Motutapu Island nahezu baumlos ist. Tatsächlich gibt es dort fast nur Gras und Feuchtwiesen. Als ältere der beiden Inseln war Motutapu Island bereits rund einhundert Jahre vor dem Ausbruch des Rangitoto von den Māori bewohnt gewesen. Ihre Siedlungen dort wurden jedoch durch die Eruptionen weitgehend zerstört. In der Zeit danach wurden sie wieder neu gegründet und die Māori lebten hier, bis im 19. Jahrhundert die europäischen Siedler kamen, den Stämmen erst Teile und schließlich die ganze Insel abkauften und Farmen anlegten. Im Zweiten Weltkrieg gehörte Motutapu Island dann zu den Küstenverteidigungsstellungen für den Waitematā Harbour und es wurden militärische Anlagen errichtet, darunter Geschützstellungen, Kasernen, unterirdische Munitionslager und Beobachtungsposten. Deren Versorgung erforderte den Bau von Straßen, und so stammt auch der Verbindungsdamm, der die Insel heute mit Rangitoto Island verbindet, aus jener Zeit. All diese Anlagen sind zu großen Teilen heute noch vorhanden, nur die darin einst positionierten Geschütze hat man inzwischen entfernt.

Auf dem Rangitoto
Von der Aussichtsplattform auf dem Gipfel des Rangitoto schaut man in nördlicher bis nordöstlicher Richtung auf dieses Panorama, wobei der Blick direkt über den im Vordergrund liegenden Krater des Rangitoto hinweggeht. Dahinter dehnt sich der Hauraki Gulf, in dem Rangitoto Island liegt. Der vergleichsweise kahle Landstrich im Nordosten ist die benachbarte Insel Motutapu Island.
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Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als ich über Motutapu Island und die dahinterliegende Wasserfläche des Hauraki-Golfs hinwegblicke, kann ich im Wolkendunst eine weitere Landmasse ausmachen, die sich durch eine markante Erhebung auszeichnet. Dies ist die Nordspitze der mehr als achtzig Kilometer langen und etwa vierzig Kilometer breiten Coromandel-Halbinsel, die in gewisser Weise ein kleines Stück Indien nach Neuseeland bringt, verdankt sie ihren Namen doch dem Handelsschiff HMS Coromandel, das im Jahre 1820 erstmals an der Westküste der Halbinsel ankerte und seinerseits nach der Koromandelküste in Indien benannt worden war.

Daß mein Blick beim Betrachten dieses Panoramas direkt über den Krater des Rangitoto hinweggeht, entzieht sich meiner Aufmerksamkeit zu diesem Zeitpunkt völlig. Wie ich jedoch später feststellen werde, hat das durchaus seinen Grund. Für den Augenblick habe ich jedoch angesichts der phänomenalen Aussicht von hier oben nicht nur vergessen, daß ich mich auf einem Vulkan befinde, sondern auch jeglichen Gedanken an den anstrengenden Aufstieg bereits vollständig verdrängt.

Zurück auf dem Hauptweg, gehen wir diesen entlang zur südwestlichen Seite des Gipfels. Obwohl – einen Gipfel im eigentlichen Sinne hat der Rangitoto eigentlich nicht, da er wie jeder anständige Vulkan an dessen Stelle ja einen Krater aufweist. Wir bewegen uns also tatsächlich auf dem Kraterrand, auch wenn wir das im Augenblick immer noch nicht so richtig wahrgenommen haben. Der Bohlenweg führt weiter geradeaus und integriert nun auf der linken Seite zwei lange Holzbänke in sein Geländer, das ihnen als Lehne dient. Eigentlich ist ja nach der Wanderung und dem Aufstieg eine kurze Pause für unsere Beine keine ganz schlechte Idee, und so setzen wir uns für einige Minuten, um einen Schluck zu trinken und für einen kurzen Moment die Beine baumeln zu lassen.

Fast sofort bekommen wir Besuch. Ein kleiner, ziemlich bunt gefiederter Vogel hüpft neugierig näher und beäugt uns, offenbar in der Erwartung, daß wir vielleicht etwas aus unseren Taschen holen, das wir ihm zukommen lassen wollen. Die Vielzahl der Farben in seinem Federkleid fasziniert mich. Sie reichen von diversen Grüntönen über Gelb und Braun bis Grau. Vielleicht ist auch ein bißchen Rot dabei, aber diesbezüglich bin ich mir keineswegs sicher. Der kleine Piepmatz ist etwa so groß wie einer unserer heimischen Sperlinge, vielleicht sogar etwas kleiner, und neben seinem bunten Federkleid ist ein weißer Ring um seine Augen sein charakteristischstes Merkmal. Von ihm hat er auch seinen Namen: Graumantel-Brillenvogel. Als er einsieht, daß er von uns nichts zu erwarten hat, hüpft er weiter. Es sitzen ja noch mehr Leute auf der langen Bank. Kaum ist er weg, kommt ein weiterer Vogel über die Bohlen zu uns heran. Er ist etwa so groß wie eine Amsel und sollte uns mit seinem vornehmlich brauen Gefieder, das an der Unterseite stark aufgehellt und gesprenkelt ist, eigentlich bekannt vorkommen, wenn wir denn gute Kenner unserer heimischen Vogelwelt wären, denn es handelt sich um eine Singdrossel. Das wäre unter natürlichen Umständen eigentlich völlig unmöglich, denn auch wenn Neuseeland evolutionsgeschichtlich ein regelrechtes Vogelparadies ist, gehörte die Singdrossel ursprünglich nicht zu den hier heimischen Tieren. Sie wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts gemeinsam mit anderen Arten von den europäischen Siedlern auf den Inseln eingeführt.

Auch die Drossel wendet schließlich ihre Aufmerksamkeit unseren Nachbarn auf der Bank zu, was uns nicht sonderlich stört, denn wir haben keine Zeit, lange hier herumzusitzen. Schließlich gibt es noch viel zu sehen. Und so sind wir gleich darauf wieder auf den Brettern unterwegs zum anderen Ende des Aussichtsareals. Auf dem Weg dorthin habe ich Gelegenheit, mir die nähere Umgebung anzuschauen. Wir befinden uns hier auf einem kleinen Plateau, dessen Mitte von einem einigermaßen ebenen, erdigen und gänzlich unbewachsenen Platz gebildet wird, über den unser Bohlenweg hinwegführt. Daß man sich angesichts des nicht gerade unwegsamen und durchaus begehbaren Geländes die Mühe gemacht hat, ein so ausgedehntes hölzernes Wegesystem zu errichten, erschließt sich mir nicht so recht. Ob man damit hat verhindern wollen, daß das natürliche Habitat von den zahlreichen Besuchern zertreten wird? Vielleicht. Zwar kann man den Weg dort, wo er an dem Erdplatz vorüberführt, verlassen, doch überall dort, wo die Vegetation des Berges an ihn herantritt, verhindern die Holzgeländer wirksam, daß Touristen wie wir in deren Areale eindringen können.

Als wir schließlich am südwestlichen Ende des Weges angekommen sind, bietet sich unseren Augen ein ähnlich beeindruckendes Panorama wie zuvor an der Nordostseite, nur daß wir hier über die Wasser des Hauraki-Golfs hinüber nach Auckland schauen. Mein Blick schweift, im Osten beginnend, über die am Golf gelegene Küste der Stadt, an der sich Vorort an Vorort reiht, bis ich den Bastion Point entdecke. Ich erkenne ihn allerdings nur anhand meines Wissens, wo er liegt, denn die Entfernung ist zu groß, um das Michael Joseph Savage Memorial mit bloßem Auge erkennen zu können. Etwas weiter westlich liegt die Einfahrt zum Waitematā Harbour, auf deren rechter Seite Devonport liegt. Deutlich kann ich den North Head und den Mount Victoria ausmachen. In gerade Linie hinter ersterem ist die markante Erhebung des Mount Eden zu sehen und etwas weiter rechts ragen die Hochhäuser der Innenstadt Aucklands in die Höhe, an die sich dann die Wasserfläche des Waitematā Harbour anschließt, über die die Auckland Harbour Bridge ihren Bogen spannt. Den Horizont dahinter bildet die Bergkette der Waitākere Ranges. Die sich darüber auftürmenden Wolkenberge lassen es stellenweise schwierig werden zu unterscheiden, wo die Berge aufhören und der Himmel beginnt. Weiter und weiter dehnt sich das Panorama schließlich in Richtung Westen, wo das einstige North Shore City von hier oben nahezu vollständig zu überblicken ist. Es wirkt geradezu düster angesichts der darüber dräuenden tiefgrauen Wolkenbank. Schwere Schleier auf die Stadt niederstürzenden Regens lassen die Sicht hier und da verschwimmen. Es ist ein faszinierendes Wetterschauspiel, daß sich da vor unseren Blicken entfaltet: im Osten eine in hellem Tageslicht erstrahlende Szenerie, durch Risse in der Wolkendecke teils von der Sonne beschienen, im Westen eine von düsteren Wolken verdunkelte Welt, auf die schwere Regenschauer niederprasseln, die vom Wind über das Land getrieben werden. Und noch etwas weiter, nun schon in Richtung Nordwesten, kann ich die Küste der Nordinsel Neuseelands weiter entlangschauen bis etwa zu dem Punkt, an dem ich vorher, am anderen Ende des Aussichtsareals, meinen Rundblick begonnen hatte.

Auf dem Rangitoto
Die Innenstadt Aucklands mit dem markanten Sky Tower und den sich dahinter auftürmenden Bergen der Waitākere Ranges, verdunkelt von düsteren Regenwolken. Ein faszinierender Anblick!
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Rechts neben der Aussichtsplattform führt eine ebensolche Treppe, wie wir sie zuvor hinaufgestiegen waren, wieder hinab. Allerdings ist sie ganz erheblich kürzer, denn sie besitzt gerade einmal elf Stufen. An deren Ende entläßt sie uns ohne viele Umschweife auf einen schmalen Pfad, der mitten hinein in die Wildnis führt und sich nach wenigen Metern inmitten der Vegetation zu verlieren scheint. Nun, da meine Aufmerksamkeit nicht mehr von atemberaubenden Panorama-Ansichten in Anspruch genommen wird, erinnere ich mich auch wieder, was auf der Hinweistafel zu Beginn meines langen Aufstiegs über die Treppe hinauf zur Aussichtsplattform gestanden hatte. Zwei Ziele waren dort verzeichnet gewesen: der über den Crater Rim Track erreichbare Rangitoto Summit Viewpoint und der über den Crater Rim Track erreichbare Rangitoto Summit Viewpoint. Was zunächst wie ein schlechter Scherz anmutet, wird klar, wenn man die beigegebenen Entfernungen liest: einhundert Meter und siebenhundertfünfzig Meter. Ganz offensichtlich und naheliegenderweise ist der Crater Rim Track – der Kraterrandweg – ein Rundweg. Ein Kraterrandrundweg. Und weil der Rangitoto Summit Viewpoint – der Aussichtspunkt auf dem Rangitoto-Gipfel – an eben diesem Kraterrandweg liegt, kann er in beiden Laufrichtungen erreicht werden, nur in unterschiedlicher Entfernung.

Für uns steht völlig außer Frage, daß wir nicht denselben Weg wieder zurückgehen, sondern die Route wählen, die uns die siebenhundertfünfzig Meter um den Krater herumführt. Denn schließlich wollen wir den ja auch noch zu sehen bekommen, wenn das irgendwie möglich ist. Und so folgen wir dem kleinen Pfad frohen Mutes geradewegs in die Botanik hinein.

Auf dem Crater Rim Track
Ein gemütlicher Wanderweg – das ist der Crater Rim Track, der uns um den Rangitoto-Krater führt, welcher rechterhand allerdings weitestgehend unsichtbar bleibt. Dafür bieten sich auf der gegenüberliegenden Wegseite immer wieder atemberaubend schöne Ausblicke.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Es dauert nicht allzu lang, da ist aus dem schmalen Pfad ein ganz passabel breiter Weg geworden, der sich gemütlich gehen läßt. Mal geht es ein Stück bergauf, dann wieder etwas bergab, doch im wesentlichen bewegen wir uns stets auf gleicher Höhe. Die ersten hundert Meter des Weges wandern wir dabei durch einen niedrigen Wald. Links und rechts sind nur Bäume und Gebüsch zu sehen. Doch als unser Pfad schließlich eine leichte Kurve nach rechts beschreibt – wir wandern im Uhrzeigersinn um den Krater – ändert sich die Landschaft. Das Gelände links neben uns fällt jetzt meist nach einem, spätestens nach zwei Metern ab und geht in den Hang des Berges über, zu dessen Füßen sich die fast kreisrunde Insel ausdehnt. Lücken im Bewuchs bescheren uns nun immer wieder schöne Ausblicke auf die vor der Insel liegende Wasserfläche des Hauraki-Golfs, auf benachbarte Inseln oder aber die Landmasse der Nordinsel Neuseelands – je nachdem, wo auf dem Weg um den Krater wir uns gerade befinden. Rechts ist hingegen meist nicht sehr viel zu sehen außer dichter Vegetation. Bäume und Büsche bilden ein meist undurchdringliches Dickicht, das keinen Blick hindurch erlaubt. Und so bleibt auch der Vulkankrater während unseres Weges um ihn herum ein verborgenes Mysterium. Zwar empfinde ich das als ein wenig enttäuschend, doch angesichts der wechselnden Aussichten gegenüber habe ich das schnell vergessen.

Auf dem Rangitoto Summit Track
Ausblicke wie dieser bieten sich immer wieder auf dem Crater Rim Track rund um den Krater des Rangitoto. Hier geht der Blick in südsüdwestlicher Richtung hinüber zur Innenstadt Aucklands mit dem markanten Sky Tower, hinter dem sich die Bergkette der Waitākere Ranges erhebt. Davor ist, von der Innenstadt durch den Waitematā Harbour getrennt, der Ausläufer der North-Shore-Halbinsel zu sehen, auf dem sich rund um den Mount Victoria Devonport erstreckt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Und noch etwas anderes fesselt immer wieder einmal meine Aufmerksamkeit. Zu beiden Seiten unseres Weges stehen nicht einfach nur Bäume und Büsche, hier sind wir inmitten einer Landschaft unterwegs, deren Vegetation mir als Europäer durchaus fremdartig erscheint. Die meisten der Pflanzen, die hier wachsen und, wie es scheint, prächtig gedeihen, sind mir überhaupt nicht bekannt. Koromiko und Karamu sind nur zwei dieser vielfältigen Pflanzenarten, denen ich hier begegne. Ihre – wenn auch recht unsichere – Identifikation gelingt mir allerdings nicht hier vor Ort, sondern erst später anhand meiner Fotoaufnahmen. Während mir im Falle der Koromiko-Pflanze ihre charakteristischen Blüten dabei helfen, sind es beim Karamu-Strauch seine dicht mit Beeren besetzten Zweige. Zwar sehen sie recht appetitlich aus, doch verzichte ich lieber darauf, sie zu pflücken, um sie zu probieren. So ganz ohne jegliche Ahnung von ihrer Eßbarkeit und Wirkung wäre das wohl irgendetwas zwischen tollkühn und lebensmüde. Und selbst wenn ich bereits gewußt hätte, daß die Früchte des Karamu gegessen werden können und daß man seine Triebe manchmal sogar für medizinische Zwecke verwendet, wäre immer noch die Frage gewesen, ob ich mir tatsächlich sicher bin, es auch wirklich mit einem Karamu-Strauch zu tun zu haben…

So beschränke ich mich lieber darauf, die schönen Blüten, die fremdartigen Blätter und die farbenfrohen Früchte zu bewundern und immer wieder die Aussicht zu genießen, die sich uns bietet, während wir unseren Weg rund um den unsichtbaren Krater fortsetzen. Als wir schließlich auf der Nordostseite des Berges angekommen sind, entfernt sich der Berghang links wieder von unserem Pfad und der Wald kehrt zurück. Zu beiden Seiten ist es nun wieder mit jeglicher Aussicht vorbei.

Erneut sind es etwa einhundert Meter, die wir unter den Bäumen zurücklegen, bis wir schließlich eine Wegkreuzung erreichen. Von links streben zwei Wege aus verschiedenen Richtungen den Berghang hinauf und treffen an dieser Stelle auf unseren Wanderpfad, der weiter geradeaus führt. Als ich in diese Richtung blicke, stelle ich überrascht fest, daß das Gelände dort recht stark ansteigt und darin eingelassene hölzerne Stufen unseren Weg hinaufführen. Sie sehen genauso aus wie die, die ich zuvor hinaufgestiegen war, um zum Gipfel zu gelangen. Für einen kurzen Moment überwältigt mich ein starkes Gefühl der Unlust. Soll ich wirklich noch einmal einen solchen Aufstieg bewältigen? Wozu? Ich war doch schon oben gewesen.

Doch die Abneigung ist ebenso schnell verschwunden, wie sie gekommen ist, und macht einem Gefühl großer Erleichterung Platz, als mir klar wird, daß ich den voraus sich abzeichnenden Aufstieg nicht noch einmal würde hinter mich bringen müssen. Mein Blick fällt nämlich auf eine grüne Tafel, die mir erklärt, daß ich dasselbe Ziel in zwei entgegengesetzten Richtungen erreichen kann. Na, diesen Scherz kenne ich bereits! Hier hatte ich heute schon einmal gestanden. Nur war ich zu jenem Zeitpunkt so mit den Anstrengungen des Aufstiegs beschäftigt gewesen, daß ich mich gar nicht so genau umgesehen hatte, was wohl auch der Grund dafür ist, daß ich die Wegkreuzung nicht sofort wiedererkannt hatte. So war mir auch völlig entgangen, daß es an ihr noch einen fünften Abzweig gibt. Dieser zweigt von unserem Rundweg auf dessen rechter Seite ab und führt unmittelbar auf einen ebensolchen Holzbohlensteg mit Geländern zu beiden Seiten, wie wir ihn schon von dem Aussichtsareal auf dem Gipfel des Berges kannten. Dieser hier ist allerdings nur gut zehn Meter lang und endet in einer kleinen, von dem Holzgeländer umschlossenen Plattform. Neugierig treten wir näher…

…und haben ihn nicht nur endlich vor uns, sondern blicken direkt in ihn hinein – den Krater des Rangitoto. Tatsächlich ist er auf den ersten Blick als solcher zu erkennen, denn ich schaue in einen deutlich ausgeprägten Kessel hinein. Dessen Rand überragt an nahezu allen Seiten unsere aktuelle Position, obwohl auch wir uns auf ihm befinden. Doch genau hier, an der Südostseite des Kraters, senkt er sich deutlich ab, so daß er direkt vom Rundweg aus zugänglich ist. Ob diese Eigenart bereits im Zuge des einstigen Ausbruchs entstand oder die Folge eines späteren Einsturzes ist, kann ich nicht sagen. Tatsächlich ist es mir in diesem Augenblick aber auch relativ gleichgültig, wird doch meine Aufmerksamkeit gerade von etwas anderem vollkommen in Bann gezogen. Nach all den Lavafeldern, an denen wir auf unserem Weg hierher vorübergekommen waren, hatte ich irgendwie erwartet, in diesem Krater eine Einöde aus Lavagestein anzutreffen. Doch das Erscheinungsbild des Kessels, der sich hier vor meinen Augen ausbreitet, könnte nicht weiter von dieser Vorstellung entfernt sein.

Der Krater des Rangitoto
Der grüne Krater des Rangitoto. Wer würde in diesem Paradies wohl den Schlund der Hölle vermuten?
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Der Krater ist vollständig von der üppigen Flora der Insel vereinnahmt worden und bietet mit seiner Vielfalt an unterschiedlichen Grüntönen einen faszinierenden Anblick. Diese sind ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Vegetation, über die meine Blicke hinwegschweifen, aus den unterschiedlichsten Pflanzenarten besteht. Den auch als Neuseeländischen Weihnachtsbaum bezeichneten Pōhutukawa kenne ich bereits. Einer am Beginn des Bohlenweges zur Plattform aufgestellten Informationstafel kann ich entnehmen, daß die Bäume mit den schlanken, hohen Baumkronen als Rewarewa bezeichnet werden – Silberbaumgewächse der Art Knightia excelsa, die im Englischen auch als New Zealand Honeysuckle bezeichnet werden – Neuseeland-Geißblatt. Dieser Name wird heute allerdings kaum mehr gebraucht – vielleicht auch, weil die Pflanze mit dem herkömmlichen Geißblatt botanisch gesehen eher wenig zu tun hat. Die Tafel verrät mir desweiteren, daß die niedrigen, gestrüppartigen Pflanzen, die den Boden des Kraters zur Gänze bedecken, von den Māori Mānuka und Kānuka genannt werden. Mānuka bezeichnet die Südsee- oder auch Neuseelandmyrte, aus deren Blütennektar Bienen den weithin bekannten und recht teuren Mānuka-Honig herstellen. Kānuka klingt nicht nur rein zufällig sehr ähnlich, sondern ist ebenfalls ein Myrtengewächs, das auch als Kleinblättriger Mānuka oder Weißteebaum bekannt ist.

Der Krater des Rangitoto
Nein, ein Loch gibt es am Grunde des Kraters nicht. Auch hier ist nichts als üppig grünende Vegetation zu sehen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Es ist faszinierend, in diesen grünen, so reichhaltig schattierten Kessel hineinzublicken. Daß er einst, eingehüllt in dichte Rauch- und Aschewolken, infernalische Feuerströme in den sich darüber wölbenden Himmel gespien haben soll, erscheint mir dabei nur schwer vorstellbar. Immerhin ist nun allerdings verständlich, warum mir der Krater zuvor so vollständig entgangen war, als ich meine Blicke über die Insel und das sie umgebende Panorama des Hauraki-Golfs schweifen ließ…

Immerhin, so könnte man meinen, wäre das Feuer der Lavaströme eine gute Erklärung für den Namen des Vulkans, bedeutet Rangitoto in der Sprache der Māori doch „Blutiger Himmel“. Doch das wäre ein Irrtum. Denn Rangitoto ist in gewisser Weise eine Abkürzung. Der vollständige Māori-Name für den Berg lautet „Ngā Rangi-i-totongia-a Tama-te-kapua“. Und das bedeutet soviel wie „Die Tage des Blutens von Tama-te-kapua“. Tama-te-kapua war einst der Führer des Kanus Arawa waka. Er und seine Mannen, heißt es, lieferten sich in der Islington Bay eine Schlacht mit dem Stamm der Tainui Iwi, die in mehrfacher Hinsicht nicht gut für sie ausging. Nicht nur verloren sie diese und mußten im Anschluß die Insel verlassen, nein, Tama-te-kapua wurde überdies schwer verwundet. Sein verlorenes Blut verewigten die Māori im Namen der Insel, die der Schauplatz der Geschehnisse war.

Für uns ist nun, so scheint es, auf dem Rangitoto alles getan. Wir haben die Aussicht genossen, den Gipfel umrundet und zu guter Letzt auch noch den Krater gefunden und besichtigt. Guten Gewissens können wir also wieder vom Berg heruntersteigen und den Rückweg antreten. Unser Plan ist erfüllt. Der Blick auf die Uhr verrät uns allerdings, daß wir noch einiges an Zeit übrig haben. Eine Stunde hatten wir gebraucht, um vom Fähranleger auf den Gipfel des Berges zu kommen. Aussicht, Gipfelrundweg und Kraterbesichtigung hatten uns alles in allem eine gute Dreiviertelstunde gekostet. Rechnen wir nun eine weitere Stunde für den Rückweg hinzu – daß wir würden denselben Weg zurückgehen müssen, den wir gekommen waren, steht außer Frage, denn es gibt nur den einen – haben wir Pi mal Daumen noch eine gute Dreiviertelstunde übrig. Sogar etwas mehr, wenn wir annehmen, daß wir den Rückweg etwas schneller schaffen würden, da wir ihn bereits kennen und nicht mehr alle Nase lang stehenbleiben würden, um uns neugierig, wie wir nun mal sind, umzuschauen.

Was also tun mit der übrigen Zeit? Zunächst wissen wir auf diese Frage keine rechte Antwort. Doch es dauert nur wenige Minuten, da stellt sich uns die rettende Idee förmlich in den Weg. Wir haben den größten Teil des Abstiegs gerade hinter uns gebracht – wofür wir deutlich weniger Zeit benötigen als die fünfzehn Minuten bergauf – und stehen wieder an der Weggabelung, an der wir den steilsten Teil des Aufstiegs zuvor begonnen hatten, freundlich dirigiert und vorgewarnt durch das hier aufgestellte grüne Hinweisschild. Und wieder erweist es sich als bereitwilliger Helfer, indem es uns auf einen weiteren Ort verweist, der gar nicht weit von hier entfernt ist: Lava Caves. Lava-Höhlen. Na, wenn das nicht interessant klingt. Und wie weit ist das weg? Nur fünfzehn Minuten? Nichts wie los!

Nun, da ich bereits zweimal die Erfahrung gemacht habe, daß die Zeitangaben dieser Wegweiser überraschend genau passen, sehe ich keinen Grund, sie ausgerechnet jetzt anzuzweifeln. Wir wandern wohlgemut drauflos auf einem Weg, der uns, sich mal nach links, mal nach rechts wendend, tiefer in den Wald hineinführt, der sich am Fuß des Berges und diesen hinauf erstreckt. Zunächst sind wir auf einem bequemen Pfad unterwegs, der ohne nennenswerte Steigungen den Berghang entlangführt. Wie in unseren heimischen Wäldern sind auch hier Farne zu Hause. Während die unseren jedoch Bodenpflanzen sind, die kaum einmal die Höhe von einem Meter erreichen, haben wir es hier mit Baumfarnen zu tun, die mit ihren kräftigen Stämmen beachtliche fünf, sechs Meter und mehr aufragen.

Weg zu den Lava-Höhlen des Rangitoto
Auf dem Weg zu den Lava Caves bekommen wir schon einen kleinen Vorgeschmack, was uns erwartet. Der Weg wird steinig.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Nach etwa fünf Minuten erreichen wir einen Abzweig, den wir jedoch ignorieren, da er laut dem hier aufgestellten grünen Wegweiser wieder zum Gipfel des Berges führt. Und dort waren wir ja schon. Unser Pfad wendet sich nun nach rechts und verläßt den unmittelbaren Berghang. Beinahe sofort ändert sich der Charakter des Weges vollständig. Hatten wir bisher lediglich darauf achten müssen, nicht über eine der zahlreichen Baumwurzeln zu stolpern, die immer wieder aus dem Waldboden emporragten, säumen plötzlich massive Felsen unseren Pfad, der, dazu passend, mit einem Mal recht steinig geworden ist. Während bereits nach kurzer Zeit die Felsen links und rechts wieder hinter uns zurückbleiben, behält der Weg seinen steinigen Charakter jedoch bei. Auch gewinnt er mit jedem Meter, den wir auf ihm voranschreiten, kontinuierlich an Höhe. Offenbar sind wir auf einem südlichen Ausläufer des Rangitoto unterwegs. Als wir schließlich einen Punkt erreichen, an dem sich rechterhand die Bäume etwas zurückziehen, stellen wir fest, daß wir uns wieder ein gutes Stück oberhalb des dem Berg vorgelagerten Insellandes befinden, das wir nun gut überblicken können. Die Aussicht reicht dabei bis zur Einfahrt des Waitematā Harbours und die dahinterliegende Innenstadt Aucklands.

Als wir weitergehen, schließt sich die Lücke im Baumbestand wieder, und wir wandern weiter durch den Wald, der nun allerdings längst nicht mehr so dicht und hoch ist wie noch eben. Offenbar sind wir auf dem Scheitel des Höhenzuges angekommen, denn die Steigung hat aufgehört. Dafür leitet uns der Pfad immer wieder über felsiges Gelände, dessen vulkanischer Ursprung unverkennbar ist. Nach einigen Metern, die wir auf diese Weise zurückgelegt haben, entdecken wir plötzlich einen kleinen hölzernen Pfahl von vielleicht einem halben Meter Höhe und mit quadratischer Grundfläche, der vor uns aus dem Boden ragt. Sein oberes Ende läuft in einer kleinen Pyramide aus, deren kräftiges Gelb seine Signalwirkung auf uns nicht verfehlt. Als wir neugierig näherkommen, entdecken wir an der uns zugewandten Seite des Pfahls einen in diesen eingelassenen und ebenfalls in kräftigem Gelb gehaltenen Pfeil, der uns unmißverständlich bedeutet, den geradeaus führenden Weg zu verlassen und nach links einem schmaleren und sich nach wenigen Metern in die Büsche schlagenden Pfad zu folgen. Warum wir das tun sollen, verrät er uns allerdings nicht.

Wir überlegen kurz, was wir tun sollen, und entscheiden uns dann dafür, der Aufforderung Folge zu leisten. Es geht einige Meter durch Gebüsch und über Felsen. Wir passieren ein Gesteinsfeld, das wie ein kleiner Hügel aussieht, nur daß an seinem höchsten Punkt ein großes Loch klafft, von dem ausgehend tiefe Risse den umliegenden schwarzen Stein durchziehen. Es wirkt ein wenig so, als habe sich etwas aus dem Inneren der Erde nach oben gekämpft und sei hier an die Oberfläche durchgebrochen. Wir gehen vorsichtig an der Öffnung vorbei und setzen unseren Weg, einem weiteren gelben Pfeil auf einem Pfahl mit gelber pyramidaler Spitze folgend, fort. Nach wenigen Minuten sind wir schließlich am Ziel. Vor uns sieht es aus, als sei der Boden plötzlich der Länge nach durchgebrochen und der Teil, auf dem wir uns befinden, ein gutes Stück abgesackt. Zurückgeblieben ist eine schwarze, arg unregelmäßig geformte Felswand von vielleicht vier oder fünf Metern Höhe.

Was hier wie ein Abbruch aussieht, ist in Wahrheit der Eingang zu einer der Lava-Höhlen, die es hier am Rangitoto gibt. Dabei ist die Bezeichnung „Höhle“ eigentlich gar nicht korrekt. Es handelt sich vielmehr eher um Röhren, die entstanden, als geschmolzene und nur geringfügig zähflüssige Lava durch den Kontakt mit dem Boden und der Luft an ihrer Außenseite abkühlte. Dadurch bildete sich eine harte Kruste, innerhalb derer die noch flüssige geschmolzene Lava weiterfließen konnte. Als der Lavastrom schließlich versiegte, blieben die Röhren zurück. Derzeit sind sieben solche Röhren auf der Insel bekannt, von denen die größte ein Länge von etwa fünfzig Metern besitzt.

Die Lava-Höhlen des Rangitoto
Schwarz und düster sieht er aus, der Felsen am Eingang zur Lava-Höhle. Doch selbst davor schreckt die Lebenskraft der Natur nicht zurück.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Natürlich hat die unverwüstliche Natur auch das harte Lavagestein erobert. Direkt vor der Felswand, die einen guten Schutz vor jeglichem Wind bieten dürfte, haben Bäume ihr Domizil bezogen. Doch auch an ihrem oberen Rand, dort, wo sich darüber der Berghang fortsetzt, stehen Bäume, deren Wurzeln die Felswand hinuntergewachsen sind und sich ihren Weg ins Erdreich zu deren Füßen gebahnt haben. Sie wirken nun ihrerseits wie gewundene Baumstämme. Ebenfalls von dort oben lassen Pflanzen, die wie übergroße Gräser aussehen, ihre langen Blätter herabhängen. Moose und Flechten bedecken das Gestein, und an jedem noch so kleinen Felsabsatz haben es sich kleine Pflänzchen gemütlich gemacht und sorgen für reichlich grüne Farbtupfer an der schwarzen, narbigen Wand. Obwohl, so schwarz, wie sie auf den ersten Blick wirkt, ist sie gar nicht. Als ich nähertrete, bemerke ich, daß das Gestein Färbungen in Gelb, Orange, ja sogar Violett aufweist. Eisen und Schwefel, die im Zuge des Vulkanausbruchs freigesetzt wurden, haben hier wohl ihren Niederschlag gefunden.

An ihrem rechten Ende, dort, wo die Felswand an Höhe verliert, schließlich aufhört und in den Waldboden übergeht, gähnt ein Loch. Zwei dicke Baumwurzeln säumen es links und rechts, rahmen es förmlich ein und wirken ein wenig wie Wächter am Eingang zur Unterwelt. Der Boden senkt sich etwas ab, so daß es von außen so aussieht, als führe hier ein Weg schräg in die Erde hinein. Neugierig schaue ich in die Öffnung.

Zunächst ist nichts zu erkennen außer undurchdringlicher Schwärze. Ich warte einen Moment, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, doch auch dann ist von hier draußen kaum etwas zu sehen. Immerhin gewahre ich irgendwo weiter hinten einen schwachen Lichtschein. Ob das der jenseitige Ausgang ist? Nun, von hier aus ist das kaum festzustellen…

„Sollte Dir was unklar sein, hole Dir Gewissheit ein!“

Kennen Sie die Abrafaxe? Was für ein Gedankensprung, nicht wahr? Aber so weit ist er gar nicht. Lassen Sie es mich kurz erklären. Die Abrafaxe sind drei kleine Kobolde aus einer fortlaufenden Bildgeschichte namens Mosaik, die im Jahre 1976 begann. Heute würde man das wohl Comic nennen, aber damals, in den Siebzigern und noch dazu in der DDR haben wir unsere Sprache noch nicht mit englischen Begriffen vollgestopft und verhunzt, wie das heute nahezu allgegenwärtig der Fall ist. Wie dem auch sei, diese Abrafaxe, die als Nachfolger der Digedags – ebenfalls drei kleine Kobolde – eingeführt wurden, um das 1955 von Hannes Hegen ins Leben gerufene Mosaik fortzusetzen, nachdem dieser sich zurückgezogen hatte, reisten auf der Erde durch die Welt und die Weltgeschichte, erlebten Abenteuer, trafen bedeutende Persönlichkeiten und wohnten historischen Ereignissen bei. Diese Bildgeschichten habe ich stets mit großer Freude gelesen, jedes neue der monatlich erscheinenden Hefte mit Spannung erwartet und regelrecht verschlungen, wurde darin doch mit außerordentlich phantasievollen und unterhaltsamen Geschichten den meist kindlichen und jugendlichen Lesern, wie ich einer war, nicht nur die Historie der Menschheit nahegebracht, sondern sie lernten auch andere Kulturen und Lebensweisen kennen – ohne Dogma, ohne vorgefaßte Meinung oder gar Propaganda, dafür mit sehr viel Neugier und Spaß. Und das ist bis zum heutigen Tage so geblieben, denn das Mosaik mit den Abrafaxen gibt es immer noch. Warum erzähle ich das alles? Nun, gleich in der ersten Ausgabe des neuen Mosaiks, dem Januarheft des Jahres 1976, entdeckt der berühmte Spaßmacher Harlekin unter den Fundamenten eines venezianischen Kastells eine merkwürdige, offenbar künstlich angelegte Grotte, die er, sich an den eingangs zitierten Rat seines Mütterleins erinnernd, neugierig betritt.

An eben diesen Rat – ein überaus guter, wie ich finde – muß ich nun denken, als ich hier vor dem Eingang in die Lava-Röhre stehe und versuche, zwischen den beiden den Eingang flankierenden Wächterwurzeln hindurch hineinzuspähen. Die Situation erscheint mir nicht ganz unähnlich.

Also, auf geht’s! Vorsichtigen Schrittes und nacheinander zwängen wir uns in leicht gebückter Haltung durch den etwas weniger als mannshohen Eingang, hinein in die zunächst stockdunkle Felsenröhre. Kaum habe ich die Öffnung hinter mir gelassen, umfängt mich absolute Schwärze. Unwillkürlich bleibe ich stehen. Nicht nur, daß ich meinen Reisebegleiter, der mir einige Meter vorausgeht, schlagartig nicht mehr sehen kann, es ist mir auch unmöglich, sonst irgendetwas um mich herum optisch wahrzunehmen. Insbesondere kann ich so auch nicht erkennen, was vor mir liegt und wo ich eigentlich hintrete.

‚Verflixt‘, geht es mir durch den Kopf, ‚was gäbe ich jetzt für eine Taschenlampe?!‘

Die Lava-Höhlen des Rangitoto
Der Eingang zur Unterwelt…
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Nun, eine solche habe ich gerade nicht bei mir. Schließlich habe ich nicht mit einem Höhlenbesuch gerechnet, als wir an diesem Morgen zu unserem kleinen Ausflug aufgebrochen waren. Glücklicherweise neige ich jedoch nicht zu Nachtblindheit, und so dauert es nur wenige Minuten, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Denn tatsächlich ist es hier drin keineswegs so stockfinster, wie es mir anfangs erschienen war. Vom hinter mir liegenden Eingang fällt genug Licht in den dunklen Tunnel, um wenigstens erkennen zu können, wie hoch dieser ist und welche Beschaffenheit der Boden hat. Und auch von irgendwo voraus ist immer noch der Lichtschein zu erkennen, der mir bereits aufgefallen war, als ich von draußen hier hineingespäht hatte. Er dient mir von nun an als Ziel, auf das ich geradewegs zusteuere. Ab und zu scheint er allerdings für einen Augenblick zu verschwinden, nur um kurz darauf wieder zu erscheinen. Ich überlege einen Moment, warum das so ist, bis mir klar wird, daß ich wohl noch ein gutes Stück von diesem Schein entfernt bin und daß er so immer wieder einmal von meinem vorausgehenden Begleiter verdeckt wird.

Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Ganz allein auf meine Augen will ich mich in dieser Dunkelheit dann doch lieber nicht verlassen, und so taste ich vor jedem Schritt mit der Fußspitze den Boden ab. Und das ist auch gut so, denn hier liegt genug Geröll herum, daß es durchaus angeraten ist, nicht einfach bedenkenlos aufzutreten, will man nicht durch einen beiseiterollenden Stein den sicheren Tritt und damit den Halt verlieren. Glücklicherweise ist der Gang bereits nach wenigen Schritten hoch genug, um ohne Probleme aufrecht gehen zu können. So bleibt es uns erspart, den ganzen Weg in gebückter Haltung zurücklegen zu müssen. Wie überaus anstrengend das bereits nach wenigen Metern werden kann, habe ich einmal in einem Bergwerk am eigenen Leib erfahren dürfen, als ich mich dazu überreden ließ, einen alten, engen und nur etwas mehr als 120 Zentimeter hohen Stollen zu passieren, der von Bergleuten in früherer Zeit in mühevoller Handarbeit mit der Spitzhacke in den Fels getrieben worden war. Bereits nach der Hälfte des vielleicht fünfzig Meter langen Ganges tat mir der Rücken derart weh, daß ich unwillkürlich dem Reflex nachgab, mich aufzurichten, was natürlich aufgrund der geringen Höhe des Stollens mit einem lauten „Plonk!“ endete, als der Helm auf meinem Kopf unsanft mit dem Fels über mir zusammenstieß. Der Anflug von Panik, der sich im ersten Moment in meinem Inneren breit machte, war kein sonderlich angenehmes Gefühl. Da jedoch der Gang gerade einmal breit genug für eine Person war und sich sowohl hinter als auch vor mir andere Teilnehmer der Besuchergruppe, mit der ich unterwegs war, befanden, hatte ich keine andere Wahl gehabt, als die Zähne zusammenzubeißen und den Weg irgendwie bis zum Ende zu gehen.

Derartiges war hier nun also nicht erforderlich. Tatsächlich fühlte ich mich nach einigen Minuten recht wohl und sicher in dieser Lava-Röhre, von deren Beschaffenheit ich allerdings bei dem zur Verfügung stehenden spärlichen Licht nur wenig erkennen konnte. Hier wäre eine Taschenlampe doch ganz nützlich gewesen. Doch bringt es wenig bis nichts, sich über Dinge zu ärgern, die man sowieso nicht ändern kann, und so halte ich mich auch gar nicht lange damit auf, der abwesenden künstlichen Lichtquelle nachzutrauern, und konzentriere mich lieber darauf, meinen Weg durch den Tunnel vorsichtig fortzusetzen und dem Lichtschein voraus langsam entgegen­zugehen.

Meter um Meter lege ich zurück, auf unebenem Boden, auf dem immer wieder lose Steine liegen, die raue, rissige Felswand zu beiden Seiten und über mir die felsige Decke der Lavaröhre. Ich stelle mir vor, wie sie einst mit rotglühendem zähflüssigen Gestein angefüllt war, das hier hindurchströmte und seinen Weg in Richtung Meer suchte. Näher und näher komme ich dabei dem Lichtschein, der mir erwartungsvoll entgegenzuleuchten scheint. Doch so, wie ich zuvor von draußen nichts im Inneren der Röhre erkennen konnte, ist es mir nun unmöglich, zu sehen, was dort, hinter dem Ausgang, auf mich wartet. Ich erblicke einfach nur ein leuchtend helles Licht, das sämtliche Details dahinter überstrahlt. Noch ein paar Schritte, dann noch einer und noch einer – und ich bin aus der Röhre hinaus. Doch nur, um festzustellen, daß ich mich in einem tiefen Graben wiederfinde. Links und rechts ragen die gleichen schwarzen Felswände auf, die mich die ganze Zeit im Tunnel begleitet haben. Über mir kann ich grüne Baumkronen und den wolkenverhangenen Himmel sehen, doch ist es unmöglich, dort hinaufzugelangen, wenn ich nach dem Gang durch die Röhre nicht auch noch eine Kletterpartie einlegen will. Ganz offensichtlich ist irgendwann einmal an dieser Stelle die Decke der Lavaröhre eingestürzt und hat so eine Öffnung nach oben geschaffen, durch die nun nicht nur das Licht hier hinuntergelangt, sondern auch die Witterung. Die Wände neben mir sind von grünem Moos bedeckt, dicke Baumwurzeln winden sich an ihnen herab und verschwinden im Boden des Ganges, von oben hängen Wurzelfäden und lange Blätter irgendwelcher Pflanzen herab. Und einige Meter voraus gähnt mich der nächste schwarze Schlund an, der mich wieder in die Unterwelt der Lavaröhre zurückführen will. Doch eine andere Möglichkeit, hier herauszukommen, gibt es nicht, wenn ich einmal davon absehe, den Weg wieder zurückzugehen, den ich hierher gekommen bin. Da jedoch auch das bedeutet, in die Dunkelheit zurückzukehren, kann ich ebenso gut vorwärtsschreiten.

Es ist schon eine faszinierende Welt, durch die mich mein Weg hier führt. Urwüchsig, rauh und gleichzeitig schön, unberührt, einzig und allein von den Kräften der ewigen Natur geschaffen und geformt, vom Leben, wo immer es auch nur den kleinsten Halt findet, Stück für Stück erobert – hier ist der Mensch überflüssig. Hier braucht ihn niemand. Ein Ort, um Demut zu lernen.

Im Weitergehen umfängt mich nach der Rückkehr in die Röhre erneut Dunkelheit, an die sich meine Augen nach der kurzen Episode Helligkeit dennoch erst wieder gewöhnen müssen, so daß ich wie zuvor einige Minuten still verharre. Wieder nehme ich ein ganzes Stück voraus einen Lichtschein wahr, wieder folge ich langsamen und vorsichtigen Schrittes dem dunklen Gang, der mich auf ihn zuführt. Als ich ihn schließlich erreiche, erwarte ich fast, erneut nur in einem Graben zu landen, sobald ich hinaus ins Licht trete. Diesmal jedoch ist es tatsächlich der Ausgang. Ich steige über die dicke Wurzel eines Baumes, die quer vor der Öffnung aus dem Boden ragt und schaue zurück. An diesem Ende der Lavaröhre ist deutlich zu erkennen, daß es sich bei dem, was wir da gerade durchschritten haben, tatsächlich nicht um eine Höhle im eigentlichen Sinne handelt. Während der Eingang einer solchen stets in eine massive Gesteinsformation hineinführt, sieht es hier unzweideutig so aus, als befände sich die Röhre nicht unter der Erde, sondern als seien die Felsen, die ihre Wände bilden und sie überwölben, von irgendwem auf den Boden gestellt worden. Und in gewisser Weise ist es ja auch genauso gewesen, wenn wir uns die Entstehung dieser Lavaröhren in Erinnerung rufen. So ist es auch nicht verwunderlich, daß wir kaum eine Steigung zu überwinden haben, um vom Ausgang der Lavaröhre in das sie umgebende Gelände zu gelangen.

Ein Blick auf die Uhr belehrt uns, daß es nun angeraten ist, den Rückweg anzutreten. Zwar steht uns noch genug Zeit dafür zur Verfügung – alles in allem haben wir für den Ausflug zu den Lava-Röhren eine reichliche halbe Stunde benötigt -, so daß wir nicht werden rennen müssen, doch dürfen wir auch nicht bummeln, wenn wir die letzte Fähre erreichen wollen. Es ist kaum anzunehmen, daß sie ausgerechnet auf uns warten würde.

Vom Ausgang der Lavaröhre gibt es lediglich einen einzigen Weg, den wir gehen können. Markiert durch die uns nun schon hinlänglich bekannten pyramidenbemützten Pfosten mit den gelben Pfeilen, ist er nicht zu verfehlen. Wir sind noch nicht weit gegangen, da bemerke ich rechts von uns im Wald einige Felsen. Vermute ich zunächst, daß sich dort der Graben befindet, auf dessen Grund wir noch wenige Minuten zuvor in die entgegengesetzte Richtung unterwegs gewesen waren, als uns die Natur einen kurzen Moment des Lichts gestattet hatte, bevor wir in die Dunkelheit der Röhre hatten zurückkehren müssen, so erkenne ich schnell, daß dies ein Irrtum ist. Ein Spalt im Boden ist nirgendwo zu sehen. Die Lava des Rangitoto hat hier ganz offensichtlich mehr Überreste hinterlassen als die Röhre, die wir gerade der Länge nach durchquert hatten. Kurz darauf wieder an der Stelle anlangend, an der wir zuvor, einem der Pfeile folgend, vom Weg abgewichen waren, wird uns klar, daß dieser hier als Rundweg angelegt ist. Wir haben also nichts verpaßt.

Der Rest ist schnell erzählt. Wir wandern straffen Schrittes die Strecke zurück, die uns zu den Lavaröhren geführt hatte, und schwenken, als wir die Weggabelung mit der grünen Tafel erreichen, die uns hierher verwies, auf den Rangitoto Summit Track ein. Zunächst noch langsam bergab, dann auf ebener Strecke laufen wir zügig, doch  ohne zu hetzen den Weg zurück, den wir gute zwei Stunden zuvor gekommen waren, vorbei an Lavafeldern, die die grüne Vegetation der Insel langsam vereinnahmt. Würden wir in einigen Jahren wieder hierher kommen, sähe die Landschaft vielleicht schon wieder ein wenig anders aus als heute. Hatte das Wetter bisher sehr gut ausgehalten und hier auf der Insel auf Regen verzichtet, so wird der Himmel über uns nun doch zusehends düsterer. Die dunklen Wolken, die wir vom Rangitoto aus noch über Auckland gesehen hatten, haben langsam, aber sicher ihren Weg hierher gefunden. Doch noch regnet es nicht.

Lavafeld auf Rangitoto Island
Ein letztes Lavafeld.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Wir erreichen schließlich wieder die Uferstraße an der kleinen Bucht, auf der wir das restliche Stück unseres Rückweges bis zum Rangitoto Wharf zurücklegen. Dort angekommen, haben wir noch ein bißchen Zeit, um zu verschnaufen, eine Möwe zu beobachten, die sich auf der niedrigen Mauer, die die Uferstraße vom Wasser der Bucht trennt, niedergelassen hat, uns über ihr eigenwilliges Federkleid zu wundern, das nur an Kopf, Brust und Bauch aus weißen Federn besteht, während jene an Rücken, Flügeln und Schwanz von kräftigem Schwarz sind, einen Blick zurück auf den Rangitoto zu werfen, mit dem wir uns von ihm verabschieden, und schließlich der Fähre entgegenzusehen, die sich aus Richtung Waitematā Harbour und Innenstadt Aucklands langsam nähert, größer und größer wird, je kürzer die Entfernung ist, und schließlich an einem der dicken Holzpfähle festmacht, die die Plattform des Rangitoto Wharfs umgeben. Leute steigen nur noch wenige aus – immerhin ist es die letzte Fähre, die an diesem Tag die Insel verläßt. Wer jetzt nicht mitfährt, wird wohl die Nacht auf der Insel verbringen wollen – oder müssen. Folgerichtig sind wir auch nicht die Einzigen, die hier auf die Fähre gewartet haben und nun an Bord gehen.

Es gelingt uns, zwei Plätze im Inneren zu ergattern, denn angesichts der über dem Hauraki-Golf dräuenden dunklen Regenwolken verspüren wir nur wenig Lust, die Rückfahrt auf dem Deck im Freien zu verbringen. Auch tut es gut, nach all der Lauferei nun ein wenig zu sitzen, die müden Beine zu strecken und entspannt aus dem Fenster zu sehen, während die Fähre ablegt, sich langsam vom Rangitoto Wharf entfernt, schließlich Fahrt aufnimmt und uns zügig zurück nach Auckland bringt, wo uns unser Hotelzimmer schon erwartet, in dem wir nach einem Abendessen und dem Packen unserer Sachen die letzte Nacht unseres Aufenthaltes in der Stadt verbringen werden. Morgen ziehen wir weiter.

Und weil der Himmel über der Stadt darob wohl ein bißchen traurig ist, beginnt es schließlich doch noch, leise zu regnen…

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1 Der Text lautet im Original:

At Marsden Wharf in July 1985 the Rainbow Warrior, the flagship for Greenpeace, was bombed and sunk by agents of the French Government killing photograper Fernando Pereira. The ship was about to sail into the Pacific in peaceful protest against French nuclear testing. Public outrage and continuing pressure led France to stop the bomb tests after 1995 leaving irreparable damage at Moruroa.

Today the Rainbow Warrior II inspires people everywhere as she continues to campaign around the globe ‚bearing witness‘ against nuclear weapons and all other destructive environmental practices.

‚You can’t sink a rainbow‘

2 Bei uns ist die Namensvariante Mururoa gebräuchlich. In der Sprache der Polynesier lautet der Name des Atolls allerdings Moruroa.
3 Im Original: „Let the world be nuclear-free!“

Alles wird besser. Ganz bestimmt.

Dieser Beitrag ist Teil 7 von 8 der Beitragsserie "Gedanken zum Jahreswechsel"

Es kann eigentlich nur besser werden.

Ein Satz aus meinem Text zum Jahresende 2021. Genauer gesagt: der Schlußsatz. Er sollte Hoffnung ausdrücken. Auf Besserung. Auf Normalisierung. Auf die Rückkehr zu einem Leben, das wir selbstbestimmt führen können, frei von Angst, in die wir beständig versetzt werden, sobald wir den Fernseher anmachen, das Radio einschalten, die Zeitung aufschlagen oder eine Nachrichtenseite im Internet öffnen.

Was ist daraus geworden?

Nun, ich lebe noch. Das ist schon mal gut. Und nicht selbstverständlich. Immerhin wurde mein sicherer Tod für Ende März prophezeit, schließlich hatte weder eine gewisse Spritze Zugang zu meinem Körper gefunden, noch war ich genesen. Nun, letzteres konnte ich auch nicht sein, denn dafür hätte ich ja vorher erst einmal krank sein müssen. War ich aber nicht. Was ja auch wieder gut ist.

Kinos, Konzerthäuser- und -hallen, Theater, Opernhäuser stehen ebenso wie Restaurants wieder allen offen. Veranstaltungen finden wieder statt. Auch eine signifikante Verbesserung. Allerdings ist mir in der Zeit zuvor, als ich zu jenen gehörte, die man von diesen Orten ausschloß, zu einem gewissen Grad das Interesse an ihnen verlorengegangen. Obwohl es mir wieder möglich war, habe ich in diesem Jahr nicht ein einziges Mal ein Kino aufgesucht. Und auch Konzerte standen bei mir nicht mehr allzu hoch im Kurs. Lediglich zwei habe ich mit einem Besuch beehrt. Und auch die waren lediglich Nachholveranstaltungen für solche, die zwei Jahre zuvor abgesagt worden waren, so daß ich die Karten noch herumzuliegen hatte. Dabei hatte ich doch Kino- und Konzertbesuche einst ausgesprochen gerne in meinem Terminkalender gesehen.

Was war geschehen? Zunächst war ich selbst ein wenig überrascht. Hatte ich nicht zuvor noch unbändigen Ärger darüber verspürt, daß mir all das verwehrt war? Hatte ich nicht das Gefühl gehabt, daß man mir etwas Wichtiges entzogen hatte? Hatte ich mich nicht ausgeschlossen gefühlt? Mich nicht danach gesehnt, all das wiederzuerlangen? Daran teilhaben zu dürfen?

Warum also war es nun, da ich es wiederhatte, so unwichtig geworden? War es Trotz? Ich horchte in mich hinein. Nichts. Um etwas aus Trotz ablehnen zu können, hätte ich dafür ja zunächst einmal wirkliches Interesse verspüren müssen. Doch da war nichts.

Gar nichts. Selbst der Ärger, an den ich mich erinnerte und der mich anfangs sehr beherrscht hatte, schien irgendwie schon eine sehr lange Weile nicht mehr vorhanden zu sein. Mir war nicht bewußt, wann ich ihn verloren hatte und wann er offenbar durch Desinteresse an den entzogenen Dingen ersetzt worden war. Doch tatsächlich war es genau das: Desinteresse.

Ganz offensichtlich hatte ich mich in der Zeit, in der mir all dies nicht mehr zur Verfügung stand, davon abgewandt und mir neue Felder der Betätigung gesucht. Obwohl, so wirklich neu waren diese gar nicht. Tatsächlich hatte ich meinen Fokus verstärkt auf Beschäftigungen gerichtet, die mir schon immer Freude bereitet hatten. Allerdings waren das nun Beschäftigungen, die ich gut und gerne auch allein ausüben konnte, ohne dabei auf irgendeine Einrichtung angewiesen zu sein.

So wandte ich mich beispielsweise wieder mehr dem Schreiben zu, widmete ich mich verstärkt meinem Berlin-Blog. Innerhalb kürzester Zeit beendete ich erfolgreich die Arbeit an einer Artikelserie über die Berliner Garnisonkirche, die mich zuvor fast zwei Jahre in Anspruch genommen hatte. Auch hier in meinem privaten Blog verfaßte ich eine Reihe von Artikeln, mit denen ich mich an verschiedenen Dingen ausprobierte, von Gedichten bis Reiseberichten. Ich unternahm Fototouren durch und um meine Heimatstadt Berlin und beschäftigte mich anschließend mit dem weiten Feld der Fotobearbeitung. Und ich las – eine Beschäftigung, der ich schon immer gern meine Zeit widmete. Auf meiner Leseliste standen nun vorwiegend aktuelle Bücher, die mir dabei helfen sollten, zu verstehen, was in dieser scheinbar so irren Welt von heute eigentlich vor sich ging.

Und ich bin glücklich damit. All das verschafft mir mehr Zufriedenheit, als es jeder Kino- oder Konzertbesuch könnte, der mich nur für einen Abend gut unterhält – und das auch nur, wenn ich Glück habe. Also auch keine ganz schlechte Entwicklung.

Und sonst?

Ich schlage eine beliebige Zeitung auf.

Krieg.
In Europa.
In der Ukraine.
Der erste Krieg in Europa seit 1945.
Das stimmt zwar nicht, ist aber egal.
Der Krieg muß beendet werden.
Das geht aber nur mit mehr Waffen.
Im Jemen ist auch Krieg.
Ist aber nicht so wichtig.
Syrien auch nicht.
Sanktionen.
Um Rußland zu schaden.
Tun sie aber nicht.
Deutschland aber.
Na immerhin schaden sie.
Energiekrise.
Erdgasmangel.
Erdöl fehlt auch.
Blackouts drohen.
Nein, die kommen ganz gewiß.
Oder auch nicht.
Wir haben die Energiewende vorangebracht.
Wir nutzen wieder mehr Kohle zur Energiegewinnung.
Äh… was?
Egal.
Eventuell müssen wir frieren im Winter.
Ist aber für eine gute Sache.
Da müssen wir durch.
Solidarisch sein.
Alles wird teurer.
Die schreckliche Inflation.
Putschversuch in Deutschland.
Die böse rechte Rentnergang.
Gerade noch rechtzeitig gestoppt.
Nochmal Glück gehabt.
Corona gibt’s auch noch.
Wird bestimmt wieder ganz schlimm in diesem Winter.
Bis Frühjahr noch durchhalten.
Einmal noch.
In China gibt’s neue Virusvarianten.
Vielleicht.
Oder doch nicht.
Die Grippe ist auch wieder da.
Und RSV dazu.
Alles ganz schlimm.
Und der Klimawandel.
Vergeßt den Klimawandel nicht!
Den müssen wir verhindern!
Am besten, wir kleben uns irgendwo fest.
Oder beschädigen Kunstwerke.
Das hilft bestimmt.

Ich schließe die Zeitung wieder. Die Welt ist komplett verrückt geworden.

Fragte man einen Optimisten, ob er dazu etwas zu sagen wisse, würde er sicher antworten:

Alles wird besser.

Bäte man einen Pessimisten, dies zu kommentieren, würde er wohl ergänzen:

Doch nie wieder gut.

Hoffen wir, daß der Optimist recht behält. In diesem Sinne wünsche ich Euch allen ein gesundes und ein glückliches Jahr 2023.

Trotzdem. Oder gerade deswegen.

Lichterfest in dunklen Zeiten (II)

Dieser Beitrag ist Teil 2 von 2 der Beitragsserie "Festival of Lights 2022"

Ein glimmender Funke.
Ein sanftes Leuchten.
Ein heller Schein.
Ein glitzerndes Strahlen.

Die Vielfalt der Möglichkeiten, der Dunkelheit ein Licht entgegenzusetzen, ist groß. Doch gleichgültig, in welcher Form es daherkommt, Licht erhellt das Dunkel, spendet Hoffnung und belebt die Seele.

Es werde Licht! Keineswegs zufällig stellt dieser Ausruf den Beginn der Schöpfung in der Bibel dar. Uns geht ein Licht auf, wenn wir über etwas Klarheit erlangen. Und oft sagt man, daß jemand, der besonders glücklich ist, von innen heraus leuchte.

Licht hat für uns Menschen, aber auch für die Natur um uns herum eine enorme Bedeutung. Ohne es könnten wir, könnten alle Landlebewesen nicht atmen, weil der Sauerstoff, den wir dafür brauchen, von den Pflanzen durch Photosynthese erzeugt wird. Und dafür brauchen sie – Licht. Das lernen wir schon in der Schule. Ohne es gäbe es kein Leben. Zumindest keines, wie wir es kennen.

Und so hat auch das Festival of Lights – das Lichterfest – seine Bedeutung. Daß es jedes Jahr im Herbst stattfindet, wenn die Tage spürbar kürzer und die Nächte merkbar länger werden, mag man rational damit erklären, daß sich der Sommer dafür nicht eignet, weil es in dieser Jahreszeit einfach zu spät dunkel genug ist, und daß die Temperaturen im Winter in der Regel zu niedrig sind, um das Publikum zum entspannten Bummel zu bewegen. Und natürlich kann man in diesem Festival auch einfach eine bunte, über die Stadt verteilte Show sehen, die allein der Unterhaltung des Publikums dient, mit bunten Lichtskulpturen, flimmernden Lichtshows und an jeder Straßenecke feilgebotenem Flicker-Flacker-Krimskrams.

Mir jedoch gefällt es viel besser, in diesem Lichterfest ein Zeichen der Hoffnung zu sehen, mit Bedacht ausgesandt in der Zeit des anbrechenden Herbstes, wo die Natur in die Winterruhe geht, überall die Blätter fallen und die Bäume kahl zurücklassen, wo das Licht der Sonne nur noch wenige Stunden am Tag zu sehen ist und immer weniger wärmt und wo wir in der Gewißheit leben, daß uns nun die dunkle und kalte Zeit des Jahres bevorsteht. Ist es da nicht schön, all die leuchtenden Attraktionen zu sehen, die in allen Farben flimmernden Lichtshows am Fernsehturm, am Bebelplatz oder am Brandenburger Tor, die ätherisch-magischen Lichtskulpturen im Nikolai-Viertel, die majestätisch schwebenden Fabelwesen im Lustgarten, die an die Hauswand des Lindencorsos projizierten Naturbilder, die grazil über das Wasser des Piano-Sees gleitenden leuchtenden Schwäne und nicht zuletzt die in sanften Farben angestrahlten Bäume an verschiedenen Orten der Stadt, sie alle zu betrachten und als Botschaft der Gewißheit zu verstehen, daß auch diese Zeit der Dunkelheit vorübergehen und auf sie eine neue Zeit des Lichts folgen wird? Und wenn dann all die strahlenden, funkelnden, schimmernden und leuchtenden Kunstwerke mit Botschaften des Friedens, der Gemeinsamkeiten, der Zusammengehörigkeit, der Toleranz, des Humors, der Liebe zur Natur und zu den Menschen, kurz mit den besten Eigenschaften und Aspekten des menschlichen Lebens verbunden sind, dann fällt es nicht schwer, all dies auch auf die Dunkelheit zu übertragen, die derzeit unser Leben mehr und mehr verdüstert und das Zusammenleben in Frieden, Freundschaft und Eintracht schwerer und schwerer macht, in diesem unserem Land, in Europa, in der Welt. Doch damit auch hier das Licht zurückkehrt und diese Dunkelheit vertreibt – das vermitteln uns die auf diesem Festival of Lights gezeigten Kunstwerke – genügt es nicht, die Hoffnung zu bewahren und abzuwarten, bis es soweit ist. Dafür müssen wir selbst aktiv werden, uns jeden Tag, in unserem alltäglichen Leben, für Frieden und Toleranz stark machen und jenen entgegentreten, die uns erzählen wollen, wir seien unvereinbar verschieden und – schlimmer noch – einander feind. Nur wenn uns das gelingt, gemeinsam, dann wird die Vision unserer Zukunft, die das Thema des diesjährigen Festivals of Lights ist, irgendwann klarer und klarer und schließlich Realität.

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Rechtlicher Hinweis:
Die Veröffentlichung meiner Fotos erfolgt unter den Bedingungen, die in den FAQ des Festivals of Lights genannt werden. Das Festival of Lights ist eine temporäre Kunstaktion, für die die Regeln des Urheberrechts gelten. Hobbyfotografen ist es jedoch für die nicht-kommerzielle Nutzung gestattet, Fotos von Motiven des Festival of Lights auch auf Social Media Plattformen zu verwenden, ohne daß eine Lizenzierung durch den Veranstalter notwendig ist. Für alle anderen Lizenzfragen kontaktiert man bitte den Veranstalter.

Lichterfest in dunklen Zeiten (I)

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 2 der Beitragsserie "Festival of Lights 2022"

Das Jahr schreitet voran, die Zeiten werden dunkler. Und das nicht nur wegen der kürzer werdenden Tage und den immer früher anbrechenden Abenden. Mehr und mehr driftet unsere Welt in Richtung Chaos. Corona, Ukraine, Gas und Energie – Krise folgt auf Krise. Daß jede einzelne davon selbstgemacht ist – wer will das wissen? Stattdessen Drama, Betroffenheit, Verwirrung, Panik allüberall. Kaum ist uns, den Menschen in diesem Lande, noch eine Atempause vergönnt. Am besten sollen wir jeden Tag vor etwas anderem Angst haben. Schlägt man die Zeitung auf oder schaltet Radio und Fernsehen an, halten sie uns in Atem und lassen uns kaum noch zur Besinnung kommen. Zum Nachdenken schon gar nicht.

Und wo bleibt das Schöne? Das Edle? Wo bleiben Ruhe und Gelassenheit? Entspannung und Frieden? Wo bleiben all die Dinge, die kleinen und die großen, die das Leben schön und lebenswert machen? Dinge, die uns helfen, nicht von all dem Chaos, der Panik, dem Hurra- und Kriegsgeschrei verrückt zu werden und ihm gar noch blind hinterherzutaumeln? Dinge wie beispielsweise das alljährliche Festival of Lights?

Da wird aufgeregt gefragt, ob man in diesen Zeiten von Krieg und Krise, von Gas- und Energiemangel ein solches Festival überhaupt durchführen dürfe. Was für eine Frage! Darauf kann es eigentlich nur eine Antwort geben: Man darf nicht nur, man muß! … der aufziehenden Dunkelheit ein Licht entgegenstellen. Auf daß sie nicht alles umfangen möge. Auf daß dieses Licht größer und größer werde! Auf daß es wieder hell werde! Auf daß wir einander wieder erkennen können und vielleicht dieses Mal in der Menschheitsgeschichte schon vor der Katastrophe feststellen, daß wir so verschieden dann doch nicht sind und daß Haß und Gewalt niemals den Frieden bringen. Auf daß wir es diesmal schaffen, die Katastrophe abzuwenden, bevor sie eintritt. Auf daß wir wieder eine positive Vision haben. Eine Vision für unsere Zukunft[1]„Vision of Our Future“ ist das Motto des diesjährigen Festivals of Lights..

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Referenzen

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1 „Vision of Our Future“ ist das Motto des diesjährigen Festivals of Lights.

Gottes Haus und Teufels Garten

Dieser Beitrag ist Teil 9 von 10 der Beitragsserie "Reise nach Neuseeland & Singapur"
Wie ich einen Nachmittag in einer Kathedrale begann, in einer Kirche verbrachte und in einem Garten auf einem Vulkan ausklingen ließ

Modernen Kirchenbauten kann ich nichts abgewinnen.

Alles daran ist so oft reine Zweckmäßigkeit. Darauf ausgerichtet, Raum für den Gottesdienst zu sein. Oder eine möglichst perfekte Akustik zu bieten. Besser noch beides. Was mir hingegen fehlt, ist diese ganz eigene Atmosphäre, die historische Kirchen fast immer ausstrahlen. Die mich mit schierer Größe überwältigt, mir zeigt, wie klein ich bin, und mich so Demut und Bescheidenheit lehrt. Die mich aber gleichzeitig auch mit Geborgenheit umfängt, mir das unbedingte Gefühl vermittelt, an einem Ort zu sein, wo ich nötigenfalls gut aufgehoben wäre, Schutz fände und wo Ruhe mich erfaßt, kaum daß ich eingetreten bin. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob ich gerade einen großen, monumentalen Dom oder eine bescheidene Feldsteinkirche auf dem Anger eines kleinen Dorfes betrete, auch wenn sich sicherlich der Anteil, mit dem diese gegensätzlichen Gefühle dabei in mir hervorgerufen werden, zwischen beiden unterscheidet.

Auch scheinen mir moderne Kirchenbauten oft ohne diesen Sinn für Kunstfertigkeit und Schönheit errichtet worden zu sein, der ihre historischen Vorgänger stets so sehenswert macht. Dabei müssen es gar nicht die prächtig-opulenten Kunstwerke, die monumentale Architektur oder die rätselhaften Geheimnisse der Krypten und weitläufigen Gruften sein, mit denen die großen und bedeutenden Kirchenbauten aufwarten können und nicht selten regelrecht prunken. Auch kleine Dorfkirchen offenbaren oft genug die Kunstfertigkeit ihrer Erbauer und einen Sinn für Schönheit und Ästhetik, der weit über den reinen Zweck, Raum für den Gottesdienst zu sein, hinausgeht und sie sehenswert macht.

Nicht zuletzt aber sind historische Kirchenbauten eben auch genau das: Gebäude mit Geschichte, Bauwerke, die Geschichten erzählen können. Hier haben Menschen gelebt, gewirkt und ihre Spuren hinterlassen, Gemeinschaften aufgebaut und auch wieder zerstört, sind von dieser Welt gegangen und in Erinnerung geblieben, in der sie immer noch fortleben. Mit all dem sind diese Kirchen, die stets zentraler Ort von Gemeinschaften waren, verbunden. Und dies läßt sich, schaut, hört und fühlt man nur aufmerksam genug hin, in ihnen unmittelbar erfahren.

Deswegen besuche ich so überaus gerne historische Kirchen, obwohl ich selbst gar kein religiöser Mensch bin. Doch all das ist es auch, was mir bei modernen Kirchenbauten so oft fehlt, weswegen ich meist gar nicht erst hineingehe.

Daß ich mit diesem pauschalen Urteil falschliege, weiß ich zu dem Zeitpunkt, als ich vor Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium am Ufer der Okahu Bay in den Auckland Explorer Bus steige, noch nicht. Doch ich soll es bald erfahren…

Zunächst aber geht es, nachdem sich der Bus in Bewegung gesetzt hat, noch einmal am Ufer der Okahu Bay entlang über den Isthmus von Auckland zur Hobson Bay und auf dem großen Damm über diese hinweg. Erneut biegen wir dahinter links ab und fahren die Gladstone Road entlang und von dieser in die St. Stephens Avenue hinein. Wieder ziehen die Reihenhäuser mit ihren Gärten an den Fenstern vorüber und wieder kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, durch einen Teil Aucklands zu fahren, der den ausgeprägten Charakter einer Vorstadt besitzt. Immerhin weiß ich mittlerweile, daß dieser Stadtteil Parnell genannt wird.

Am Ende der St. Stephens Avenue, dort, wo diese auf die Parnell Road trifft und endet, liegt das Ziel unserer Fahrt: die Holy Trinity Cathedral, die Kathedrale der Heiligen Dreieinigkeit, Mutterkirche der anglikanischen Diözese von Auckland. Bereits tags zuvor war mir dieser Bau bei unserer Fahrt mit dem Auckland Explorer Bus aufgefallen, als wir zum Mount Eden unterwegs gewesen waren, und ich hatte ihn auf meine Liste der Orte gesetzt, die ich mir gerne ansehen würde. Hatte sein überaus eigenwilliges Dach, in dem ich zunächst ein auf dem Kopf stehendes großes W gesehen hatte, bis mir aufgefallen war, daß es dafür einen Zacken zuviel besitzt, bereits mein Interesse geweckt, so war dieses noch gesteigert worden, als ich erfahren hatte, daß es sich bei dem Gebäude um eine Kirche handelte. War ich modernen Kirchenbauten bisher stets wegen ihrer von mir als seelenlos empfundenen Langweiligkeit abgeneigt gewesen, so forderte mich dieser mit seinem außergewöhnlichen Erscheinungsbild geradezu heraus. Das mußte ich mir näher ansehen!

Die Holy Trinity Cathedral in Auckland
In Aucklands Stadtteil Parnell steht die Holy Trinity Cathedral, die Kathedrale der Heiligen Dreieinigkeit. Ihr äußeres Erscheinungsbild wird maßgeblich durch die eigenwillige Dachkonstruktion ihres Kirchenschiffs bestimmt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Und so stehen wir nun, nachdem der Bus uns an der nahegelegenen Haltestelle entlassen hatte, auf dem großen, gepflasterten Vorplatz der Kathedrale und starren diese fasziniert an. Ihre Frontseite wird im wesentlichen von zwei Elementen dominiert: dem bereits erwähnten Dach mit den drei nach oben weisenden Zacken und einem riesigen fünfteiligen Fenster. Der Gesamteindruck wird jedoch maßgeblich von der Dachlinie bestimmt. Deren höchster Punkt liegt in der Mitte, wo sie von der Spitze der mittleren Zacke schräg abfällt, bis sie auf beiden Seiten plötzlich in einem spitzen Winkel wieder ein Stück ansteigt, um je eine weitere Spitze zu bilden. Von dieser geht es steiler als zuvor nach unten, doch wird dieser Abfall schließlich durch einen weiteren, diesmal stumpfen Winkel gebremst, so daß die Dachlinie in einer sanften Neigung zu beiden Seiten des Baus bis zu einer Höhe abfällt, die bei anderen Gebäuden dem oberen Ende des Erdgeschosses entspricht, wo sie, gestützt von drei nebeneinander angeordneten schlanken Säulen, ausläuft. Das große Fenster befindet sich in der Mitte der Frontseite und schließt sich unmittelbar unterhalb des Daches an. Seine fünf Sektionen liegen direkt nebeneinander und sind lediglich durch schmale Betonachsen voneinander getrennt. Dabei ordnen sich unter der zentralen Dachspitze drei dieser Teile ein, von denen der mittlere doppelt so breit wie die beiden anderen ist. Die beiden verbleibenden Sektionen des Fensters befinden sich unterhalb der seitlichen Spitzen des Daches. Allen gemein ist, daß sie aus buntem Glas zu bestehen scheinen, das nach meinem Eindruck eine bildliche Darstellung enthält, die, wie es aussieht, jedoch nur im Inneren zu erkennen ist, da wohl erst das hindurchscheinende Tageslicht das Bild wirklich sichtbar werden läßt. Das Fenster reicht allerdings nicht bis zum Boden hinab. Stattdessen befindet sich unter ihm der Eingangsbereich der Kathedrale. Dieser besitzt zwei große Türen, von denen je eine unter einem der beiden äußeren Teile des Fensters angeordnet ist. Beide sind durch kleine Vorbauten hervorgehoben, die mit ihren Dächern die direkt über ihnen liegenden äußeren Spitzen des Kathedralendaches aufnehmen.

Bevor wir uns auf den Weg zu einem der beiden Eingänge machen, um uns ins Innere der Kathedrale zu begeben, schauen wir uns erst noch ein wenig um. Auf der rechten Seite des Vorplatzes ist ein großes, grau-braunes Ungetüm zu sehen, das in einem kreisrunden Areal aufragt, welches sich durch eine hellere Pflasterung vom Rest des Platzes abhebt. Die große Masse ist sehr unregelmäßig geformt und läßt von keiner Seite auch nur den kleinsten Hauch von Symmetrie erkennen. Ihre Seiten ragen hier senkrecht, dort schräg auf und bilden an anderer Stelle eine gezackte Linie. Die Oberseite ist am einen Ende nahezu waagerecht und bildet eine Art Plateau, um von diesem aus zum anderen Ende hin schräg anzusteigen und eine kleine Spitze auszubilden, die den höchsten Punkt des ganzen Konstrukts markiert. Hier und da plätschert Wasser und stürzt sich in kleinen Wasserfällen zu Boden. Ich kann mir zunächst keinen rechten Reim darauf machen, was das Ganze eigentlich darstellen soll, und fühle mich entfernt an einen Berg erinnert, wenn ich einmal davon absehe, daß das Ding dafür viel zu wenig Komplexität und viel zu viele gerade Linien aufweist.

Der Mountain Fountain vor der Holy Trinity Cathedral in Auckland
Ein Monument von … ja was ist das eigentlich? Auf jeden Fall ein Brunnen!
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Am Rande des runden Areals entdecke ich zwei in den Boden eingelassene bronzene Tafeln, denen ich mich in der Hoffnung nähere, darauf vielleicht einen Hinweis zu finden, was ich hier vor mir habe. Und tatsächlich habe ich Glück. Die linke, kleinere Tafel erzählt mir, daß es sich bei dem Ungetüm um den sogenannten „Mountain Fountain“ handelt. Leider bleibt die Wortspielerei im Namen dieses Kunstwerks in der deutschen Übersetzung nicht erhalten, die demgegenüber vergleichsweise dröge klingt: „Bergbrunnen“. Mein Eindruck hat mich also nicht getäuscht! Ich erfahre, daß der Künstler der ehrenwerte Terry Stringer war, der sein im Jahre 1981 geschaffenes Werk als einen neuen handgefertigten Vulkan für die Menschen in der Stadt der Vulkane verstanden wissen wollte. Ursprünglich war es auf dem Aotea Square aufgestellt – ein Platz, den wir bereits kennen, befindet er sich doch direkt neben dem Rathaus Aucklands. 2010 versetzte man den Bergbrunnen allerdings an seinen heutigen Standort. Warum es dazu kam, verrät die Tafel allerdings nicht. Dafür weiß sie noch mit der Information aufzuwarten, daß das Kunstwerk im wesentlichen aus Bronze besteht. Nun, das ist insofern ein hilfreicher Hinweis, als dies in dessen äußerem Erscheinungsbild nicht sofort zu erkennen ist. Infolge des Wassers und der Witterung vieler Jahre hat der Brunnen eine interessante abwechslungsreiche Färbung in verschiedenen grauen und braunen Tönen angenommen, die nicht mehr unmittelbar auf das Material, aus dem er besteht, schließen läßt. Die rechte, größere Tafel weist stolz darauf hin, daß „diese Wasserskulptur den Bürgern Aucklands von der Auckland Savings Bank präsentiert wurde, um einen Meilenstein in der Entwicklung der Bank zu markieren, die von ihrer Gründung im Jahre 1847 an stets mit dem Wachstum der Stadt eng verbunden war“[1]Im Original ist dort zu lesen: „This water sculpture was presented to the citizens of Auckland by the Auckland Savings Bank to mark a milestone in the progress of the bank, which, from its … [Weiterlesen]. Aha. Nun, das soll ja auch nicht vergessen werden. Worin dieser Meilenstein allerdings genau bestand, darüber hüllt sich die Tafel in vornehmes Schweigen. Belassen wir es dabei.

Treten wir nun also ein in Gottes Haus. So recht weiß ich nicht, was ich eigentlich erwarte, als wir auf den Eingang zugehen. Einerseits empfinde ich – bedingt durch meine Skepsis hinsichtlich moderner Kirchenbauten – einen gewissen Vorbehalt, andererseits verspüre ich aber auch Neugier, ob mein durch das Äußere der Kathedrale gewecktes Interesse belohnt werden wird.

Die Tür öffnet sich, wir treten ein – und ich bleibe einigermaßen atemlos stehen. Was für ein Anblick! Modern. Und gleichzeitig traditionell. Erhaben. Und im selben Augenblick nahbar und einladend. In ihrer Größe überwältigend und im gleichen Moment anheimelnd und mich mit einem Gefühl der Geborgenheit umfangend, ist diese Kirche irgendwie alles zugleich. Vor mir liegt das große Kirchenschiff mit seiner hohen Decke, die die von außen so beeindruckende Dachlinie direkt aufnimmt und in unvergleichlicher Eleganz nachbildet, wobei sie mit ihrer rötlich-braunen Holzverkleidung dem gesamten Innenraum eine freundlich-warme Atmosphäre verleiht. Dort, wo die Dachlinie, von den äußeren Spitzen abfallend, in die sanftere Neigung übergeht, in der sie schließlich an beiden Enden ausläuft, sind auf jeder Seite drei große Fenster eingelassen, deren dreieckige Form sie zu einem interessanten Blickfang macht. Der gesamte Innenraum ist mit in mehreren Blöcken angeordneten Stuhlreihen gefüllt, deren große Anzahl an Sitzen auf eine umfangreiche Gemeinde schließen läßt. Bemerkenswert ist, daß man offenbar von jedem Platz, egal wo im Raum er sich befindet, einen gleich guten, ungehinderten Blick nach vorn hat, der von keiner Säule, keinem Pfeiler behindert wird. Denn solche sucht man im gesamten Kirchenschiff vergebens. Die in ihrer Eigenwilligkeit bereits hinreichend beeindruckende Konstruktion des Daches kommt zu meiner Überraschung hier im Inneren völlig ohne solche sichtbaren tragenden Elemente aus. Ein wahrhaft architektonisches Kunststück!

Die Holy Trinity Cathedral in Auckland
Im Inneren ist die Holy Trinity Cathedral genauso beeindruckend wie von außen, wenn nicht sogar noch mehr. Eine wahrhaft kühne Symbiose von historischen und modernen Stilelementen!
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Zu beiden Seiten dieses Kirchenschiffes reihen sich an der östlichen und westlichen Seitenwand der Kathedrale je neun Buntglasfenster aneinander. Diese sind jedoch nicht einfach nebeneinander in die glatte Wand eingesetzt worden, denn eine solche gibt es hier nicht. Statt einer einfachen Mauer bilden die beiden Außenwände eine Art Zick-Zack-Linie. Und während die dem Eingang zugewandten Wandsegmente in einfachem Weiß getüncht sind, enthalten die anderen jeweils ein großes Buntglasfenster. Insgesamt sind es achtzehn an der Zahl, die in leuchtenden Farben die prächtigsten Motive zeigen. Riesige bunte Blüten, Sonnen und Berglandschaften sind ebenso zu sehen wie Kruzifix, Gottes Lamm und die Taube des Heiligen Geistes. Diese von den neuseeländischen Künstlern Robert Ellis und Shane Cotton entworfenen Buntglasfenster erzählen in ihrer Gesamtheit die christliche Geschichte, wobei sie traditionelle mit polynesischen Motiven kombinieren. Und auch wenn ich mit der christlichen Symbolik und Erzählung nur oberflächlich vertraut bin, sprechen mich diese künstlerisch so überaus reichhaltigen bildlichen Darstellungen doch an, und das nicht nur aufgrund ihrer Schönheit und Farbenpracht. Obwohl erst Anfang der zweitausender Jahre geschaffen und 2004 eingeweiht, verzichten sie doch auf jegliche Verklausulierung, Verzerrung und Verfälschung der Darstellungen, die man in moderner zeitgenössischer Kunst so oft vorfindet und die den Betrachter so manches Mal ratlos vor einem Kunstwerk zurücklassen, ohne daß er versteht, was der werte Künstler ihm damit wohl sagen will. Die Bildnisse auf diesen Fenstern sind hingegen völlig klar in dem, was sie darstellen, ohne dabei jedoch trivial zu werden. Ganz im Gegenteil. Die Vielzahl und Kombination der Motive ist so reichhaltig, daß immer noch genug Raum für Interpretation und Auseinandersetzung bleibt – mehr, als mir angesichts der nicht unbegrenzt zur Verfügung stehenden Zeit lieb sein kann.

Fenster in der Holy Trinity Cathedral in Auckland
Eines der farbenprächtigen Buntglasfenster der Holy Trinity Cathedral. Es ist an der Ostseite der Kirche zu sehen, ganz in der Nähe des Eingangs.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Langsam schreite ich die östlichen Seitenwand ab, jedes der darin eingelassenen Fenster dabei eingehend betrachtend. Als ich schließlich am jenseitigen Ende des Kirchenschiffes angelangt bin, stehe ich vor einem mit roten Seilen abgegrenzten rechteckigen Areal, das auch im Boden vom Rest des Raumes abgehoben ist, indem das sonst vorherrschende Hellbraun der Steinfliesen durch ein dunkles Purpur abgelöst wird. In der Mitte dieses abgesonderten Bereichs befindet sich neben einem riesigen Ständer, auf dem eine einzelne große, orangefarbene Kerze in die Höhe ragt, ein durchsichtiger, offenbar aus Glas bestehender Quader, in dessen Oberseite eine schüsselförmige Vertiefung eingelassen ist. Interessanterweise scheint es eine solche auch in der Unterseite zu geben, die allerdings weniger an die Form einer Schüssel als an die eines Eis erinnert, da sie weit über dessen Hälfte in den Quader hineinragt. Als ich nähertrete, stelle ich fest, das der Block durchaus nicht aus einem Stück besteht, sondern aus vieren. Diese vier eigenständigen Säulen wurden so zusammengesetzt und miteinander verbunden, daß die Illusion eines einzelnen Quaders entsteht. Aufgrund der Vertiefung an der Oberseite wage ich die Vermutung, hier das Taufbecken der Kathedrale vor mir zu sehen. Es gehört nicht viel dazu, mit dieser Annahme richtig zu liegen. Schwieriger ist es allerdings, den Künstler, der diesen Taufstein schuf, zu erraten. Und weil ich weiß, daß mir das nicht gelingen wird, lasse ich es bleiben und lese später nach, daß es sich dabei um die Künstlerin Anne Robinson handelt.

Weil sich an diesem Ende des Kirchenschiffs der Innenraum der Kathedrale auf den schmaleren Chorbereich verengt, befindet sich hinter dem Taufstein nun eine weiße Wand und ich muß zur Mitte des Raumes gehen, um meinen Weg in den Chor fortsetzen zu können. Als ich bei dieser Gelegenheit einen Blick zurück in Richtung des Eingangs und damit der Frontseite der Kathedrale werfe, stockt mir förmlich der Atem. Es ist ein wahrlich erhabener Anblick, der sich meinen Augen bietet! Hatte ich auf dem Vorplatz bei der Betrachtung der Vorderseite der Kirche bereits vermutet, daß das große fünfteilige Fenster über dem Eingang ein Buntglasfenster sein könnte, so finde ich dies nun nicht nur bestätigt, sondern vor meinen Augen entfaltet sich ein beeindruckendes Fenstergemälde. Geschaffen von dem neuseeländischen Maler Nigel Brown, zeigt es in überwältigender Farbenpracht einen riesigen polynesischen Christus, umgeben von reichhaltigen Motiven, die unverkennbar dem pazifischen Raum zuzuordnen sind. Von meinem jetzigen Standort am Ende des Kirchenschiffs aus kann ich dieses monumentale Bild in seiner ganzen Länge überblicken. Die Perspektive ist einmalig! Sämtliche Linien des gefalteten Daches scheinen in ihrer gesamten Länge auf dieses riesige Fensterbild zuzulaufen, ebenso wie die Längsseiten der in Blöcken angeordneten Stuhlreihen am Boden des riesigen Saales, was das Glasgemälde zu dessen alleinigem Blickfang werden läßt, der das Innere der Kathedrale völlig ausfüllt, ohne jedoch niederzudrücken oder zu beherrschen. Eine architektonische und künstlerische Meisterleistung, deren starke Symbolkraft sogar mich religiösen Laien berührt!

Kirchenschiff mit Frontfenster in der Holy Trinity Cathedral in Auckland
Ein Blick vom Chor durch das gesamte Schiff der Holy Trinity Cathedral mit dem großen Fensterbild am anderen Ende. Ein wahrlich erhabener Anblick!
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Der Schöpfer dieses beeindruckenden Raumes ist der neuseeländische Architekt Richard Toy, nach dessen Plänen das Kirchenschiff der Holy Trinity Cathedral in den Jahren 1991 bis 1995 erbaut wurde. Angesichts der Tatsache, daß der Grundstein für die Kathedrale bereits am 13. Juni 1957 gelegt wurde – man brachte ihn von der Kathredale in Litchfield, Großbritannien, hierher -, scheint deren Errichtung eine recht lange Zeit in Anspruch genommen zu haben. Dem ist jedoch nicht so. Tatsächlich datiert die Eröffnung der Kathedrale bereits auf das Jahr 1973, woraus sich die Frage ergibt, was denn wohl in den mehr als zwanzig Jahren bis zur Fertigstellung des heutigen Kirchenschiffs an seiner Stelle zu dem Gotteshaus gehörte. Nun, die Antwort ist schnell gegeben: nichts. Tatsächlich bestand die Holy Trinity Cathedral in dieser Zeit nur aus dem bis 1973 fertiggestellten Chor, der aus Stahlbeton errichtet und mit Backstein verkleidet wurde und den Baustil der Neugotik aufgreift. Als daher Richard Toy mit den Entwürfen für das Kirchenschiff begann, stand er vor der Herausforderung, sein zeitgenössisches Design mit dem älteren, neugotischen Chor zu verbinden – eine Aufgabe, die er meisterhaft gelöst hat. Und so schließt sich an das Kirchenschiff ein kurzer Durchgang an, der zu dem Chorbereich der Kathedrale überleitet, wobei er die volle Höhe des Raumes einnimmt. So breit wie die mittlere und höchste Spitze des Daches, greift er deren Form an der dem Schiff zugewandten Seite auf und läuft nach oben hin in einem Dreieck aus. Auf seiner anderen Seite, wo er in den Chor übergeht, formt er hingegen an seinem oberen Ende einen weiten und – ganz dem Stil der Gotik gemäß – spitz zulaufenden Bogen, der gewissermaßen das Deckengewölbe des Chores eröffnet, dessen Höhe der des obersten Punktes des Kirchenschiffes entspricht. Trotz der Verschiedenheit in Form und Material erscheint der viel ältere Chor auf diese Weise als eine völlig natürliche Fortsetzung des moderneren Kirchenschiffes und bildet mit diesem eine Einheit; so sehr, daß man heute von der Kathedrale als dem weltweit einzigen Beispiel für den sogenannten pazifisch-gotischen Baustil spricht.

Die bunte Fensterrose des Chores der Holy Trinity Cathedral in Auckland
Die von dem britischen Künstler Carl Edwards geschaffene Fensterrose im Chor der Holy Trinity Cathedral, die die Dreifaltigkeit symbolisiert.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Natürlich ist das Gewölbe in dem langgezogenen Chorbereich, der immerhin vier große Gewölberippen umfaßt, nicht mehr mit Holz, sondern mit Stein verkleidet. Dieser besitzt einen warmen, hellbraunen Farbton, der den hohen Raum – ganz im Gegensatz zu so manch mittelalterlicher Kirche – licht und freundlich erscheinen läßt. An seinem hinteren Ende schließt eine Wand den Chorbereich ab, in die eine über die ganze Höhe reichende breite Nische eingelassen ist, die ebenso wie der Zugang zum Chor in einem spitz zulaufenden Bogen ausläuft. Direkt in diesen ist ein riesiges, kreisrundes Rosettenfenster eingelassen, dessen Segmente aus buntem Glas bestehen. Was auf den ersten Blick wie eine zufällige Ansammlung bunter Glasstücke erscheint, formt bei genauerem Hinsehen eine bildliche Darstellung, in der ich unter anderem eine Taube und ein großes Auge erkennen kann sowie die griechischen Buchstaben Alpha und Omega, die Symbole für Gott als der Anfang und das Ende. Die Fensterrose mit einem Durchmesser von mehr als fünf Metern ist ein Werk des englischen Künstlers Carl Edwards und zeigt – ganz dem Namen der Kathedrale entsprechend – die Heilige Dreifaltigkeit: den Vater, repräsentiert durch das Auge, den Sohn, symbolisiert durch ein durchgehendes rubinrotes Kreuz, und den Heiligen Geist, verkörpert von der Taube. Die Kosten für das Fenster konnten durch eine Schenkung bestritten werden, die ein anonym gebliebener Spender der Kathedrale übereignete, damit sie zum Gedenken an die Pioniere verwendet werde, die Neuseeland aufbauten.

Unmittelbar darunter ist in der Wandnische der von Malcolm Mckenzie gestaltete Hochaltar aufgestellt, ein durch seine Schlichtheit bestechendes Werk, bestehend aus einem vergleichsweise einfachen Altartisch mit sechs Kerzenhaltern, dem links und rechts je ein weiterer Bodenständer mit einer Kerze beigegeben ist und der von einem großen Altarrahmen eingefaßt wird, der in seiner Breite die komplette Nische einnimmt und bis knapp unter das Rosettenfenster hinaufreicht. In der Mitte dieses aus Kauriholz geschaffenen Rahmens, den noch zwei dünne senkrechte Streben aus Holz verstärken, ist ein großes rotes christliches Kreuz an der Wand befestigt, das ebenfalls aus Kauri besteht und dessen Kanten vergoldet wurden. Zu diesem Altar führen drei Stufen hinauf, deren erste den anderen beiden etwas vorgelagert ist, so daß sich ein breiterer Absatz ergibt, auf dem ein Geländer den Altarbereich vom übrigen Chorraum abgrenzt, das nur in der Mitte einen Durchgang läßt.

Der Chor der Holy Trinity Cathedral in Auckland
Der Chor der Holy Trinity Cathedral wird am Ende mit dem Hochaltar abgeschlossen, über dem sich das große Rosettenfenster befindet.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Diese Stufen sind jedoch nicht die einzigen in diesem hinteren Teil der Kathedrale. Tatsächlich muß man bereits im Durchgang zwischen Kirchenschiff und Chorraum vier Stufen hinaufsteigen, um in letzteren zu gelangen. Das ist allerdings nur an den beiden Seiten möglich, da der Höhenunterschied in der Mitte des Durchgangs einfach als vertikaler Absatz ausgebildet ist, vor dem man – noch im Schiff – einen weiteren schlichten Altartisch aufgestellt hat. Ich vermute, daß dieser für die regelmäßigen Gottesdienste verwendet wird, während der Hochaltar nur im Rahmen der Feiern zu den großen kirchlichen Festen zum Einsatz kommt. Dort, wo der Durchgang in den Chor überleitet, sind weitere vier Stufen zu erklimmen, die diesmal allerdings über die volle Breite reichen. Das sich anschließende erste Gewölbejoch ist zu beiden Seiten offen, so daß sich dort Räume anschließen, die genauso breit wie der übrige Chorraum sind und auch seine Höhe erreichen. Von diesem durch hohe Spitzbögen getrennt, formen sie mit ihm und dem Durchgang ein christliches Kreuz. Schaut man sich Luftaufnahmen der Kathedrale an, läßt sich das gut erkennen. Doch auch hier im Inneren ist es kaum zu übersehen. Zwischen diesem ersten und dem zweiten Gewölbejoch des Chorraums erhöht sich der Boden ein weiteres Mal, so daß nun ganze acht oder neun Stufen noch ein Stück weiter hinaufführen. Diesmal hat man allerdings an den Wänden links und rechts den Absatz gestaltet und die Stufen in die Mitte verlegt.

Hier oben stehe ich nun und blicke auf den Hochaltar. An den Längsseiten des Chorraumes hat man, wie es auch in europäischen Kathedralen üblich ist, links und rechts einige Kirchenbänke aufgestellt, die aufgrund der Länge des Raumes wie ein Spalier wirken, das zu dem Altar hinführt. Der Boden zwischen ihnen, der dieselbe rötlich-braune Färbung wie die Bänke besitzt, ist dermaßen blank gewienert, daß sich der Hochaltar darin spiegelt. Fast scheue ich mich ein wenig, ihn zu betreten.

Hier im Altarraum befindet sich auch der Bischofsstuhl. Die Bezeichnung Kathedrale ist für die Kirche keineswegs zufällig gewählt. Vielmehr macht sie deutlich, daß die Holy Trinity Cathedral eine Bischofskirche ist. Es dürfte kaum überraschen, daß es der anglikanische Bischof von Auckland ist, der hier seinen Sitz hat. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn wie jede Bischofskirche verfügt natürlich auch die Holy Trinity Cathedral über einen Bischofsstuhl, auch Kathedra genannt, der sich von den übrigen Sitzgelegenheiten im Chorraum abhebt. Ich vermute, daß es sich um den links hinter den Kirchenbänken aufgestellten Sitz handelt, der über eine eigene Rückwand verfügt, die nach oben hin durch einen knappen Baldachin abgeschlossen wird. Wie ich später herausfinde, besitzt die Kathedrale sogar drei solche speziellen Sitze. Das hat damit zu tun, daß die anglikanische Kirche Neuseelands seit 1992 Anglikanische Kirche in Aotearoa, Neuseeland und Polynesien heißt, was nicht nur eine einfache Namensänderung war, sondern darin begründet liegt, daß man beschloß, den drei kulturellen Strömungen der anglikanischen Kirche im Pazifikraum Rechnung zu tragen: der neuseeländischen, der der Māori und der der übrigen Gebiete, zu denen Fidschi, Tonga, Samoa und die Cookinseln gehören. Diesen drei Strömungen oder Tikangas entsprechend, gibt es seitdem auch drei Primaten, von denen jeder einen Tikanga repräsentiert. Und so verfügt die Kathedrale auch über einen Sitz für Tikanga Māori und einen für Tikanga Pasifika. Beide sind durch eigene Wappen gekennzeichnet.

Als ich den Chorraum wieder verlassen will und die Querachse des Kreuzes durchschreite, das er mit dem Durchgang und den beiden Seitenräumen bildet, bemerke ich, daß letztere gar keine über die gesamte Höhe durchgehenden Räume sind, sondern im unteren Drittel Einbauten enthalten, die nach oben hin durch eine Balustrade abgeschlossen werden und an ihrer Vorderseite in zwei große Spitzbögen aufgeteilt sind. Auf der Ostseite ist über dem Einbau ein großes Buntglasfenster zu sehen, das wieder jede Menge Symbolik enthält, deren Interpretation mir allerdings schwer fällt. Ein siebenarmiger Leuchter, insgesamt vierundzwanzig bärtige Häupter mit goldenen Kronen, eine zentrale Figur mit einer Art Strahlenkranz um den Kopf und einem Umhang, der mich an Flügel erinnert, die einen langen Stab in der Hand  hält – das sind neben zwei großen Sonnensymbolen, von denen eines ein Gesicht besitzt, die Elemente, die mir beim Betrachten dieses Fensters auffallen. Was es wohl bedeuten mag? Da ich es nicht ergründen kann, wende ich meine Aufmerksamkeit den darunterliegenden beiden Spitzbögen zu, die mit Glaswänden verschlossen sind, in die man mittels hölzerner Rahmen Doppeltüren eingelassen hat. Und weil diese gerade einladend weit offen stehen, beschließe ich kurzerhand, dieser Einladung zu folgen und einmal zu schauen, was es denn da zu sehen gibt.

Ich lande in einem kleinen Raum mit mehreren, hintereinander aufgestellten Bänken und einem durch ein niedriges Geländer abgetrennten Bereich, in dem ein weiterer schlichter Altartisch aufgebaut ist. Ganz offensichtlich habe ich nach dem Kirchenschiff und dem Chor hier einen dritten Raum für Gottesdienste gefunden. Die kleine Marsden-Kapelle, die nach Samuel Marsden benannt ist, der die erste christliche Mission in Neuseeland gründete, ist in erster Linie als Raum für private Andacht vorgesehen. Doch auch, wenn sie damit keinen repräsentativen Zwecken dienen muß, hat man nicht auf außergewöhnliche Gestaltungselemente verzichtet. Besonders fallen mir die fünf bunten Glasfenster ins Auge, deren bildliche Darstellungen Werke des englischen Künstlers John Baker sind.

In der Marsden-Kapelle der Holy Trinity Cathedral in Auckland
Ein Blick in die Marsden-Kapelle mit den bunten Glasfenstern von John Baker.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Erst, als ich die kleine Seitenkapelle wieder verlasse, fällt mir auf, daß der Chor der Kathedrale durchaus kein einzelner langgezogener Raum ist, wie ich bisher angenommen und wahrzunehmen geglaubt hatte. Zwar sind in seine Seitenwände im oberen Bereich hohe, mit Spitzbögen versehene Fenster eingelassen, die für den ausreichenden Einfall von Tageslicht sorgen, doch befindet sich unter diesen keineswegs glatte Wand. Stattdessen sind dort in jedem Gewölbejoch auf beiden Seiten wiederum Spitzbögen eingelassen, die zu jeweils einem langen Gang führen. Diese beiden Gänge laufen neben dem Chor bis zu dessen Rückwand entlang, sind allerdings nur so hoch, daß ihre Decke noch unterhalb der Chorfenster liegt.

Im westlichen dieser beiden Gänge, in den ich neugierig einen Blick hineinwerfe, bemerke ich an der Wand eine kleine Schnitzerei. Sie zeigt die Büste eines bärtigen Jesus Christus‘, der an der Dornenkrone auf seinem Haupt gut zu erkennen ist. Eine einzelne Träne rinnt aus seinem linken Auge. Neugierig studiere ich die kleine Tafel, die man unter dem hübschen kleinen Kunstwerk angebracht hat und der ich tatsächlich alles entnehmen kann, was ich zu ihm wissen möchte[2]Im Original lautet der Text: The Tear This carving was presented to thank the Cathedral for hosting the annual memorial service to commemorate the lives of organ transplant donors and their … [Weiterlesen]:

Die Träne
Diese Schnitzerei wurde der Kathedrale als Dank für die Ausrichtung des jährlichen Gedenkgottesdienstes zur Erinnerung an die Organspender und ihre Familien überreicht. Sie würdigt auch das neue Leben der Empfänger von Organtransplantaten und ihre Familien. Die Schnitzerei steht für den tragischen Verlust und die Trauer über ein zu früh verlorenes Leben, aber auch für den Beginn eines neuen Lebens für andere. Der Schnitzer ist Brian Ravey aus Tauranga, der selbst ein Transplantatempfänger ist.

Schnitzerei "Die Träne" in der Holy Trinity Cathedral in Auckland
Die Träne von Brian Ravey. Ein berührendes Kunstwerk!
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Zurück im Kirchenschiff, betrachte ich nun die neun Buntglasfenster an der westlichen Wand und bin von diesen ähnlich beeindruckt und fasziniert wie von ihren Pendants, die ich mir zuvor an der Ostseite angesehen hatte. Direkt neben dem rechten der beiden Eingänge fällt mir anschließend eine große messingfarbene Glocke auf, deren Klöppel am Ende eine große metallene Kugel besitzt. Das daran befestigte weiße Seilstück, daß dazu dient, den Klöppel händisch in Bewegung zu setzen, um die Glocke zu läuten, weist das gute Stück ebenso als Schiffsglocke aus wie die darin an der Außenseite eingravierte Inschrift „V. Union Rotoiti 1977“. Eine darunter angebrachte große Messingplakette erklärt mir ihre Bedeutung. Ich erfahre, daß ich hier die Glocke der Union Rotoiti vor mir habe, die das letzte Schiff der Union Steam Ship Company of New Zealand[3]Übersetzt bedeutet der Name soviel wie Neuseeländische Union-Dampfschiffahrtsgesellschaft. war und die Tasmanische See befuhr, ein Wasserweg, den das Unternehmen mehr als ein Jahrhundert lang beherrscht hatte. Glocke und Tafel sollen an die Männer und Frauen erinnern, deren Zahl in die Tausende geht und die im Laufe der 125jährigen Geschichte der Union Steam Ship Company als Neuseelands wichtigster Schiffahrtsgesellschaft in den Häfen Australiens, Südostasiens, Nordamerikas, der pazifischen Inseln und nicht zuletzt Neuseelands selbst ihren Dienst als deren Angestellte versahen. Als man die Union Rotoiti im Jahre 2006 schließlich außer Dienst stellte und als Schrott verkaufte, kam die Glocke zwei Jahre später hierher. Aus welchem genauen Grund man sich dafür entschied, dies kleine Erinnerungsmal hier in der Holy Trinity Cathedral anzubringen, verrät die Tafel nicht. So bleibt mir nur zu vermuten, daß man die Kirche als öffentlichen Ort, an dem sich naturgemäß die Menschen versammeln, auswählte, um das Gedenken bestmöglich zu befördern.

Nun also wieder im Kirchenschiff und an dessen Haupteingang angelangt, ist unser Rundgang durch die Kathedrale beendet. Nach dem, was ich in dessen Verlauf alles zu sehen bekommen habe, bin ich mehr als gern bereit, mein bisheriges Urteil über moderne Kirchenbauten zu modifizieren und anhand dieses herausragenden Beispiels eines zeitgenössischen Gotteshauses festzustellen, daß auch sie durchaus über Charakter und Atmosphäre verfügen, zugleich überwältigen und vertraut wirken, beeindrucken und Geborgenheit ausstrahlen können, vorausgesetzt, man ist bereit, sich auf das Erlebnis, sie zu besuchen, offen einzulassen.

Wie man angesichts der Diskrepanz zwischen dem Alter der anglikanischen Kirche insbesondere in Neuseeland und dem der Holy Trinity Cathedral vermuten kann, ist diese nicht die erste anglikanische Kathedrale in Auckland. Tatsächlich reichen die Anfänge einer solchen Kirche bis ins Jahr 1843 zurück, als George Augustus Selwyn, der zwei Jahre zuvor in Neuseeland angekommen war, um hier die anglikanische Kirche aufzubauen, das Grundstück erwarb, auf dem die Kathedrale heute steht. Zur damaligen Zeit waren von hier aus, heißt es, noch der Waitematā Harbour und der pazifische Ozean zu sehen. Es fällt mir schwer, mir das angesichts dessen, was sich meinen Augen auf dem Vorplatz der Kathedrale geboten hatte, vorzustellen. Zu jener Zeit war der Sitz von Bischof Selwyn noch die St. Paul’s Church am Emily Place im heutigen Central Business District Aucklands, die bereits 1841, im ersten Jahr nach der Gründung Aucklands, errichtet worden war.

Hier im heutigen Ortsteil Parnell entstand 1849 die zweite anglikanische Kirche Aucklands, die als St. Barnabas Church vordergründig den Māori vorbehalten war. Das von Selwyn bereits 1843 erworbene Grundstück verwendete er, um 1860 die St. Mary’s Church bauen zu lassen und damit die Pfarrei St. Mary zu begründen. Wie es heißt, waren es die anglikanischen Einwohner von Parnell mehr als leid, stets drei Kilometer über diverse Viehweiden laufen zu müssen, um ihre Kirche zu erreichen, so daß der Ruf nach einer eigenen Kirche lauter und lauter wurde, bis er schließlich auf diese Weise erhört wurde. Mit der Fertigstellung der St. Mary’s Church wurde die kleine St. Barnabas Church aufgegeben und später abgerissen. In den folgenden Jahren wuchs die Stadt außerordentlich schnell, so daß ihre Bevölkerung stetig zunahm. Als in Neuseeland schließlich die anglikanischen Diözesen etabliert wurden, entschloß man sich, die inzwischen viel zu kleine St. Mary’s Church abzulösen und auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Parnell Road ein neues, größeres Gotteshaus zu errichten. 1886 legte man den Grundstein und begann mit dem Bau. Und weil dieser auch die neue Bischofskirche werden sollte, taufte man ihn auf den Namen St. Mary’s Cathedral Church – Sankt-Mary-Kathedrale. Ihr Vorgängerbau, von dem man nun der besseren Unterscheidung wegen nur noch als Old St. Mary’s sprach, wurde abgerissen.

Genau wie ihre spätere Nachfolgerin wurde die St. Mary’s Cathedral Church noch vor ihrer endgültigen Fertigstellung in Betrieb genommen. Bereits 1888 weihte man den ersten Teil der Kirche, der lediglich aus dem Altarraum und drei Jochs des Kirchenschiffs bestand, ein. Es dauerte noch bis 1897, daß man das Schiff der St. Mary’s Cathedral Church um vier weitere Jochs erweiterte und sie schließlich fertigstellte. Nach ihrer Weihe ein Jahr später blieb sie Aucklands wichtigste anglikanische Kirche, bis man im Jahr 1973 die zunächst nur aus ihrem Chor bestehende Holy Trinity Cathedral weihte und so die alte St. Mary’s Cathedral Church als Sitz des Bischofs von Auckland ablöste. Folgerichtig verlor die alte Kirche die Bezeichnung als Kathedrale und heißt seitdem wie einst ihre Vorgängerin nur noch St. Mary’s Church. Die Holy Trinity Cathedral hatte man genau an der Stelle errichtet, an der einst Old St. Mary’s gestanden hatte.

Weil wir vorhaben, uns nun auch die bedeutend ältere St. Mary’s Church anzusehen, begeben wir uns zurück zum Chor der Holy Trinity Cathedral, um diese durch das dort in der Westwand gelegene Seitenportal zu verlassen. Schließlich soll der Vorgängerbau der heutigen Kathedrale direkt an deren Westseite zu finden sein. So hatte uns unser bei der Vorbereitung auf unseren heutigen Ausflug konsultierter Reiseführer instruiert.

Moment, mag nun Mancher fragen, wie kann das denn sein? Wenn doch die St. Mary’s Cathedral Church einst auf der Old St. Mary’s gegenüberliegenden Seite der Parnell Road erbaut wurde, wie kann sie dann heute direkt neben der Holy Trinity Cathedral stehen, wo man diese doch am einstigen Standort von Old St. Mary’s errichtet hatte? Nun, das ist eine ganz eigene Geschichte, auf die ich noch zurückkommen werde. Doch im Moment ist dafür keine Zeit, denn wir stehen inzwischen vor dem Seiteneingang der Holy Trinity Cathedral und im selben Moment tatsächlich unmittelbar vor dem Hauptportal der St. Mary’s Church.

Relief an der Holy Trinity Cathedral in Auckland
Das große Relief der Dreifaltigkeit über dem westlichen Seiteneingang der Holy Trinity Cathedral. Moderne Kunst kann auch schön sein.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Bevor ich mich diesem jedoch zuwende, schaue ich noch einmal zurück zur Holy Trinity Cathedral und dem Seitenportal, aus dem wir gerade getreten sind. Über diesem, das als kleiner Vorbau aus dem Chorgebäude der Kathedrale herausragt, strebt eine lotrechte Ziegelwand himmelan. Während in seinem Inneren die Stilelemente der Neugotik in reicher Vielfalt das abwechslungsreiche Erscheinungsbild bestimmen und den Eindruck verschwenderischen Gestaltungswillens erwecken, wirkt der hohe Bau, der den Chor beherbergt, mit seiner roten Fassade aus Backstein von außen viel nüchterner. Flüchtig betrachtet erinnert er eher an ein hohes Fabrikgebäude als an eine Kirche. Erst als ich meinen Blick von der vollkommen fensterlosen Wand des Querbaus, in dem sich der Seiteneingang befindet, nach rechts zum Längsgebäude des Chores schweifen lasse, mildern dessen hohe gotische Fenster diesen Eindruck ein wenig ab. Möglicherweise ist es den Erbauern der Kathedrale ähnlich gegangen wie mir. Während das gegenüberliegende Ende des Querbaus, wie ich aus dem Inneren weiß, von einem riesigen Buntglasfenster geziert wird, haben offenbar auch sie auf dieser Seite ein solches schmerzlich vermißt. Um dem abzuhelfen, wurde in der Mitte über dem Seitenportal ein riesiges weißes Reliefbild angebracht, das einen ans Kreuz genagelten Jesus Christus zeigt. Die Wunden an den Händen und Füßen sind selbst von hier unten deutlich zu erkennen. Anstelle des Kreuzes ist jedoch ein übernatürliches, göttliches Wesen hinter ihm zu sehen, das ihn, der offenbar gerade aufsteigt, mit offenen Händen sanft empfängt und umfaßt. Die den Heiligen Geist symbolisierende Taube mit den ausgebreiteten Flügeln, die zu Füßen des Heilands zu sehen ist, vervollständigt diese weitere Darstellung der Heiligen Dreieinigkeit, der die Kathedrale geweiht ist. Wer dieses schöne steinerne Bildnis geschaffen hat, ist mir leider unbekannt geblieben.

Zu diesem am Ende unseres Besuchs in der Kathedrale etwas nüchternen Eindruck setzt der Anblick der alten St. Mary’s Church, der ich mich nun zuwende, einen deutlichen Kontrapunkt. Vor mir sehe ich eine vollständig aus Holz bestehende Fassade, die nach oben hin durch ein – in Relation zum gesamten Kirchenbau hohes  – Spitzdach abgeschlossen wird. Tatsächlich erreicht das Gotteshaus keine allzu große Höhe. Nach heutigen Maßstäben liegt der Scheitelpunkt des Daches in etwa auf dem Niveau eines dreistöckigen Wohnhauses. Im Zentrum der Vorderfront ist eine Reihe aus vier jeweils zweiteiligen Buntglasfenstern zu sehen, über der sich im Giebelbereich des Daches ein fünftes gleichartiges Fenster befindet, das jedoch aus drei Teilen besteht. Dort, wo sich zu den Außenseiten hin das Dach etwas abflacht, besitzt die Frontfassade noch zwei weitere, ebenfalls zweiteilige Fenster, die allerdings eine etwas größere Länge aufweisen als die anderen. Allen diesen Lichtöffnungen gemein ist ihre Einfassung in Fensterrahmen, die durch die Spitzbögen, in die sie nach oben hin auslaufen, die Stilelemente der Neugotik erkennen lassen, deren sich die Gestaltung des gesamten Kirchenbaus bedient.

Die St. Mary's Church in Auckland
Die St. Mary’s Church neben der Holy Trinity Cathedral – ein Schmuckstück ganz aus Holz.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Auf dem Scheitelpunkt des Daches ist ein schmiedeeisernes Kreuz zu sehen, in das nach der Art der keltischen Kreuze ein Kreis eingearbeitet ist. In der Mitte der Frontseite befindet sich ein kleiner, ebenfalls hölzerner Vorbau mit schrägem Dach und dreiteiligem, mittig positioniertem Fenster, das bis in einen kleinen spitzen Giebel hineinreicht. Ist die Fassade bis hierher völlig symmetrisch gestaltet, so wird eben diese Symmetrie durch den Eingang der kleinen Kirche aufgehoben. Dieser befindet sich in dem Vorbau rechts neben dessen Fenster, ohne daß es auf der anderen Seite ein entsprechendes Pendant gäbe. Eben diesem Eingang streben wir nun entgegen.

An der zweiflügeligen Tür fällt mir zunächst auf, daß der in das matte Glas eingearbeitete Namenszug der Kirche nicht St. Mary’s Church, sondern St. Mary’s in Holy Trinity Cathedral lautet. Das erscheint mir zu diesem Zeitpunkt etwas rätselhaft. Offenbar, geht es mir durch den Kopf, betrachtet man die Kirche mittlerweile als Teil der Holy Trinity Cathedral. Als ich später jedoch ein wenig über ihre Geschichte nachlese, stoße ich hin und wieder auf die Bezeichnung St. Mary’s-in-Holy Trinity. Das läßt mich meine Annahme schließlich verwerfen und stattdessen vermuten, daß eher dieser Name mit dem Schriftzug auf der Scheibe gemeint ist und der Zusatz Cathedral darauf verweist, daß diese kleine Kirche in früherer Zeit tatsächlich einmal eine Kathedrale war.

Als ich kurz darauf den Eingangsbereich verlasse und in dem Schiff der St. Mary’s Church stehe, bin ich für einen Augenblick ähnlich sprach- und atemlos, wie ich es zuvor bereits in der Holy Trinity Cathedral gewesen war. Tatsächlich, so stelle ich fest, besteht nicht nur die Fassade aus Holz, sondern jeder einzelne Zoll des gesamten Kirchengebäudes, vom Boden bis zum Dach! Und während an den Seiten des Schiffes Pfeiler, die durch spitz zulaufende Bögen miteinander verbunden sind, die Illusion zweier Seitenschiffe erzeugen, schaue ich über mir direkt auf die Unterseite des langen Daches, in dem eine filigrane Konstruktion aus schrägen Balken in unterschiedlichen Neigungswinkeln zu sehen ist, die zwar nicht den Eindruck eines Gewölbes schaffen kann, aber dennoch das Bild einer majestätischen hohen Halle vermittelt. Interessant geformte Deckenleuchter mit fünf abwärts und vier aufwärts führenden Streben, an deren Ende jeweils eine Lampe sitzt, sorgen für ausreichende Beleuchtung, die gemeinsam mit dem Tageslicht, das durch die an allen Seiten plazierten Buntglasfenster einfällt und in bunten Farben erstrahlt, in dem großen langgestreckten Raum einen warmen hellen Schein hervorruft. Weil überdies sämtliche sichtbaren Flächen aus Holz bestehen, schafft dies unmittelbar eine anheimelnde Atmosphäre, in der ich mich sofort wohlfühle.

In der St. Mary's Church in Auckland
Ein Ort zum Wohlfühlen – das Kirchenschiff der hölzernen St. Mary’s Church.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Das ganze Kirchenschiff ist mit mehreren Reihen hölzerner Kirchenbänke angefüllt, zwischen denen drei Gänge nach vorn zum Altarraum im Chor des Gotteshauses führen. Es ist fast schon selbstverständlich, daß auch diese Bänke natürlich aus Holz bestehen. Daß es sich bei ihnen wie bei dem gesamten Gebäude um das Holz des einheimischen Kauri-Baumes handelt, wundert mich nicht. Die einzige Ausnahme bilden, wie ich später erfahre, die vorderen und hinteren Kirchenbänke sowie die Kanzel. Diese bestehen aus dem Holz der Stieleiche. Es wird gesagt, daß einige Teile davon noch aus der früheren Old St. Mary’s Church  stammen sollen.

Der Architekt dieses beeindruckenden hölzernen Baus war kein Geringerer als Benjamin Mountfort, einer von Neuseelands bedeutendsten Architekten des 19. Jahrhunderts. Hatte man ursprünglich vorgehabt, eine steinerne Kirche zu errichten, wofür Mountfort bereits einen Entwurf vorgelegt hatte, mußte man diesen Plan alsbald aufgeben, weil sich die damit verbundenen Kosten als deutlich zu hoch erwiesen. So blieb Mountfort nichts anderes übrig, als mit dem aufgrund seiner geringeren Haltbarkeit und begrenzteren Gestaltungsmöglichkeiten ungeliebten Baustoff Holz vorliebzunehmen – ein Umstand, den er, sieht man sich das Ergebnis an, bei der Überarbeitung seiner Pläne weitestgehend ignoriert zu haben scheint. Nicht nur, daß die St. Mary’s Church architektonische Merkmale aufweist, die man normalerweise eher in den großen mittelalterlichen Kathedralen des europäischen Kontinents erwarten würde. Nein, sie ist auch für eine Holzkirche nahezu riesig. Achthundert Quadratmeter Grundfläche und eine Länge von mehr als fünfzig Metern machen sie, wie man heute glaubt, zur längsten hölzernen gotischen Kirche der Welt! Auch wenn sie, wenn man es genau nimmt, der Neugotik zuzuordnen ist.

Inzwischen bin ich im Altarraum der St. Mary’s Church angekommen. Im Gegensatz zu dem der Holy Trinity Cathedral ist der Chor nur eine vergleichsweise kurze Erweiterung des Kirchenschiffs, die an ihren Seiten lediglich zwei Fensterbögen besitzt, bevor sie in einer kleinen Apsis endet. Dennoch ist auch hier der Chorbereich gegenüber dem Hauptteil des Raumes erhöht. Vier flache Stufen führen vom Kirchenschiff hinauf. Nachdem man die auch hier links und rechts den Chor flankierenden Kirchenbänke passiert hat, gelangt man über drei weitere Stufen zum schlichten, auf vier Stützen ruhenden, vollständig aus Holz bestehenden Altartisch in der Apsis, die vom übrigen Chorraum durch ein niedriges Geländer getrennt ist, in dessen Mitte ebenso wie in der Kathedrale nebenan ein Durchgang den Weg zum Altar freiläßt. Auf diesem hat man ein goldenes Kruzifix und zwei Kerzenhalter plaziert. Ein Retabel oder jede andere Art von Altarrahmen sucht man hier hingegen vergeblich. Die gewölbte Rückwand der Apsis wird stattdessen von fünf großen Buntglasfenstern geziert, deren mittlere ich mir nun eingehender ansehe.

Das größte dieser Fenster befindet sich direkt über dem Altartisch in der Mitte der Apsiswand. Die Darstellungen in seinen drei Säulen bilden ein Denkmal für William Garden Cowie, der von 1869 bis 1902 Bischof von Auckland war und 1895 Primas von Neuseeland wurde. Deutlich wird das durch die Darstellung seines Wappens im Fuß des 1910, acht Jahre nach seinem Tod, hier eingebauten Fensters. In der mittleren Säule plaziert, wird es links vom Wappen der Diözese Auckland und rechts von dem der Familie Cowie flankiert. Ich kann gerade noch erkennen, daß die drei Teile des Fensters darüber ganz offensichtlich dreimal dieselbe Person darstellen und daß es sich dabei um Jesus Christus handelt, über die Bedeutung der verschiedenen Rollen, die ihm dabei zugedacht sind, muß ich allerdings später nachlesen. Die mit den Worten „Alle Dinge sind untergebracht“ verbundene Abbildung in der Mitte präsentiert den Heiland als König, während die anderen beiden ihn als Propheten – „Ein Lehrer kommt von Gott“ – und als Priester – „Er lebt, der Fürbitte tut“ – zeigen.

Buntglasfenster der St. Mary's Church in Auckland
Die großen Buntglasfenster in der Apsis der St. Mary’s Church sind eine Sehenswürdigkeit für sich – in der Mitte das Denkmal für William Garden Cowie, links und rechts daneben die Evangelistenfenster.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Die Fenster links und rechts daneben sind die sogenannten Evangelistenfenster, die die Autoren der vier biblischen Evangelien in der christlichen Bibel zeigen: Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Sie stehen als Sinnbild für die ersten Evangelisten Neuseelands und des Pazifikraums: der mir bereits durch die Marsden-Kapelle bekannte Samuel Marsden, desweiteren der erste Bischof Aucklands, George Augustus Selwyn, und Bischof John Coleridge Patteson, der als anglikanischer Bischof und Missionar auf den Südseeinseln wirkte und ein hervorragender Sprachwissenschaftler war. Und schließlich ist da noch die frühe Church Missionary Society, die sich der Missionierung der Māori-Völker widmete.

Am Anfang des Chorraumes, der übrigens genau wie das gesamte Kirchenschiff mit einem roten, samtenen Teppich ausgelegt ist, befindet sich linkerhand die Kanzel, die komplett ohne Schalldeckel auskommt, während rechts ein Lesepult aus Messing in der Form eines Adlers steht. Diese sogenannten Adlerpulte dienen in Kirchen vorwiegend liturgischen Zwecken. Meist kommen sie beim Verlesen von Epistel und Evangelium zum Einsatz. In der frühen christlichen Kirche war der Adler stets ein Symbol dafür, Gottes Wort durch das Evangelium in alle Ecken der Welt zu tragen. Das Pult hier in der St. Mary’s Church ist eine Stiftung aus dem Jahre 1902.

Auf meinem Weg zurück durch das Kirchenschiff fallen mir zwei der zahlreichen, jeweils zweiteiligen Buntglasfenster aufgrund der am ihrem Fuß zu lesenden Widmungen besonders ins Auge. Die Inschrift im ersten lautet[4]Der originale Text lautet hier: „In loving memory of Eliza June Cowie. Born October 6th 1835, died August 18th 1902. Erected by some of her women friends.“:

In liebevoller Erinnerung an Eliza June Cowie.
Geboren am 6. Oktober 1835, gestorben am 18. August 1902.
Errichtet von einigen ihrer Freundinnen.

Eliza June Cowie war, wie ich später erfahre, eine neuseeländische Kirchen- und Gemeindearbeiterin. Ihr Familienname stimmt nicht zufällig mit dem des Bischofs William Garden Cowie überein, war sie doch seine Ehefrau.

Buntglasfenster der St. Mary's Church in Auckland
Das Fenster für Eliza June Cowie im Kirchenschiff der St. Mary’s Church.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Das zweite Fenster erinnert an Sarah Harriet Selwyn, die Ehefrau von Bischof George Augustus Selwyn. Ihr humanitärer Idealismus und ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Volk der Māori ließen sie zu einer Kritikerin der britischen und neuseeländischen Politik werden, die schließlich sogar gegen die britische Kolonialpolitik der Landkonfiszierung und der militärischen Eroberungen gegen die Māori in Neuseeland protestierte. Die Inschrift auf ihrem Fenster besagt[5]Der Originaltext lautet: „In loving memory of Sarah Harriet Selwyn, wife of the Bishop of New Zealand and of Lichfield. Born Sept. 2 1809. At rest Palm Sunday 1907. Erected by Celia … [Weiterlesen]:

In liebevoller Erinnerung an Sarah Harriet Selwyn, Frau des
Bischofs von Neuseeland und von Lichfield. Geboren am 2. September 1809.
Zur letzten Ruhe gelangt am Palmsonntag 1907. Errichtet von Celia Kinder.

Buntglasfenster der St. Mary's Church in Auckland
Das Fenster für Sarah Harriet Selwyn im Kirchenschiff der St. Mary’s Church.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Sind bereits diese beiden Fenster bedeutenden Frauen der anglikanischen Gemeinde Parnells beziehungsweise Aucklands gewidmet, so wird diese Würdigung von jenen in der Frontseite der Kirche nicht nur aufgegriffen, sondern noch erweitert. Diese Fenster, die mir bereits von außen aufgefallen waren, werden als die sogenannten Women’s Windows bezeichnet – die Frauenfenster. Verglichen mit den anderen Buntglas-Kunstwerken der Kirche, sind sie viel jünger. Gestaltet von Claudia Pond Eyley, einer neuseeländischen Malerin und Filmemacherin, sind sie sowohl der Jungfrau Maria als auch bedeutenden Frauen der neuseeländischen Geschichte gewidmet. Die drei Säulen des einzelnen oberen Fensters zeigen Szenen rund um die Jungfrau Maria. Links ist die Verkündigung zu sehen, in der Mitte Maria als Mutter und rechts die Beweinung und Kreuzigung ihres Sohnes, Jesus Christus. Am Sockel haben alle drei dieser Fenster das Motiv der Lilie aufzuweisen, die ein Symbol für die Jungfrau Maria ist und besonders mit der Verkündigung in Verbindung gebracht wird.

Die vier jeweils zweiteiligen Fenster darunter erinnern an Frauen Neuseelands und insbesondere Aucklands, die sich durch ihren Einsatz für soziale Gerechtigkeit hervorgetan haben, angefangen bei jenen, die sich vom Beginn der Inbesitznahme Neuseelands durch die Briten in Mission und Gottesdienst betätigt haben. Neben den mir bereits bekannten Sarah Harriet Selwyn und Eliza June Cowie ist hier noch Mary Ann Martin zu nennen, die Ehefrau William Martins, des ersten Obersten Richters Neuseelands, die ein Krankenhaus und eine Krankenstation für Māori begründete und sich für die Ausbildung und Missionierung der Māori einsetzte. Auch der Frauen der Suffragetten-Bewegung wird gedacht, die Neuseeland zum ersten Land der Welt machten, in dem Frauen das Wahlrecht erhielten. Darüberhinaus erinnern die Frauenfenster an die Melanesische Mission, eine Agentur der anglikanischen Kirche, die sich um die Missionierung auf den Inseln Melanesiens kümmerte, an den Hikoi of Hope – den Spaziergang der Hoffnung – nach Wellington im Jahr 1999, an dem, organisiert von der anglikanischen Kirche, 40.000 Menschen in ganz Neuseeland teilnahmen, die auf verschiedenen Routen in die Hauptstadt wanderten, um gegen die Politik zu protestieren, die die Regierung gegenüber den Armen verfolgte. Und auch der Queen Victoria School for Māori Girls in Parnell und den im 20. Jahrhundert tätigen Missionsschwestern Kathleen Hall und Eunice Preece gedenken die Darstellungen auf den Frauenfenstern. Durch die Art ihrer Gestaltung stellen sie eine direkte künstlerische Beziehung zur benachbarten Holy Trinity Cathedral und deren Buntglasfenstern her.

Buntglasfenster der St. Mary's Church in Auckland
Die sogenannten Frauenfenster in der St. Mary’s Church sind in die Frontseite des Gotteshauses integriert.
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Als wir die Kirche schließlich wieder verlassen haben und auf ihrem Vorplatz stehen, schaue ich hinüber zur Parnell Road, die westlich von uns vorüberführt und auf deren anderer Straßenseite die St. Mary’s Church ursprünglich errichtet wurde. Daß sie heute hier neben der Holy Trinity Cathedral steht, war bereits vorgesehen, als noch die ersten, 1935 begonnenen Diskussionen über den Bau jener modernen Kathedrale geführt wurden, für den man den von Bischof Selwyn 1843 gewählten Standort vorgesehen hatte. Als die neue Kathedrale dann schließlich 1973 Gestalt angenommen und die St. Mary’s Church als Bischofssitz abgelöst hatte, brauchte man noch neun Jahre, um die Versetzung in Angriff zu nehmen. Dafür nahm man die hölzerne Kirche allerdings nicht etwa auseinander, um sie dann am neuen Standort originalgetreu wiederaufzubauen, sondern man entschied sich, den Begriff „Versetzung“ wörtlich zu nehmen. Dazu hob man das Gebäude von seinen Ziegelsteinfundamenten hydraulisch soweit an, daß sein niedrigster Teil etwa einen Meter über dem Straßenniveau zu liegen kam. Drei Monate brauchte man, um den Bau auf diese Weise für seine große Fahrt vorzubereiten. Am 6. März 1982 war es dann soweit. Die Polizei sperrte die Parnell Road für einen Tag, und als es Abend wurde, war die St. Mary’s Church über die Straße hinweg an ihren neuen Standort gewandert. Dabei hatte man sie jedoch nicht einfach nur verschoben, sondern auch noch um etwa neunzig Grad gedreht. Eine grandiose technische Meisterleistung! Ob Gottes Hilfe dafür in Anspruch genommen werden mußte, ist nicht überliefert.

Wir begeben uns nun wieder über den Vorplatz der Holy Trinity Cathedral zurück zur St. Stephens Avenue, wo uns die Ampel an der nahegelegenen Straßenkreuzung mit der Parnell Road eine Möglichkeit verspricht, diese zu überqueren, um auf der anderen Straßenseite eine sich als Panetteria bezeichnende Bäckerei aufzusuchen, wo wir unseren aufkommenden Hunger etwas besänftigen wollen. Doch bevor wir die Ampel erreichen, fällt mir auf der gegenüberliegenden Straßenseite der St. Stephens Avenue ein weiteres Gebäude ins Auge, das mir wie eine dritte Kirche erscheint. Ebenfalls ganz aus Holz und mit einem Spitzdach errichtet, besitzt es darüberhinaus auch noch einen Turm, dessen oktogonaler Grundriß auf den ersten Blick zu erkennen ist. Besonders hoch ist er aber gerade nicht. Auch wenn zwischen beiden eine Verbindung besteht, ist der Turm eigentlich kein Bestandteil des Gebäudes, sondern steht ein Stück davon abgesetzt neben dessen östlicher Schmalseite. Sein Sockel endet etwa in der Höhe des Dachfirsts des Hauses, allerdings besitzt er eine außerordentlich hohe Turmhaube, die fast noch einmal so lang wie der Sockel ist und an deren Spitze sich ein Kreuz befindet. An jeder der acht Seiten des Turmes befindet sich in einem kreisrunden Rahmen je ein Fenster, dessen vier Teile die Form eines Blütenblattes haben, so daß mir dafür unwillkürlich der Begriff Blumenfenster in den Sinn kommt. Das Gebäude selbst wirkt wie ein langgezogener eingeschossiger Saalbau mit Spitzdach. Seine Fenster sind strikt rechteckig, bestehen aber aus mehreren Fenstersäulen, wobei die kleineren drei, die größeren fünf dieser Säulen aufweisen. Ob man durch die Scheiben allerdings viel erkennen kann, möchte ich bezweifeln, sind sie doch mit einer Art Rautenmuster überzogen. An der Straßen- und an der für mich sichtbaren Schmalseite scheint es keinerlei Eingang zu geben, so daß ich vermute, daß das Gebäude zu einer Anlage mit Hof gehört, von dem aus man es betreten kann.

Einer im Vorgarten des Hauses aufgestellten weißen Tafel kann ich entnehmen, daß dieses Gebäude sich im Besitz der anglikanischen Kirche befindet und die Privatresidenz des Bischofs von Auckland ist. Also kein drittes Gotteshaus. Obwohl die äußere Erscheinung sicher nicht ganz zufällig gewählt wurde. Das Gebäude stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde für Bischof George Augustus Selwyn errichtet, der es ebenso wie seine Nachfolger bewohnte. Für eine Bischofsresidenz erscheint es mir ein wenig zu klein. Und so verwundert es mich nicht, daß ich dem Namen des Anwesens, welcher Bishopscourt Bischofshof – lautet, entnehmen kann, daß meine Vermutung tatsächlich richtig war und der Bau lediglich Teil einer größeren Anlage ist.

Bishopscourt in Parnell, Auckland
Bishopscourt – Neuseelands erste Bischofsresidenz.
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Die zeitlichen Angaben auf der Tafel erweisen sich leider als etwas ungenau, so daß ich nicht recht schlau daraus werde. Einerseits ist die Rede davon, daß das Haus im Jahre 1865 fertiggestellt wurde, andererseits wird gesagt, daß die von der Straße aus sichtbare Bibliothek 1863 erbaut worden sei. Da von der Straße aus nur ein einziges Haus des Anwesens zu sehen ist, ergibt sich meiner Ansicht nach daraus ein gewisser Widerspruch, den aufzulösen ich in diesem Augenblick nicht in der Lage bin.

Als ich später versuche, noch ein wenig mehr darüber herauszufinden, kann ich diesen Widerspruch zwar auch nicht auflösen, stoße aber noch auf eine Reihe weiterer interessanter Informationen. Zunächst ist da ein alternativer Name für die Bischofsresidenz: Selwyn Court. Nun, wenn sie für den ersten Bischof der Stadt errichtet wurde, so es nicht weiter verwunderlich, wenn man auch seinen Namen mit dem Anwesen verbindet. Der Architekt, so lese ich weiter, war Frederick Thatcher, der jedoch nicht nur Baumeister, sondern auch Geistlicher war und von dem die Entwürfe für viele der in dieser Zeit in Neuseeland errichteten Kirchen stammten. Das gesamte Anwesen entstand in den Jahren 1861 bis 1865 und war nicht einfach nur Selwyns Wohnsitz, sondern stellte die erste offizielle Bischofsresidenz im Land dar. Als solche mißt man ihm heute eine große historische Bedeutung bei.

Ursprünglich waren in dem an der Straße gelegenen Gebäude St. Barnabas, Selwyns Privatkapelle, und seine Bibliothek untergebracht. Die Kapelle darf dabei nicht mit der zweiten in Auckland errichteten anglikanischen Kirche gleichen Namens verwechselt werden, die zum Zeitpunkt der Entstehung von Bishopscourt schon nicht mehr in Verwendung war. Und auch über den Turm, von dem die Tafel lediglich erwähnt, daß auch er 1863 erbaut worden sei, erfahre ich noch etwas mehr. So heißt es unter anderem, daß die Ehefrau des Bischofs, Sarah Harriet Selwyn, von Freunden aus England ein Glockengeläut geschenkt bekommen habe, für das Thatcher den Glockenturm entwarf, der es beherbergen sollte. Weil aber die Glocken sich schließlich doch als zu groß erwiesen, um sie auf herkömmliche Art darin unterzubringen, indem man sie an seinem oberen Ende aufhängte, plazierte man sie stattdessen in dessen Sockel. Eine kleine Merkwürdigkeit, die jedoch von außen nicht wahrzunehmen ist.

Nachdem wir uns in der Bäckerei mit dem Namen Pandoro Panetteria etwas gestärkt haben – aus der Nähe erfahre ich auf dem Ladenschild, daß es sich um eine „authentische italienische Bäckerei“ handelt -, beschließen wir angesichts des fortschreitenden Nachmittags, keinen weiteren großen Tagesordnungspunkt mehr zu absolvieren, sondern stattdessen lediglich noch einen kleinen Spaziergang zu machen. Nach Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium und zwei Kirchenbesichtigungen in Folge erscheint es uns angemessen, den Tag so ausklingen zu lassen, wie wir ihn begonnen haben: mit einem Spaziergang durch eine von Aucklands grünen Oasen. Und welche wäre dafür besser geeignet als die nahegelegene Auckland Domain, in der wir bisher zwar das Auckland War Memorial Museum besucht, die wir ansonsten aber lediglich per Bus mehrfach durchquert hatten.

Und so überqueren wir ein weiteres Mal die Parnell Road, um uns an der nahegelegenen Haltestelle vom Auckland Explorer Bus einsammeln zu lassen. Eine kurze Fahrt später und nur eine Haltestelle weiter setzt er uns schließlich am Auckland War Memorial Museum ab, das wir aber diesmal nicht nur sprichwörtlich links liegen lassen, um uns direkt hinüber in die grünenden Anlagen der Auckland Domain zu begeben.

Da die an diesem Nachmittag verbleibende Zeit nicht mehr ausreicht, um den Park vollständig zu erkunden – wozu wir, wenn sie es denn täte, allerdings angesichts der bereits hinter uns liegenden Besichtigungstour auch nicht mehr so recht in der Lage wären -, wollen wir uns auf das nicht weit entfernte Zentrum des Parks beschränken. Dessen südwestlich des Museums gelegener und ebenfalls leicht erreichbarer Teil scheint uns nämlich für einen eingehenderen Besuch nicht besonders attraktiv zu sein, befinden sich doch dort, sieht man einmal von einigen weiter entfernten Bäumen ab, lediglich ausgedehnte Rasenflächen, die den darauf verteilten weißen Gestängen nach zu urteilen meist als Fuß- oder Footballplätze genutzt werden. Daß die kleine Straße, die uns von ihnen trennt, den Namen Football Road trägt, ist somit sicher kein Zufall.

Von der Haltestelle gehen wir zunächst am Museum entlang in Richtung der großen Gedenkstätte auf dessen Vorplatz. Als wir diese erreicht haben, wenden wir uns diesmal jedoch nach links und folgen der Museum Circuit genannten Straße, bis diese in eine weitere, als The Crescent bezeichnete Verkehrsader einmündet, über die wir tags zuvor mit der blauen Linie des Auckland Explorers den Park in Richtung Mount Eden verlassen hatten. Diesmal überqueren wir die Straße und spazieren alsbald unter hohen Bäumen in den zentralen Bereich der Auckland Domain hinein.

Wie so vieles in der Stadt liegt auch die Auckland Domain auf einem erloschenen Vulkan. In diesem Fall ist es der Pukekawa, der einer der ältesten einst feuerspeienden Berge im Auckland Volcanic Field ist. Er befindet sich dort, wo wir zuvor die Fußballfelder gesehen hatten. Daß hier einst eine direkte Verbindung zur glühenden Unterwelt bestand, die ihre Erzeugnisse auf direktem Wege an die Oberfläche schickte, ist heute nicht mehr zu bemerken, denn der Krater des Vulkans ist lange verschüttet. Der ihn umgebende Tuffring, in dem sich ein Schlackenkegel befindet, wurde von den Māori als einer der besten Siedlungsplätze auf dem Isthmus von Auckland angesehen, so daß sie hier frühzeitig eine solche Siedlung anlegten.

Kauribaum im Park der Auckland Domain
Wie ein Garten des Teufels sieht die Auckland Domain eigentlich nicht aus. Und doch wandert man hier auf einem alten Vulkan herum.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Nachdem die Engländer das Land von den Māori erworben hatten, wurde es bereits in den 1840er Jahren für die öffentliche Nutzung reserviert. Niemand durfte es bebauen. Die Quellen, die es hier gab, machte man für die Versorgung der Stadt mit Wasser nutzbar, und bereits damals entstand hier ein Sportplatz, auf dem man vorrangig Cricket spielte. Die 1867 gegründete Auckland Acclimatisation Society, die es sich wie ihre Pendants in anderen Städten Neuseelands zur Aufgabe gemacht hatte, neue Arten von Pflanzen und Tieren anzusiedeln, die vorher auf den Inseln nicht heimisch waren, legte hier Gärten an, aus denen sich später der Botanische Garten der Stadt entwickelte, der sich allerdings heute weit im Süden der Stadt befindet. Der Auckland Domain verhalfen diese Bemühungen jedoch zum Erscheinungsbild eines schönen Landschaftsparks, in dem heimische und in Neuseeland normalerweise nicht beheimatete Pflanzenarten miteinander koexistieren. Mit diesen frühen Anfängen ist die Auckland Domain, für die mir aufgrund ihrer direkten Lage auf dem Vulkan unwillkürlich die Bezeichnung Teufels Garten in den Sinn kommt, heute der älteste öffentliche Park der Stadt.

In der Zeit seitdem gab es immer wieder Versuche, die Auckland Domain anderen Zwecken zuzuführen. Bereits in den 1850er Jahren verfolgte der damalige Generalgouverneur Neuseelands Thomas Robert Gore-Brown die Idee, hier ein neues Government House errichten zu lassen, da ihm seine bisherige Residenz hinsichtlich Lage und Stil nicht so recht gefallen wollte. Seinen Vorstellungen entsprach eher ein steinerner Bau im Stil eines Schlosses, eingebettet in einen Landschaftspark, der dann allerdings wohl nicht mehr öffentlich zugänglich sein sollte. Vorbild für seine Ideen dürfte das Government House in Sydney gewesen sein, das alle diese Eigenschaften besitzt. Lediglich dem Premierminister jener Zeit, Frederick Weld, ist es wohl zu verdanken, daß die Auckland Domain der Öffentlichkeit vorbehalten blieb. Er weigerte sich beharrlich, staatliche Mittel für Gore-Browns Vorhaben freizugeben, so daß dieser von dessen Umsetzung absehen mußte.

Daß hier schon seit langem Pflanzen gedeihen, die ursprünglich gar nicht in Neuseeland heimisch waren, wird uns durch eigenen Augenschein bewußt, als wir kurz nach Betreten der Parkanlagen an einem großen Magnolienbaum vorüberkommen. Dessen Zweige reichen so weit herab, da wir mühelos einige der üppigen weißen Blüten aus allernächster Nähe betrachten können. Wie wunderschöne große Knospen, die sich ganz langsam öffnen, um Eingeweihten ein wie auch immer geartetes, in ihrem Inneren verborgenes Geheimnis zu offenbaren, sitzen sie an den Spitzen der Zweige, umgeben von sattgrünen, kräftigen Blättern. Ein wunderschöner Anblick.

Während unseres Spaziergangs durch die Anlage fühlen wir uns eher in einen Garten versetzt als in einen Park, so sorgsam wird hier alles gehegt und gepflegt. Auf befestigten Wegen mit Einfassungen in hervorragendem Zustand wandern wir an Arealen sauber gestutzter Rasenflächen vorüber, hinter denen kleine, hohe und zum Teil auch riesige Bäume der verschiedensten Arten den Blick begrenzen oder plötzlich und unvermittelt freigeben, so daß man neugierig versucht, dort hinüber zu laufen, um einfach mal zu sehen, was dort wohl ist. So gelangen wir schließlich zu einem großen Rondell, das ebenfalls von sattgrünem Rasen bedeckt ist und über das üppig in allen nur denkbaren Farben blühende Blumenrabatten verteilt sind. Die größte befindet sich in seinem Zentrum und ist zusätzlich mit kleinen Bäumchen bestanden, die ebenfalls in Blüte stehen. Leider kann ich vom Rand aus nicht erkennen, was das für Bäumchen sind, doch widerstrebt es mir angesichts der wunderschönen Anlage, die mit solch außerordentlicher Akkuratesse gestaltet und sicher viel Mühe so wunderbar gepflegt wird, einfach auf den Rasen zu treten und den respektlosen Rasenlatscher zu geben, nur um mal zu sehen, was da in der Mitte blüht. Lieber respektiere ich die viele Arbeit, die hier mit so großem Erfolg geleistet wird, und beschränke mich darauf, das Ergebnis angemessen zu bewundern.

Im Park der Auckland Domain
Das Rondell im Zentrum der Auckland Domain. Eher ein Garten Eden als der des Teufels.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Auf der anderen Seite des Rondells bemerke ich im Schatten hoher Bäume eine Skulpturengruppe. Gemächlich umrunden wir den großen Kreis und gelangen schließlich zu einem flachen Becken mit unregelmäßig geschwungener Einfassung, in dem sich allerdings kein Wasser befindet, wodurch es etwas trist aussieht. Die aus drei Statuen bestehende Gruppe steht unmittelbar am gegenüberliegenden Rand dieses Beckens, das normalerweise, wenn es denn Wasser enthält, ein kleiner Ententeich ist. Die mittlere Skulptur zeigt einen jungen Mann, der, vom Betrachter seitlich ab- und der links neben ihm stehenden Figur zugewandt, den linken Arm ausgestreckt, den rechten erhoben, einen weiten, bodenlangen Mantel trägt, der jedoch geöffnet ist, so daß die Seitenpartie des muskulösen Körpers zu sehen ist. Die Figur, der er sich zuwendet, ist eine nach vorn blickende Frauengestalt in einem Kleid, das bis zum Boden reicht und dessen oberer Rand vorn spitz zuläuft. Auch sie trägt einen langen Mantel und hat die Hände erhoben, wobei sie in ihrer linken Hand etwas hält, das für mich wie eine Schale aussieht. Die weibliche Figur zur Rechten des Mannes ist ähnlich gekleidet wie die andere. In den Händen hält sie ein riesiges Füllhorn, das sie dem jungen Mann offenbar überreichen will, zu welchem Zweck sie sich ihm vollständig zugewandt hat.

Diese drei Skulpturen stehen nicht zufällig nebeneinander, sondern bilden, wie an der gemeinsamen, sie miteinander verbindenden Standfläche zu erkennen ist, eine zusammengehörige Gruppe, die auf einem langen Sockel steht, der mit sechs steinernen Frontplatten verkleidet ist. Eine kleine Metalltafel, die in den Rasenstreifen zwischen Weg und Bassin eingelassen ist, gibt Auskunft über die Bedeutung des Kunstwerks[6]Im Original ist dort zu lesen: „This group commemorates the first 100 years of the history of the city of Auckland. The centre figure symbolises Auckland finding its strength, and the figure on … [Weiterlesen]:

Diese Gruppe erinnert an die ersten 100 Jahre der Geschichte der Stadt Auckland. Die Figur in der Mitte symbolisiert, daß Auckland seine Stärke gefunden hat, und die Figur rechts ist die Weisheit, die ein Lorbeerblatt präsentiert. Auf der linken Seite bietet die Fruchtbarkeit des Bodens ein Füllhorn an.

Aha. Keine Schale, sondern ein Lorbeerblatt. Na gut. Wie schon an anderer Stelle, so fehlen auch hier leider jegliche Angaben zum Schöpfer dieser schönen Figurengruppe, die mir wieder einmal vor Augen führt, daß zeitgenössische Kunst durchaus nicht zwangsläufig erfordert, den Betrachter raten zu lassen, was der Gegenstand des Kunstwerks überhaupt sein soll beziehungsweise was der Künstler denn darstellen wollte. Überraschenderweise gelingt es mir aber auch erst nach intensiver Recherche, hierzu einige Informationen zusammenzutragen, die ich allerdings aus mehreren verschiedenen Bruchstücken zusammensetzen muß, so daß die nachfolgende Darstellung unter einem gewissen Vorbehalt steht.

"Tableau der drei Musen" in der Auckland Domain
Das „Tableau der drei Musen“ am Ententeich in der Auckland Domain. Erinnernd an die Einhundert-Jahr-Feier Aucklands, wird es auch „Auckland Centennial Memorial“ genannt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Der Schöpfer der Skulpturengruppe, die als Tableau der drei Musen bezeichnet wird, ist der Bildhauer William H. Wright. Doch bereits die Frage nach der Entstehungszeit bereitet einiges Kopfzerbrechen. Während meist stillschweigend davon ausgegangen wird, daß das Kunstwerk gemeinsam mit der gesamten Anlage entstanden ist, stoße ich bei meinen späteren Recherchen hin und wieder auf die Jahresangabe 1938/39. Da das Kunstwerk aber an das hundertjährige Bestehen Aucklands erinnert und deswegen manchmal auch als Auckland Centennial Memorial bezeichnet wird, erscheint es keineswegs abwegig, davon auszugehen, daß diese Angabe korrekt ist, denn das einhundertste Jubiläum der Stadt war im Jahre 1940. Daher nehme ich an, daß diese Skulpturengruppe von Wright tatsächlich für diesen Anlaß geschaffen und erst später hier aufgestellt wurde, als man die gesamte Anlage schuf.

Dies geschah nämlich, darüber herrscht einhellige Einigkeit, erst in den 1950er Jahren. Möglicherweise hatte man beschlossen, der Skulpturengruppe einen würdigen Rahmen zu geben, vielleicht gab es auch andere Gründe. Tatsache ist jedoch, daß 1954 ein entsprechender Auftrag ausgeschrieben wurde, für dessen Finanzierung man offenbar auf ein Vermächtnis des als Wohltäter Aucklands bekannten Alexander Richard Dickey Watson zurückgriff. Und hier wird es erneut etwas merkwürdig. Dieser war nämlich 1878 in Devonport geboren worden und bereits 1917 verstorben. Da er keine Nachkommen hatte, vermachte er sein beträchtliches Vermögen an insgesamt neun Einrichtungen, darunter Waisenhäuser, die Heilsarmee, Kunstgalerien sowie die Stadträte von Auckland und Devonport. Nun ist es durchaus möglich, daß man in Auckland auf dieses Vermächtnis zurückgriff, um die notwendigen finanziellen Mittel für die Erschaffung der Anlage zur Verfügung zu stellen. Daß dies allerdings knapp vierzig Jahre nach dem Tod des edlen Spenders der Fall sein sollte, erscheint zumindest mir etwas seltsam. Wie dem letztlich auch sei, heute wird die Anlage, die am 19. Oktober 1955 offiziell eingeweiht wurde, auch als Watson’s Bequest – Watsons Vermächtnis – bezeichnet. Ursprünglich war sie wohl für den uns bereits bekannten Albert Park vorgesehen, doch man entschied schließlich, daß die Auckland Domain der geeignetere Standort sei.

Die Entwürfe für das Areal lieferte Tibor Donner, der damals Architekt in der Stadtverwaltung von Auckland war. Ich empfinde es als einen schönen Zufall, daß ich am Ende dieses Tages erneut in einer Anlage stehe, die auf diesen Architekten zurückgeht, nachdem wir den Tag bereits in einer solchen begonnen haben – dem Michael Joseph Savage Memorial. Irgendwie verleiht das dem Tag, wenn auch nachträglich, einen gewissen Rahmen.

Und weil dieser Tag sich langsam dem Ende zuneigt und wir nun auch in den Beinen zu spüren beginnen, daß wir, verbunden mit all den schönen und lehrreichen Besichtigungen, doch ein ganz beträchtliches Laufprogramm absolviert haben, setzen wir unseren Weg um das Rondell schließlich fort und spazieren langsam wieder in Richtung Busstation, wobei wir uns durchaus darüber im klaren sind, daß es hier in der Auckland Domain noch einiges mehr gäbe, was anzuschauen sich lohnte. Da wäre die Pukekaroa-Palisade, die dort steht, wo Prinzessin Te Puea während der Hundertjahrfeier Aucklands im Jahr 1940 einen Tōtara-Baum pflanzte, um das Mana des Tainui-Volkes in diesem Gebiet und die Verbindung zwischen ihrer Familie und der Domain zu bekräftigen, hatte doch ihr Großvater zwischen 1847 und 1858 hier gelebt. Oder das von Frederick William Pomeroy geschaffene Denkmal für Robert Burns, den schottischen Nationaldichter, dessen Lied Auld Lang Syne heute wohl jeder kennt. Auch die Domain Wintergardens – die Wintergärten der Domain -, an denen wir am Vortag bereits vorübergefahren sind, wären sicher einen Besuch wert, ebenso wie die fast zwölf Meter hohe Kaitiaki-Statue von Fred Graham, die die Silhouette eines Falken im Flug zeigt. Und doch: genug ist genug, wie wir uns eingestehen müssen. Und so steigen wir am Auckland War Memorial Museum schließlich ein letztes Mal in den Auckland Explorer Bus ein, der uns wie stets in den vergangenen zwei Tagen sicher an unser Ziel bringt – die Haltestelle unter dem Sky Tower in der Victoria Street in Aucklands Central Business District.

Als wir dann nach einem reichlichen Abendbrot in einem der vielen guten Restaurants, die es hier gibt, auf dem Weg zurück in unser Hotel sind, entdecke ich am Mast einer Laterne ein Schild, dessen Aufhängung in der Berliner Innenstadt zwar ebenfalls durchaus angebracht wäre, aber leider kaum vorstellbar ist:

Gebiet mit Alkoholverbot
Kein Alkohol im Central Business District
24 Stunden am Tag,
sieben Tage die Woche

Alkoholverbotszone in der Innenstadt Aucklands
Hier kein Alkohol! Ach wie schön wäre es, wenn man es in Berlin genauso handhabte!
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Doch solange meine Heimatstadt von Bürgermeistern regiert wird, die meinen, es erhöhe die Sexiness der Stadt, wenn ihre Einwohner und Besucher nur die Möglichkeit hätten, mit Bierflaschen in der Hand auf den Straßen und in den Verkehrsmitteln unterwegs zu sein, weil das ja schließlich die persönliche Freiheit eines jeden ausmache, und solange Leute mit derartig kruden Ansichten wiedergewählt werden – von wem auch immer – , müssen wir wohl weiter in einer Stadt leben, die es in Bezug auf Sauberkeit, Ordnung und durchaus auch Eleganz nicht mit anderen Städten dieser Welt aufnehmen kann und stattdessen an vielen Ecken und Enden wie eine Müllecke daherkommt, in der rücksichtlose Zeitgenossen ihren Mitmenschen ungestört auf die Nerven gehen und in der Leute unterwegs sein können, die meinen, es sei Ausdruck persönlicher Freiheit und guter Kultur, wenn sie ihr Bier in Bus und Bahn und auf öffentlichen Plätzen trinken und dabei anderen Leuten infolge des Verlustes ihrer Hemmungen unangenehm gegenübertreten, während sie letztlich damit doch nur zeigen, daß sie längst jede Kontrolle über ihren Alkoholkonsum verloren haben, wenn es ihnen schon nicht mehr gelingt, damit zu warten, bis sie zu Hause oder in ihrer Lieblingskneipe angekommen sind.

Und so bin ich an diesem Abend doch ein bißchen froh, gerade hier in Auckland zu sein, wo ich eine kleine Auszeit von Berlin nehmen kann. Ob es nur meine Urlaubsstimmung ist, die mir den Blick für solche Dinge trübt, ob man es hier nicht nur beim Aufhängen von Schildern beläßt, sondern auch aktiv dafür sorgt, daß die entsprechenden Bestimmungen eingehalten werden, ob den Einwohnern hier die Stadt, in der sie leben, einfach wichtig ist und sie Derartiges von selbst unterlassen, ob die Menschen hier einfach eine andere Mentalität haben als bei uns zu Hause oder welcher Grund es auch immer sonst sein mag – obwohl wir nun schon ein paar Tage hier sind und auch durchaus abends nach Einbruch der Dunkelheit in den Straßen der Stadt unterwegs gewesen sind, haben wir Situationen und Leute wie die vorher beschriebenen bisher noch nicht angetroffen.

Sei es, wie es sei. Nach diesem interessanten, wunderschönen, lehrreichen und abwechslungsreichen Tag voller schöner Erlebnisse sinken wir schließlich müde in die Betten unseres Hotelzimmers. Zeit, sich zu erholen. Denn morgen haben wir wieder viel vor…

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Referenzen

Referenzen
1 Im Original ist dort zu lesen: „This water sculpture was presented to the citizens of Auckland by the Auckland Savings Bank to mark a milestone in the progress of the bank, which, from its establishment in 1847, has been closely linked with the growth of the city. April 1981.
2 Im Original lautet der Text:

The Tear
This carving was presented to thank the Cathedral for hosting the annual memorial service to commemorate the lives of organ transplant donors and their families. It also celebrates the new lives of organ transplant recipients and their families. The carving represents the tragic loss and sorrow  of a life taken too soon, but also the start of a new life for others. The carver is Brian Ravey of Tauranga who himself is a transplant recipient
.

3 Übersetzt bedeutet der Name soviel wie Neuseeländische Union-Dampfschiffahrtsgesellschaft.
4 Der originale Text lautet hier: „In loving memory of Eliza June Cowie. Born October 6th 1835, died August 18th 1902. Erected by some of her women friends.“
5 Der Originaltext lautet: „In loving memory of Sarah Harriet Selwyn, wife of the Bishop of New Zealand and of Lichfield. Born Sept. 2 1809. At rest Palm Sunday 1907. Erected by Celia Kinder.“
6 Im Original ist dort zu lesen: „This group commemorates the first 100 years of the history of the city of Auckland. The centre figure symbolises Auckland finding its strength, and the figure on the right is wisdom presenting a bay leaf. On the left fertility of the soil is offering a cornucopia.“

In den Gewässern des Südens

Dieser Beitrag ist Teil 8 von 10 der Beitragsserie "Reise nach Neuseeland & Singapur"
Wie ich in den Gewässern Neuseelands untertauchte, die Antarktis besuchte und wieder zurückkehrte

„Luftlinie?“

Diese Frage sollte man immer stellen, wenn man eine Entfernungsangabe vorgesetzt bekommt. Auch wenn sie nur aus einem einzigen Wort besteht, ist sie doch von einiger Bedeutsamkeit. Lautet die Antwort „Ja“, dann ist es immer eine gute Strategie, Vorsicht walten zu lassen. Besonders, wenn es um die Entfernung geht, die man gleich darauf zurückzulegen hat. Und erst recht, wenn dies unter Einsatz der eigenen Kräfte geschehen soll. Denn schnell kann aus einer harmlos scheinenden kurzen Entfernung, die nicht hinreichend als „Luftlinie“ gekennzeichnet worden ist, auf realen Wegen eine – gefühlt oder wirklich – endlos andauernde Anstrengung werden. Berlin und Frankfurt an der Oder sind eigentlich gar nicht so weit voneinander entfernt. Entlang der Luftlinie jedenfalls. Soll man allerdings vom einen in den anderen Ort auf ausschließlich natürlichen Wasserstraßen rudern, ist es durchaus noch einmal eine Überlegung wert, ob man sich darauf einlassen will oder es besser bleiben läßt.

Nun, einem solchen Extrem sind wir glücklicherweise nicht ausgesetzt. Wir müssen nicht rudern, und der Unterschied in der Entfernung, der auf unserem Weg von der Wendeschleife auf dem Bastion Point zu unserem nächsten Ziel zwischen der Luftlinie und dem Wandern auf den realen Straßen besteht, ist nicht sonderlich groß. Aus den rund 750 Metern, die es auf gerader Strecke wären, wird für uns lediglich ein Kilometer. Die Hapimana Street, wie die kleine Straße heißt, die uns hinunter zum Tamaki Drive bringt, windet sich von der Anhöhe das Steilufer hinab. Beziehen wir den Höhenunterschied mit ein, kommen zu dem Kilometer noch ein paar einzelne Meter hinzu, die wir zu Fuß zu gehen haben.

Zwischen grünen, welligen Rasenflächen wandern wir das Asphaltband entlang. Links begleitet uns eine Art Weidezaun, rechts ziehen in regelmäßigen Abständen Palmen an uns vorüber. Eine Rechtsbiegung, ein paar Büsche und Bäume linkerhand und schließlich wieder eine Kurve nach links, dann haben wir das Steilufer erreicht und unsere Straße führt nun schnurstracks hinab zum Tamaki Drive, den wir schon rechts unter uns sehen können. Dahinter dehnt sich die weite Wasserfläche des Hauraki-Golfs, der hier in den Waitematā Harbour übergeht.

Tiefer und tiefer senkt sich die Hapimana Street hinab, während an ihrer linken Seite der Hang höher und höher wird und schließlich in eine fast senkrechte Wand übergeht, die aber dennoch von dichtem Grün, bestehend aus Gräsern, Büschen und einigen Bäumen, bewachsen ist. Noch ein paar Meter, dann haben wir das Ende der Straße und ihre Einmündung in den Tamaki Drive erreicht. Weil dieser wegen des Steilufers nur an der rechten Straßenseite einen Fußweg besitzt, gilt es nun zunächst, ihn zu überqueren, was angesichts des durchaus nicht geringen Autoverkehrs und der völligen Abwesenheit eines Fußgängerübergangs gar nicht so einfach ist, nicht zuletzt auch deshalb, weil ich mich immer noch nicht so recht an den Linksverkehr gewöhnt habe.

Schließlich langen wir jedoch wohlbehalten auf der gegenüberliegenden Straßenseite an und wandern nun in Richtung der Innenstadt Aucklands weiter – links die Straße, rechts die Bucht. Auf deren gegenüberliegender Seite liegt Rangitoto Island nun schon leicht hinter uns, schräg rechts vor uns können wir den North Head und dahinter Devonport mit dem Mount Victoria ausmachen. Dort ist der Eingang zum Waitematā Harbour zu suchen.

Steilufer an der Okahu Bay in Auckland
Dort, wo der Tamaki Drive am Beginn der Okahu Bay eine scharfe Kurve nach links vollzieht, bildet das Steilufer des Bastion Points eine Ecke mit einem beinahe rechten Winkel. Hier ist es vom Ufer der Okahu Bay aus zu sehen. Besagte Ecke ist also am linken Bildrand zu finden.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als wir diesen erreichen, beschreibt der Tamaki Drive eine scharfe Kurve nach links. An deren Scheitelpunkt zweigt der lange weiße Steg des Okahu Bay Wharfs ab und führt in die Bucht hinaus und – wie es scheint – direkt auf den Mount Victoria zu. Links daneben erhebt sich ein aus gelben Ziegeln errichtetes und mit einem roten Dach versehenes Gebäude, an dessen dem Wasser zugewandter Seite sich ein Flachbau anschließt, der den Charakter einer überdachten und verglasten Veranda besitzt und, auf Pfählen errichtet, über dem Wasser schwebt. Daß er bei weitem nicht so viele Jahre auf dem Buckel hat wie das alte steinerne Gebäude, zu dem ganz offensichtlich noch ein weiterer, kleinerer und im selben Stil direkt unterhalb des Steilufers auf der gegenüberliegenden Seite der Fahrbahn errichteter Bau gehört, ist offensichtlich. Er wurde erst später hinzugesetzt, vermutlich, um aus dem alten Ziegelbau den Veranstaltungsort zu machen, der er heute ist, passend zu seinem Standort den Namen Okahu tragend, wie uns ein großes Schild an der Frontseite des Gebäudes stolz verkündet, und buchbar für Hochzeiten und jede Art von Feierlichkeiten, wenn man das nötige Kleingeld hat.

Da wir es nicht haben, allerdings auch gerade nichts zu feiern gedenken – außer vielleicht unseren Urlaub -, lassen wir den Bau einfach links – oder in diesem Falle rechts – liegen und folgen dem Tamaki Drive, der nun am Ufer der Okahu Bay entlangführt. Der Blick über diese mit vielen kleinen, auf dem Wasser schaukelnden Segelbooten gespickten Bucht ist atemberaubend, zumal am jenseitigen Ufer, uns genau gegenüber, die Skyline der Innenstadt Aucklands in voller Pracht und Schönheit zu sehen ist. Der Tamaki Drive hat hier etwas mehr Platz zwischen Steilufer und Wasser zur Verfügung, den man für die Anlage eines langgestreckten Parkplatzes genutzt hat, an dessen Ende nun das Ziel unserer kurzen Wanderung in Sicht kommt.

Es ist ein kleines, eingeschossiges Gebäude, das mit seinen gelben Wand- und den roten Dachziegeln ganz eindeutig in demselben Stil errichtet wurde wie der große Bau und sein kleiner Begleiter, die wir zuvor passiert hatten, so daß sich mir die Vermutung aufdrängt, daß die drei Gebäude einst zusammengehört haben mochten und möglicherweise eine größere Anlage bildeten. Als ich später interessehalber versuche, mehr darüber herauszufinden, erweist sich meine Annahme als richtig. Hier an der Okahu Bay hatte sich einst eine Abwassersammelanlage befunden, die den großen Vorzug hatte, kaum wahrnehmbar zu sein, hatte man die großen Behälter, in denen man das Abwasser der hiesigen Siedlungen sammelte, doch einfach in die Anhöhe des Bastion Points hineingebaut. Nach außen hin waren lediglich die kleinen Zugangsbauten und das große Gebäude, das wir an der Kurve passiert hatten, zu sehen, welches damals – noch ohne den Pfahlbau – als Pumpstation beziehungsweise Ventilhaus diente, mit dem man das Abwasser schließlich in den Hafen von Auckland pumpte.

Kelly Tarlton's Sea Life Aquarium in Auckland
Dieser kleine Bau, der einst zu der unterirdischen Abwassersammelanlage gehörte und vermutlich den Zugang zu dieser ermöglichte, ist heute das Empfangsgebäude von Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium. Mehr ist von diesem überirdisch auch nicht zu sehen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Daß diese Abwassersammelanlage heute nicht mehr existiert, ist an der Umwidmung der einstigen Pumpstation bereits abzulesen. Doch auch das kleine Gebäude, vor dem wir nun stehen, weist überdeutlich darauf hin. Seinen Zweck als Zugangsportal hat es zwar behalten, doch gewährt es heute zu einer völlig anderen Einrichtung Zutritt, wie die beiden großen, an der Frontseite aufgespannten Banner stolz verkünden. „ENTRANCE“„Eingang“ steht in großen blauen Lettern auf dem oberen, während das untere uns den Namen der Einrichtung verrät: Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium.

Hier wollen wir hin. Als Landratten, die wir nun einmal sind, ist dies die beste und einfachste Möglichkeit, auf eine Reise in die Unterwasserwelt der Meere Neuseelands zu gehen. Eine Reise, die zu machen wir uns fest vorgenommen hatten, gehört sie doch unabdingbar dazu, will man so wie wir diesen Zipfel der Welt ein bißchen besser kennenlernen. Denn diese besteht nun einmal nicht nur aus Landschaft und Städten, Land und Leuten, sondern eben – und das sogar zum weitaus größeren Teil – auch aus Wasser und dem, was darin ist.

Das Aquarium, vor dessen Eingang wir jetzt stehen, wurde im Jahre 1983 von Kelly Tarlton ins Leben gerufen, der seine Leidenschaft für das Tauchen zu seinem Beruf gemacht hatte, indem er als Meeresarchäologe Schiffswracks erforschte, eine Tätigkeit, die ihn immer wieder vor neue Herausforderungen stellte, zu deren Lösung er technische Lösungen finden mußte, was ihn schließlich auch zu einem maritimen Bauingenieur werden ließ. Darüberhinaus betätigte er sich erfolgreich als Unternehmer im Bereich des Meerestourismus. Zum Zeitpunkt der Gründung des Aquariums hatte er bereits zwei Museen initiiert: die nach dem von ihm untersuchten Wrack der Boyd genannte Boyd Gallery und das Museum of Shipwrecks – das Schiffswrackmuseum.

Um den Menschen aber nicht nur die historischen Schätze der Seefahrt, sondern auch die der maritimen Natur zugänglich und bekannt zu machen, gründete er schließlich das Aquarium, das 1985 unter dem Namen Kelly Tarlton’s Underwater World seine Pforten öffnete. Innerhalb von zehn Monaten wurde es in die nicht mehr benötigten Sammelbehälter des in den 1960er Jahren überflüssig gewordenen einstigen Abwasserwerks in der Anhöhe des Bastion Points eingebaut. Von Beginn an stieß das Aquarium auf riesiges Interesse und erwies sich als großer Besuchermagnet. Bereits sieben Wochen nach seiner Eröffnung konnte es seinen einhunderttausendsten Besucher begrüßen – ein Meilenstein, den sein Gründer noch miterlebte, bevor er nur einen Tag später im Alter von 47 Jahren an Herzversagen starb.

Dreiundzwanzig Jahre blieb das Aquarium selbständig, dann wurde es vom Unternehmen Village Roadshow aufgekauft, das es jedoch bereits drei Jahre später an Merlin Entertainments weiterveräußerte, eine britische Firma, die weltweit mehr als einhundertzwanzig Freizeiteinrichtungen betreibt, darunter solche Marken wie Madame Tussauds, Dungeons, Legoland und Sea Life. Letztere fand dann 2012 Eingang in die Bezeichnung des von Tarlton einst gegründeten Aquariums, das seitdem unter dem Namen Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium firmiert. So muß es uns nicht verwundern, daß wir den typischen Sea Life-Schriftzug auch hier auf den Transparenten am Eingang vorfinden – einen Schriftzug, den ich bereits aus meiner Heimatstadt Berlin zur Genüge kenne, haben wir doch auch dort ein Sea Life direkt im Zentrum. Und so erwarte ich denn, daß mir auch hier das typische Erscheinungsbild und Besuchererlebnis geboten wird, das ich bereits von dort und auch aus Sydney kenne, wo ich reichlich zwei Jahre zuvor das dortige Sea Life besucht hatte. Doch gleichzeitig – und das ist die Motivation für den Besuch – hoffe ich darauf, im hiesigen Aquarium einen regionalen Bezug vorzufinden, der es mir ermöglicht, die Unterwasserwelt der Meere Neuseelands näher kennenzulernen, eine Hoffnung, die ganz erheblich durch den Umstand genährt wird, daß es in seinem Namen immer noch den seines in Neuseeland geborenen Gründers mitführt.

Um allerdings überprüfen zu können, ob mich diese Hoffnung trügt oder ob sie sich erfüllen wird, muß ich das Aquarium zunächst einmal betreten. Und so machen wir uns nach einem letzten Blick über die sonnenbeschienene Okahu Bay und die darauf gemächlich hin- und herschaukelnden Segelboote auf den Weg zum Eingang. Glücklicherweise gestaltet sich die dafür notwendige erneute Überquerung des Tamaki Drives hier bedeutend einfacher als zuvor, da wir direkt vor dem kleinen Empfangsgebäude einen Fußgängerübergang mit Mittelinsel vorfinden. Anschließend treten wir durch das vergleichsweise kleine Eingangsportal und suchen die Kasse auf, um unsere Tickets zu erwerben. Der genaue Preis ist nicht in meinem Gedächtnis verblieben, wohl aber die Empfindung, daß er als durchaus stolz zu bezeichnen ist. Umgerechnet mehr als zwanzig Euro sind nicht gerade eine kleine Summe. Dafür gelingt es uns, dem Fotografen auszuweichen, der kurz hinter dem Eingang schon auf unser Kommen lauert, um ein total cooles Foto von uns aufzunehmen, das wir, digital bearbeitet und eingebettet in eine Unterwasserumgebung, später am Ausgang würden mitnehmen können. Aus einschlägiger Erfahrung wissen wir jedoch, daß wir den Preis für dieses total coole Foto, den wir dann zu bezahlen hätten, gar nicht so cool finden werden, und so lehnen wir dankend, aber bestimmt ab. Daß das wiederum als uncool empfunden wird, nehmen wir in Kauf.

Als wir endlich die eigentliche Ausstellung erreichen, erwartet uns eine Überraschung, mit der ich nicht gerechnet hatte. Denn anstatt in einer Unterwasserwelt finden wir uns in einem Bereich wieder, der sich mit dem südlichsten Kontinent der Erde beschäftigt: Antarktika. Der von uns oft auch verwendete umgangssprachliche Name Antarktis ist eigentlich nicht korrekt, da damit zum einen sowohl die Landmassen als auch die Meeresgebiete zwischen dem südlichen Polarkreis und dem Südpol bezeichnet werden, und zum anderen auch einige Landteile Antarktikas über den südlichen Polarkreis hinausreichen und so genaugenommen gar nicht mehr zur Antarktis zählen. Noch viel interessanter als das finde ich allerdings die Tatsache, daß Antarktika unseren guten alten Kontinent Europa in der Größe übertrifft. Hätte mich jemand danach gefragt, ich hätte es nicht gewußt.

Unser Weg durch die Ausstellung führt uns als erstes – in ein Blockhaus. Nun, es ist natürlich nicht wirklich ein Blockhaus, aber als wir diese Abteilung durchwandern, vermittelt sie uns beharrlich den Eindruck, in einem zu sein. Sämtliche Wände, die wir erblicken können, bestehen aus Holz. Und als ich einen Blick nach oben werfe, entdecke ich Holzbalken und eine Decke aus demselben Material. Eine große Tafel verrät uns, wo wir hier sind: in Scott’s Hut – einer Nachbildung der Hütte, die Robert Falcon Scott während seiner von 1910 bis 1913 andauernden Südpolexpedition im Jahre 1911 errichtet und benutzt hatte. Das echte Gebäude steht am Kap Evans, das sich an der Nordküste der Ross-Insel in der Antarktis befindet, und ist heute eine eingetragene Historische Stätte der Antarktis.

Wenn ich zuvor die Bezeichnung Hütte im Zusammenhang mit einer Südpolexpedition gehört oder gelesen hatte, stellte ich mir stets ein vergleichsweise kleines Gebäude vor. Um so überraschter bin ich, hier die Nachbildung eines Hauses zu durchstreifen, das wenigstens 15 Meter lang und etwa halb so breit ist und über mehrere Räume verfügt, von denen jeder seinen eigenen, eindeutig erkennbaren Zweck erfüllt. Der erste stellt eine Mischung aus Küche und Lager dar. Auf einfachen, mit Winkeln an den Wänden befestigten Regalbrettern stehen allerlei Nahrungsmittel in Flaschen, Dosen und Kartons, darunter lagern in kleinen Standregalen weitere lebenswichtige Dinge und Gerätschaften, die zum Zubereiten von Essen benötigt werden. Hier steht eine Küchenwaage, dort ein altmodischer Fleischwolf mit Handkurbel. An der Wand lehnt ein Strohbesen, an Haken, die an den unteren Regalbrettern befestigt wurden, hängen kleine Henkeltöpfe, Kellen, große Löffel und andere Kochutensilien. Schüssel aus Email, Eimer und große Kruken stehen ebenso herum wie ineinandergestapelte einhenklige Kasserollen. In der Mitte des Raumes befindet sich ein Holztisch, auf dem eine Packung Cracker neben zwei Schüsseln, einer Blechkanne und einem verschlossenen Töpfchen abgestellt wurde und ein Holzbrett darauf wartet, daß jemand kommt und etwas auf ihm kleinschneidet. An einem quer durch den Raum gespannten Seil hat jemand dicke Wollhandschuhe aufgehängt und auch einen metallenen Ring daran befestigt, von dem einstielige metallische Siebe oder Körbe herabbaumeln. Doch trotz der großen Vielzahl an Dingen, die hier aufbewahrt werden, herrscht eine peinliche Ordnung. Nichts scheint einfach achtlos abgestellt oder hingelegt worden zu sein.

Ein Raum weiter sieht die Sache dann schon wieder ganz anders aus. Hier herrscht nicht eben Chaos, wohl aber das bunte Durcheinander eines Raumes, in dem sich der größte Teil des Zusammenlebens in dieser Hütte abspielt. Denn den zahlreichen Schlafplätzen an den Wänden nach zu schließen, handelt es sich um einen Mannschaftsraum. Zwei hölzernen Doppelstockbetten haben sich einfache Pritschen mit ebenfalls hölzernen Rahmen zugesellt. Auf ihnen allen liegen Matratzen und Decken. In der Raummitte steht ein großer, langer Tisch mit mehreren Holzstühlen, deren Lehnen aus einem oben runden Rahmen bestehen, in den sechs Holzstäbe längs eingesetzt sind. Über dem Tisch hängen zwei Petroleum-Lampen von der Decke. Da wir auf einem mit Geländern abgesteckten festen Pfad durch die Hütte geführt werden und uns darin nicht frei bewegen können, kann ich nicht erkennen, ob sie wirklich mit Petroleum betrieben werden oder lediglich Attrappen sind, die ihr Licht elektrisch erzeugen. Ich vermute allerdings Letzteres, da weder etwas zu riechen noch auch nur eine Spur von Ruß auszumachen ist. Von peinlicher Ordnung kann in diesem Raum allerdings keine Rede sein. Zwar liegt das Bettzeug ordentlich auf den Matratzen, doch hängen jede Menge Wäschestücke an den Rahmenbrettern der oberen Liegen der zweistöckigen Betten. Weitere hat man an quer durch das Zimmer gespannten Seilen drapiert. Das mag für einen Wohnraum nicht unbedingt schön und angemessen wirken, doch muß man bedenken, daß die Bewohner der Hütte sich in der Antarktis befanden und die Wäsche nicht mal eben draußen zum Trocken auf die Leine hängen konnten. Auch auf dem Tisch steht und liegt allerlei herum. Aufgeschlagene und zugeklappte Bücher, mehrere Email-Töpfchen neben einer ebensolchen bauchigen Kanne, ein länglicher Holzkasten mit offenstehendem Deckel, in dem vermutlich Stifte oder Pinsel lagern, ein rundes Holzbrett mit einem großen Messer, ein hellbraunes Wollknäuel neben einem noch unfertigen, doch schon beträchtlich langen Schal in derselben Farbe, eine Rolle Klebeband und ein großer, blecherner, oben gewölbter und mit einem runden Aufsatz versehener Kasten, dessen Zweck ich mir nicht recht erklären kann – all das bildet ein buntes Durcheinander, das so wirkt, als seien die Männer, die es eben noch benutzt hatten, nur gerade mal schnell vor die Tür gegangen und kämen gleich zurück.

Im nächsten Zimmer kehrt die Ordnung wieder zurück, was angesichts des offenbaren Zweck des Raumes auch angeraten scheint. Er dient ganz augenscheinlich wissenschaftlicher Betätigung. Im Vordergrund steht auf einem Tischchen das säuberlich aufgebaute Skelett eines Vogels, der zu seinen Lebzeiten einen vergleichsweise langen Schnabel besaß und auf großen Füßen stand, deren drei Glieder in langen Krallen endeten. Auf der runden, hölzernen Basis des Skeletts ist ein Schild angebracht, auf dem ich mit Mühe die beiden Wörter King Penguin – Königspinguin – entziffern kann. Neben dem Skelett liegt ein aufgeschlagenes Heft, dessen Seiten mit vielen handgeschriebenen Zeilen bedeckt sind. Eine Brille mit kreisrunden Gläsern ist darauf abgelegt worden, deren Bügel in weiten Bögen enden, die beim Aufsetzen hinter die Ohren geklemmt werden und so einen besseren Halt der Sehhilfe versprechen. Sehr altmodisch. An den aus Brettern bestehenden Wänden befindet sich eine umlaufende Strecke aus flachen, aneinandergereihten Schränken, deren Oberseite offenbar als Arbeitsfläche dient. Hier sind neben Kästen und Büchern jede Menge gläserne Laborutensilien abgestellt, vorwiegend Reagenzgläser und Kolben, deren einige mittels metallischer Stangen und Schrauben zu Apparaturen zusammengesetzt sind. In einem Mörser liegt ein Stößel, davor sind zahlreiche kleine Näpfchen aus Porzellan aufgereiht. Auch ein altertümliches Mikroskop ist zu sehen. Über der Arbeitsfläche tragen an den Wänden angebrachte Regalbretter eine Vielzahl fein säuberlich beschrifteter Flaschen, einige mit Schraub-, andere mit einfachem Steckverschluß. Es ist eine Mischung aus Chemielabor, Biologieraum und vielleicht auch Apotheke, in die wir da blicken. Hier haben die die Expedition begleitenden Wissenschaftler ihre Untersuchungen angestellt und ihre Forschung betrieben.

Vom Labor gelangen wir schließlich in ein weiteres Schlafquartier. Hier gibt es keine Doppelstockbetten, sondern nur zwei einfache Holzpritschen, auf deren einer mehrere Decken herumliegen, die einen recht zerwühlten Eindruck machen. Zwischen den Pritschen, die zueinander in einem rechten Winkel angeordnet sind, befindet sich ein Wandtisch, der wieder mit aufgeschlagenen Büchern und handbeschriebenen Blättern bedeckt ist. Die Bretterwände des Raumes werden durch dicke Holzleisten in mehrere große Felder aufgeteilt, von denen einige Fotografien und Zeichnungen enthalten, die man an die Wand gepinnt hat. Auf den Querleisten haben die Bewohner des Raumes Bücher, Zigarrenkisten, Flaschen, Werkzeuge, kleine Lampen und vieles andere mehr abgestellt und sie so als schmale Regale nutzbar gemacht. Von der Decke hängt eine Petroleumlampe. Auf dem Boden stehen Kisten und Taschen herum, und auch ein Paar Stiefel kann ich vor einem der Betten entdecken, deren Schäfte wie aus Filz gefertigt wirken. Vermutlich ist es jedoch ein anderes Material, denn ich kann mir kaum vorstellen, daß Filzstiefel im Eis der Antarktis als taugliches Schuhwerk durchgehen würden. Angesichts der gegenüber dem anderen Schlaf- und Wohnraum deutlich größeren Zahl von Büchern und eindeutig persönlichen Dingen vermute ich, daß es sich bei diesem Raum um das Zimmer höhergestellter Expeditionsteilnehmer handelt, denen aufgrund ihres Ranges eine privatere Umgebung zugestanden wurde.

Wenn ich mir die Hütte und ihr Innenleben so ansehe, wird mir klar, daß sie nicht nur als zeitweilige Durchgangsstation, sondern eindeutig für einen längeren Aufenthalt ihrer Bewohner gedacht und eingerichtet worden ist. Und tatsächlich finde ich auf einer Erklärungstafel die Information, daß die „Antarktisforscher […] bis zu 3 Jahre lang in einer solchen Hütte [lebten], am kältesten, windigsten und trockensten Ort der Erde!“[1]Im Original heißt es: „Antarctic explorers spent up to 3 years living in a hut like this, in the coldest, windiest, driest place on Earth!“ Für Robert Falcon Scott sollte die Hütte Ausgangs- und Endpunkt seiner Expedition zur Entdeckung des Südpols werden, die offiziell als Britische Antarktis-Expedition in die Geschichte einging, nach seinem Schiff allerdings oft auch als Terra-Nova-Expedition bezeichnet wird. Doch Scott, der schließlich mit vier Begleitern in Richtung Südpol aufbrach, während der übrige Teil der Expeditionsteilnehmer in der Hütte verblieb, um deren Umfeld zu erkunden und wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen, sah diese nie wieder. Nachdem er und seine Gefährten den Südpol erreicht hatten, wo sie feststellen mußten, daß das von Roald Amundsen geführte norwegische Team ganze vierunddreißig Tage vor ihnen dort eingetroffen war, wurde ihr Rückweg von heftig fallenden Temperaturen und Stürmen stark erschwert. Sie kämpften sich dennoch voran, erlagen aber schließlich diesen und weiteren Widrigkeiten. Sie starben schließlich im Eis der Antarktis, nur achtzehn Kilometer vom rettenden One Ton Depot entfernt, das sie wegen eines nicht enden wollenden Schneesturms nicht mehr erreichen konnten.

Als wir die Nachbildung der Hütte, die den Besuchern des Aquariums seit 1994 die Geschichte der Terra-Nova-Expedition nahebringt, wieder verlassen, stehen wir vor einem stilisierten Eistunnel, durch den uns ein mit gläsernen Geländern versehener Steg hindurchführt. Es scheint nicht weiter schwierig zu sein, dort hindurchzugelangen, und so schreiten wir frohen Mutes voran. Doch kaum haben wir den Steg betreten, beginnen die Wände des Tunnels um uns zu rotieren. Wer so etwas noch nicht selbst erlebt hat und sich deshalb vielleicht fragt, was denn da wohl dabei ist, dem sei gesagt, daß es ein überaus schwieriges Unterfangen sein kann, einen unbeweglichen, stur geradeaus führenden Weg entlangzugehen, wenn die gesamte umgebende Welt um einen rotiert. Im Handumdrehen gelingt es mir beim besten Willen nicht mehr, auf gerader Linie voranzuschreiten. Ohne die Geländer, über deren Vorhandensein in einem Tunnel ich mich vorher noch gewundert hatte, wäre ich vermutlich erst vom Weg und dann vom Steg abgekommen und gegen die Wand gelaufen. Ich erfahre unmittelbar, wie abhängig wir als menschliches Wesen von unserer visuellen Wahrnehmung sind und wie orientierungslos wir schlagartig werden, wenn diese manipuliert wird, so daß wir ihr nicht mehr trauen können. Unser Gehirn ist auf eine solche Erfahrung einfach nicht vorbereitet. Obwohl sich der Steg nach wie vor überhaupt nicht bewegt, verspüre ich das körperliche Empfinden, auf ihm zu schwanken. Ich muß einen Moment innehalten, um mich zu konzentrieren und meinen Blick auf das Ende des Tunnels zu fixieren, bevor es mir gelingt, die optische Täuschung wenigstens einigermaßen abzuschütteln und wieder festen Tritt zu fassen. Dann habe ich die Röhre nach wenigen Sekunden verlassen.

Auf meinem Weg durch den Tunnel hatte ich das Lachen einiger Leute hinter mir vernommen, die vor dem Tunnel standen und uns beobachteten, wir wir unsicher wie zwei Betrunkene hin- und hertaumelten. Ein Anblick, der sie offensichtlich sehr amüsierte. Als ich nun zurückschaue, ist es an mir, mich zu amüsieren, denn obwohl sie uns zugesehen hatten und also wußten, was passieren konnte, ergeht es ihnen nun keinen Deut besser. Als hätten sie einen über den Durst getrunken, schwanken sie hin und her, klammern sich ans Geländer und versuchen krampfhaft, auf dem Weg voranzukommen. Ganz offensichtlich hatten sie sich vorher viel mehr damit beschäftigt, über uns zu lachen, als mit der Frage, woran unser merkwürdiges Verhalten wohl liegen und wie man ihm entgegenwirken könnte. Ich kann nicht behaupten, daß ich in diesem Moment nicht doch ein kleines bißchen Schadenfreude verspüre. Zumindest in den kleinen, nicht so wichtigen Dingen dieser Welt ist hin und wieder doch noch so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit am Werk…

Das Ende des Eistunnels, dessen Wände natürlich nicht aus echtem Eis bestehen, ist gleichzeitig der Eingang zum nächsten Bereich der Ausstellung in Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium. Die Antarktis haben wir noch nicht verlassen. Ganz im Gegenteil. Wir sind nun mittendrin im Antarctic Ice Adventure, dem antarktischen Eisabenteuer. Nun, ein wenig hochtrabend ist der Name ja. Offenbar hatte das Aquarium bereits 1994, als dieser Ausstellungsteil eröffnet wurde, große Marketingstrategen in seinen Diensten. Davon, daß wir nun durch Eis und Schnee stapfen, kann nämlich keine Rede sein. Eis und Schnee gibt es hier zwar, auch jede Menge davon bedeckter Felsen sowie Wasser, allerdings nicht für uns Besucher. Auch wenn ich über letzteres nicht traurig bin, ein bißchen Stapfen im Schnee wäre nicht das Schlechteste gewesen. Doch auch so haben wir jede Menge Spaß, denn das eisige Abenteuer wird hier einer kleinen Kolonie von Pinguinen geboten, die wir nun ausgiebig beobachten können. Allerdings nur hinter Glas. Geht das für das große Wasserbassin, in dem die Vögel pfeilschnell durch die Fluten schießen und in dem wir sie auch unterhalb der Wasseroberfläche beobachten können, völlig in Ordnung, ist es für den Landbereich ein wenig hinderlich. Infolge des Temperaturunterschieds zwischen unserem Besucherbereich und dem hinter der Glasfront liegenden Areal aus Eis und Felsen, in dem sich die Pinguine aufhalten, sind die Scheiben an vielen Stellen angelaufen und von Wassertropfen bedeckt, was die Sicht stellenweise stark behindert. Doch glücklicherweise gibt es noch genügend Bereiche, wo wir den vollen Durchblick haben und die würdig dreinblickenden, gesetzten Königspinguine ebenso eingehend betrachten können wie die kleinen frechen Eselspinguine.

Es ist beeindruckend zu sehen, wie behende sich die an Land so behäbig und schwerfällig wirkenden Tiere im Wasser bewegen. Mit weit ausgebreiteten Flügeln – nennt man die bei den flugunfähigen Pinguinen auch so? – gleiten sie wie kleine Segelflieger durch die Fluten – so schnell, daß es außerordentlich schwierig ist, wenigstens einen von ihnen dort einmal auf ein Foto zu bekommen. Wesentlich einfacher ist das an Land, um so mehr, als die kleinen Eselspinguine mindestens so neugierig sind wie wir menschlichen Besucher. Und so ergibt sich ein um’s andere Mal die absurd-komische Situation, daß sich ein Mensch und ein kleiner Pinguin zu beiden Seiten der sie trennenden Glasscheibe gegenüberstehen und einander eingehend betrachten. Auch ist offensichtlich, daß die kleinen grau-weißen Gesellen auf ihrer Seite der Scheibe wesentlich mehr Spaß haben als wir auf der unseren. Während wir nur durch einen vergleichsweise langweiligen Gang wandern können, von wo aus wir sie beobachten, tollen sie im Wasser herum und schlittern bäuchlings über’s Eis. Unermüdlich watscheln sie in ihrem behäbigen Gang eine kleine Anhöhe hinauf, um sich, oben angekommen, blindlings auf den Bauch fallen zu lassen und den Hang hinabzuschlittern, so den Beweis antretend, daß sie auch an Land durchaus flink unterwegs sein können. All diese Aktivitäten werden allerdings ausschließlich von den kleinen Eselspinguinen vollführt. Ihre größeren Gefährten, die Königspinguine mit den weißen Bäuchen, grauen Rücken und schwarz-gelben Köpfen, stehen ganz offensichtlich über solch profanen Dingen. In Gruppen von vier bis sieben Tieren stehen sie einfach nur da und starren auf die Felsen, die die Rückwand ihres Geheges bilden, uns menschlichen Besuchern dabei demonstrativ den Rücken zukehrend. Es dauert eine ganze Weile, bis es mir gelingt, einige Vertreter dieser Tiere, die es irgendwie fertigbringen, gleichzeitig distinguiert und gelangweilt auszusehen, wenigstens  einmal von der Seite auf ein Foto bannen zu können. Erst, als wir das Gehege gerade wieder verlassen wollen und ich mich noch einmal umdrehe, entdecke ich einen Königspinguin, der sich zu uns umgewandt hat. So komme ich doch noch zu einem Porträt eines dieser Herrschaften.

Als wir die kleine Kolonie verlassen, die Neuseelands einzige subantarktische Pinguine beherbergt, kommen wir zunächst an einigen kleineren, in die Wände eingelassenen Aquarien vorüber. Hier können wir einige Quallen beobachten, bei denen man sich große Mühe gegeben hat, sie durch besondere Beleuchtung für uns Besucher gut sichtbar werden zu lassen, sind sie doch normalerweise aufgrund ihrer durchsichtigen Körper im Wasser nur schwer zu sehen.

Wenige Schritte weiter betreten wir die Stingray Bay. Man hat hier offenbar jedem Ausstellungsbereich seinen ganz eigenen sprechenden Namen gegeben. Die Hauptattraktion der Stingray Bay ist definitiv das riesige offene Acrylbecken. Daß es 350 Kubikmeter Wasser faßt, glaube ich, als ich es zu Gesicht bekomme, sofort. Von weitem sehe ich zunächst allerdings nur vergleichsweise flaches Wasser auf einem sandigen Boden, auf dem hier und da einige große Felsbrocken verstreut sind. Als wir nähertreten, können wir über die Begrenzung des Beckens direkt in dieses hineinschauen. Da die Wände aus Glas bestehen, ist es mir, wenn ich in die Hocke gehe, auch möglich, unter die Wasseroberfläche zu schauen. So kann ich die Fische, die ich nun in dem großen Bassin hin- und herschwimmen sehe, sowohl von oben als auch von der Seite betrachten. Und da gibt es durchaus etwas zu sehen. Als ich durch die Glasscheibe blicke, schwimmt direkt vor mir ein großer Wrackbarsch vorüber. Ich bezweifle ein wenig, daß er in diesem Wasserbecken richtig glücklich wird, läßt es doch jegliche Art von Schiffswrack vermissen, dessen Hohlräume normalerweise seinen Lebensraum bilden. Am jenseitigen Ende wird das große Becken durch eine Felswand abgeschlossen. Dort, wo der Sandboden auf diese trifft, bemerke ich einen großen Schatten, der direkt vor dem Stein über den Boden gleitet. Als ich neugierig zur Schmalseite des Beckens gehe, um näher an diese Stelle zu gelangen, erweist sich dieser Schatten als großer Stachelrochen, der mit sanften wellenartigen Bewegungen seiner Seitenflossen ruhig über den Boden gleitet, seinen charakteristischen langen Schwanz hinter sich herziehend. Ein beeindruckendes Tier. Wäre der Boden des Beckens ebenfalls felsig, anstelle aus weißem Sand zu bestehen, wäre es vermutlich überhaupt nicht zu bemerken, sieht doch seine gesamte obere Seite wie ein einziger dunkelbrauner Stein aus. Fasziniert schaue ich dem großen Fisch eine Weile zu, wie er, stets knapp über dem Boden, durch das Wasser gleitet. Nun ist klar, warum dieses große Becken den Namen Stingray Bay – Stachelrochenbucht – trägt, auch wenn es eine Bucht ganz und gar nicht simulieren kann. Doch ein bißchen Marketingschwindelei gehört in der heutigen Welt halt einfach dazu. Als Entschädigung gibt es hier dafür einen Imbißstand, zu dessen Angebot und Qualität ich allerdings nichts sagen kann.

Von der Stingray Bay gelangen wir nun in den ältesten Teil des Aquariums. Die Pacific Shark Zone und der Shipwreck Explorer waren bereits bei seiner Eröffnung die Hauptattraktion – und sind es – völlig zu Recht – bis heute. Sollten wir von unserem bisherigen Fußmarsch etwas müde sein, können wir hier komplett auf das Laufen verzichten. Auf einer Art Transportband geht es nun in einen rund einhundertzehn Meter langen Tunnel aus Acrylglas hinein, der uns an deren Grund durch zwei überaus große Wasserbecken hindurchführt. Nun, genau genommen stimmt das nicht ganz. Tatsächlich ist unser Weg links und rechts von Seitenwänden begrenzt, die etwa einen Meter hoch sind. Auf diesen setzt dann die in einem perfekten Halbkreis gewölbte Tunneldecke aus Acrylglas auf. Zu unserer Linken und Rechten ebenso wie über uns ist dahinter nur Wasser, dessen Grund am oberen Rand der Seitenwände unseres Tunnels liegt. Wir sind also gewissermaßen in einem Tunnel und in einem Graben gleichzeitig unterwegs. Das Transportband nimmt nur einen Teil des Tunnelbodens ein, so daß es uns jederzeit möglich ist, von ihm herunterzutreten und stehenzubleiben, wenn wir an irgendeinem Punkt verweilen und einen eingehenderen Blick riskieren möchten.

Ein Tunnel im Wasser allein ist nun allerdings nichts wirklich Spektakuläres. Dies wird er jedoch durch das, was wir in dem Wasser zu sehen bekommen. Links und rechts und über uns schwimmen unzählige Fische aller möglichen Arten herum, die wir, wenn sie neugierig neben uns herziehen, in aller Ruhe beobachten können. Leider bin ich, was die Fauna maritimer Lebenswelten anbelangt, ein absoluter Laie, so daß mir die meisten Arten völlig unbekannt sind. Daß ich hier allerdings Schwarmfischarten ebenso wie Einzelgänger zu sehen bekomme, fällt sogar mir auf. Nun schwimmen diese Fische nicht einfach so im Wasser herum. Tatsächlich hat man sich große Mühe gegeben, ihnen einen Lebensraum zu schaffen, der dem originalen möglichst nahekommt. So sind auf dem sandigen Grund zahlreiche Felsen mit vielen kleinen und größeren Höhlen zu sehen und es wachsen zahlreiche Pflanzen darauf, die mindestens ebenso interessant sind wie die beweglichen Vertreter der Unterwasserwelt. Um das Ganze für die Besucher noch spannender zu machen – und auch dem Namen Shipwreck Explorer gerecht zu werden -, hat man diverse Holzkisten im Wasser versenkt. In einem bunten Durcheinander stehen sie nun auf dem Grund des Beckens herum oder sind im Sand versunken, wie ein gerade noch daraus hervorragender, gewölbter Truhendeckel beweist. Ganz offensichtlich sollen sie die Überreste der Ladung eines untergegangenen Schiffes darstellen, von dessen Wrack allerdings nichts zu sehen ist. Während wir so durch den Tunnel gleiten, bemerke ich an dessen Seitenwänden kleine Tafeln, die mir die verschiedenen Fischarten erklären. Und obwohl ich mir die Zeit nehme, einige zu lesen, bleibt mir leider keine davon in besonderer Erinnerung.

Vielleicht liegt das auch daran, daß ich plötzlich von einem großen Schatten abgelenkt werde, der unvermittelt über unseren Köpfen im Wasser vorbeizieht. Als ich nach oben blicke, läuft mir unwillkürlich ein Schauer über den Rücken, denn ich blicke direkt auf das mit Zähnen gespickte Maul eines großen Hais. Voller Würde zieht er gemächlich seine Bahn durch das Wasser, ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen. Seine lange Schwanzflosse schwingt dabei stetig hin und her. Es ist ein faszinierender und ob meines Wissens um die Gefährlichkeit dieses Meeresbewohners auch ein wenig gruseliger Anblick. Es ist schon bemerkenswert, daß mir der Anblick dieses großen Fisches eine solche Reaktion abnötigt und ich mich unwillkürlich glücklich schätze, von ihm durch die Acrylglaswand getrennt zu sein, während mir das Vorhandensein all dieser Wassermassen rings um mich herum, von denen mich ebenfalls nur diese vergleichsweise dünne Glasschicht trennt, vorher keinerlei Sorgen bereitet hat, obwohl ich nicht einmal schwimmen kann. Vielleicht rührt der Anblick dieses großen Tieres an gewisse Instinkte, die in uns Menschen angelegt sind und deren wir uns unter normalen Bedingungen gar nicht bewußt sind.

Der Hai zeigt mir, daß wir ganz offensichtlich die Pacific Shark Zone – die pazifische Haifisch-Zone – erreicht haben, die wir nun in dem Tunnel ebenso wie vorher den Shipwreck Explorer durchqueren. Und so bleibt er nicht der Einzige, den wir zu sehen bekommen. Den Erklärungstafeln zufolge können wir hier Bronzehaie, Kammzähnerhaie, Teppichhaie und Hundshaie beobachten, was ich einfach mal so hinnehme, denn wirklich unterscheiden kann ich die einzelnen Arten nicht. Dafür bin ich viel zu sehr mit angeregtem Staunen und vielfacher Bewunderung dessen, was ich hier zu sehen bekomme, beschäftigt. Manchmal ist es auch einfach nur schön und vollkommen genügend, etwas anzuschauen, zu genießen und zu bewundern, ohne daß ich es eingehend studieren und sezieren muß, um auch jedes Quentchen Information darüber einzusammeln.

Für ganz Mutige wird hier von Zeit zu Zeit noch eine besondere Attraktion geboten. Für einen zusätzlichen Obulus können sie sich in einem Netzkäfig durch das Haibecken ziehen lassen oder sich auch in einem Taucheranzug direkt hineinbegeben. In fachmännischer Begleitung, versteht sich. Nun, das soll tun, wer mag. Mir reicht der Blick des Beobachters von außen vollständig aus. Was ich mich allerdings frage, ist, wie man es schafft, die Haie hier in der Gefangenschaft bei Laune zu halten. Als Raubfische haben sie in der freien Natur einen sehr großen Bewegungsradius, der ihnen hier mit Sicherheit nicht dauerhaft geboten werden kann. Wie ich später erfahre, ist das tatsächlich ein besonders schwieriger Aspekt, mit dem das Aquarium von Beginn an zu kämpfen hatte. Als Kelly Tarlton damit begann, seine Idee von der Präsentation von Haifischen Wirklichkeit werden zu lassen, fing er viele der Tiere selbst. Sie im Aquarium anzusiedeln, war jedoch nicht so einfach, so daß es ihm erst nach mehreren gescheiterten Versuchen gelang. Doch gerade diese so robust erscheinenden Raubfische erwiesen sich in der Gefangenschaft als besonders empfindlich, so daß es eine große Herausforderung darstellte, sie hier am Leben zu halten. Um dies jedoch nicht in Tierquälerei ausarten zu lassen, ist man zu der Praxis übergegangen, in den Gewässern Neuseelands heimische Haie nur kurz in dem Becken der Pacific Shark Zone zu halten und sie anschließend wieder im Fanggebiet auszusetzen. Es ist ein Kompromiß, da gibt es nichts zu diskutieren. Doch letztlich ist es wohl eine akzeptable Lösung für die Frage, mit der sich jeder Zoo, jeder Tierpark, jedes Aquarium auf der Welt, das den Menschen die Tierwelt nahebringen will, auseinandersetzen muß: Wie kann dies gelingen, ohne daß den Tieren dabei durch dauerhafte Gefangenschaft und unzureichende Lebensräume Leid zugefügt wird? Manche mögen diese Frage damit beantworten, daß dies generell nicht möglich sei und derartige Einrichtungen deshalb generell abzulehnen sind. Sie müßten sich in der Folge allerdings überlegen, wie sie es dann erreichen wollen, daß die Menschen die Tierwelt unmittelbar erfahren und etwas darüber lernen können, um sie anschließend wirklich wertzuschätzen und im Idealfall für ihre Erhaltung selbst aktiv zu werden.

Während wir so durch das riesige Becken gleiten und die Fische beobachten, ist mir nicht bewußt, daß diese in Wirklichkeit viel größer sind, als wir sie sehen. Seine Ursache hat dieser Effekt in der Lichtbrechung, die sich zwischen der Luft, dem Glas und dem Wasser ergibt. Sie führt dazu, daß die Tiere etwa ein Drittel kleiner erscheinen, als sie tatsächlich sind. Den ersten Tunnel schuf Kelly Tarlton übrigens selbst, indem er die dafür nötigen Segmente in einem aufwendigen Verfahren persönlich herstellte. Ob der heutige Tunnel noch dieser erste ist, sprich noch immer aus diesen Teilen besteht, weiß ich allerdings nicht zu sagen.

Hin und wieder begegnet uns bei unserer Reise durch das Becken des Shipwreck Explorers und der Pacific Shark Zone auf der anderen Seite der Tunnelwände eine übergroße steinerne Skulptur, die ich zu diesem Zeitpunkt für Götzenbilder halte. Allerdings kann ich mir keinen rechten Reim darauf machen, was sie hier in der Unterwasserwelt zu suchen haben. Erst später kommt mir aufgrund der Ähnlichkeiten der Gedanke in den Sinn, daß es sich bei den Darstellungen wahrscheinlich um Bildnisse der Māori-Kunst handelt. Der Antwort auf die Frage, warum sie hier im Becken plaziert wurden, bringt mich das allerdings auch nicht näher. Zumindest ist mir nicht bekannt, daß die Māori sich als Meerestaucher betätigt und große, übermannshohe Skulpturen auf dem Meeresgrund errichtet hätten. Ich begnüge mich zu guter Letzt mit der Erklärung, daß es sich wohl einfach um eine Art Dekoration handelt, die dem Aquarium ein wenig Lokalkolorit verleihen soll. Ob man das nun für zweckmäßig oder einfach nur kitschig halten will, mag jeder für sich selbst entscheiden.

Als wir das Ende des Acrylglastunnels erreicht und das Transportband endgültig verlassen haben, gelangen wir unmittelbar zum nächsten Bereich der Ausstellung, der als Fish Gallery bezeichnet wird. Waren die Wasserbecken beziehungsweise Lebensräume in den bisherigen Ausstellungsteilen stets groß oder gar riesig, kommen wir nun an vielen kleinen und höchstens mittelgroßen Aquarien vorüber, in denen wir unterschiedlichste Meeresbewohner aus den Gewässern rund um Neuseeland betrachten können. In einem ist beispielsweise ein Meeraal zu sehen, der sich allerdings so gut zwischen den vielen in seinem Aquarium wuchernden grünen Pflanzen versteckt, daß wir nur seinen Kopf mit dem breiten Maul zu sehen bekommen. Ein anderes Aquarium beherbergt einen Hummer, der sich mit seinen zehn langen, gliedrigen Beinen erstaunlich flink über den steinigen Boden bewegt. Und in wieder einem anderen hat sich ein Krake an die Frontscheibe geheftet, so daß seine unzähligen Saugnäpfe zu sehen sind, die wie an einer Schnur aufgereihte Knöpfe erscheinen. Drei Aquarien – drei völlig unterschiedliche Lebensformen. Und davon gibt es hier in der Fish Gallery noch unglaublich viel mehr. Diese schier unerschöpfliche Vielfalt des Lebens unter Wasser ist unglaublich faszinierend.

Wir haben die Fish Gallery noch nicht umfassend erkundet, da stehen wir plötzlich vor einem großen roten Portal. Eine breite Tür mit zwei massiven Flügeln wird links und rechts von senkrechten Ornamentbändern eingerahmt, deren Darstellungen wie sich verzweigende Doppelpfeile aussehen. Quer über dem Durchgang ist in großen Lettern zu lesen, wohin er uns führen wird: ins Seahorse Kingdom – das Königreich der Seepferdchen, den vielleicht liebenswertesten Meeresbewohnern. Als ich hindurchblicke, kann ich jedoch zunächst nur ein einziges dieser Tiere entdecken, und das ist aus Stein. In gerader Linie hinter der Tür schaue ich auf eine Wandplatte, die das mannshohe Relief eines Seepferdchens zeigt. Der gesamte Raum, den wir nun betreten, ist wie ein geheimnisvoller, versunkener Bau des Altertums gestaltet. Die Wände geben vor, aus massivem Stein gemauert zu sein, in den verschiedene Reliefs eingearbeitet sind, die das gleiche Muster wie neben dem Portal zeigen. Ebenso wie dieses werden sie mit kräftigem, rotem Licht angestrahlt. Um den Eindruck eines versunkenen Baus zu verstärken, ranken sich von der Decke her kräftige Wurzeln über die Wände. An einigen Stellen geben die Steine, die natürlich nur imitiert sind, ein Stück Wand frei, die mit der Darstellung im Wasser stehender Bäume, zwischen denen sich eine Vielzahl von Lianen ranken, bemalt ist, so daß der Eindruck entsteht, man blickte durch ein Fenster oder eine Lücke in der Mauer hinaus in einen sumpfigen Urwald. In einem besonders großen dieser „Fenster“ hat man Wissenswertes über die kleinen Meeresbewohner, denen dieser Ausstellungsbereich gewidmet ist, zusammengetragen. Daß Seepferdchen einen Kopf wie ein Pferd und einen Ringelschwanz wie manche Affen besitzen, ist mir dabei nicht neu. Daß sie ihre Augen wie ein Chamäleon unabhängig voneinander bewegen können, hingegen schon. Auch daß sie zur Veränderung ihrer Farbe in der Lage sind, so daß es ihnen möglich ist, sich an ihren aus Schwämmen und Seegras bestehenden Lebensraum anzupassen, war mir bisher nicht bekannt. Der vielleicht überraschendste Fakt ist jedoch, daß bei den Seepferdchen die Männchen die Nachkommen zur Welt bringen, die in einem Beutel am Bauch ihres Vaters verbleiben, bis sie groß genug sind, um selbständig zu überleben. Manch einer mag das sicher gewußt haben, für mich ist es neu. Und so freue ich mich, daß ich so ganz nebenbei wieder etwas gelernt habe.

Nun will ich die kleinen Tierchen aber auch sehen, und so spazieren wir ein Stück weiter in das Königreich hinein, wo wir uns alsbald inmitten einer Vielzahl kleiner und größerer Aquarien wiederfinden, in denen wir auf eine kunterbunte Vielfalt verschiedenster Arten von Seepferdchen treffen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Wir betrachten Stachelige Pfeifenpferde und Dickbauchseepferdchen sowie viele andere Arten der kleinen Meeresbewohner. Einige leuchten in Rosa und Orange, andere sind von einem dunklen Braun, wieder andere scheinen fast durchsichtig zu sein. Hier treiben einige einfach so im Wasser, dort haben sich andere an einer Pflanze festgehakt, indem sie ihren Schwanz um deren lange Blätter geringelt haben. Und in einem Aquarium scheint ein Seepferdchenvater an der Scheibe seinem Seepferdchensohn – oder ist es eine Tochter? – zu erklären, was das für merkwürdige und gleichzeitig arme Wesen auf der anderen Seite des Glases sind, die dort auf zwei langen Extremitäten herumstaken und ganz ohne Wasser auskommen müssen, so daß ihnen nur übrig bleibt, mit der Luft vorliebzunehmen. Ich glaube, er meint uns.

Fasziniert gehe ich von einem Aquarium zum anderen, schaue hinein und versuche, all die kleinen Seepferdchen zu finden, die darin herumschwimmen. Manchmal ist das gar nicht so einfach, da sie sich farblich an ihre unmittelbare Umgebung angepaßt haben, ganz so, wie es auf der Wand am Eingang stand. Schließlich aber bin ich dann doch am letzten Aquarium in diesem Bereich vorübergekommen und wir verlassen das Seahorse Kingdom wieder, um in die Fish Gallery zurückzukehren.

Die Vielfalt des Artenreichtums der Unterwasserwelten, die mir bereits vorher so eindrucksvoll erschienen war, setzt sich nun unmittelbar fort. Stachelige Kugelfische, die sich aufblasen können wie kleine Ballonigel, farbenprächtige Doktorfische – die einen tiefblau gefleckt mit gelbem Schwanz, die anderen ebenso tiefblau, aber gepunktet und gestreift mit einem gelben Ring um die Augen -, Clownfische, Steinfische, Kaiserfische, Muränen, Piranhas – ich kann mir gar nicht alle Arten merken, die ich hier auf engstem Raum zu sehen bekomme. Dazu jede Menge farbenprächtiger Korallen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Langsam gehe ich von Aquarium zu Aquarium und betrachte diese – ich wiederhole mich gern – faszinierenden, völlig fremdartigen Lebenswelten. Man könnte meinen, durch viele kleine Fenster auf andere Planeten zu blicken, dabei ist all das auf unserer Erde zu finden.

Irgendwann sind wir dann allerdings doch am letzten Aquarium angelangt und damit nicht nur am Ausgang der Fish Gallery, sondern auch an dem der gesamten Ausstellung. Eine Tür bringt uns hinaus und – in den Souvenirladen hinein, der für alle von Merlin Entertainments betriebenen Einrichtungen offenbar obligatorisch ist. Man kann sie nicht verlassen, ohne an all den Dingen vorüberzugehen, die dem geneigten Besucher angeboten werden sollen, damit er nach dem schönen Erlebnis seinen nun hoffentlich lockerer sitzenden Geldbeutel zückt, um das Eine oder Andere als Erinnerungshilfe käuflich zu erwerben. Ich schaue nur flüchtig hin, denn ich weiß bereits aus Erfahrung, daß ich von all dem Kram und Klimbim nichts brauche. Und da wir hier nun auch keine in eine Unterwasserlandschaft eingebettete Fotografie von uns abzuholen brauchen, durchschreiten wir zügig den gesamten Laden und stehen kurz darauf wieder auf dem Parkplatz zwischen dem Eingang und dem Tamaki Drive am Ufer der Okahu Bay.

Kelly Tarlton's Sea Life Aquarium in Auckland
Damit auch niemand Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium übersieht, hat man an dem am Ufer der Okahu Bay befindlichen Parkplatz des Tamaki Drives am Fuße des Steilufers dieses große Werbebanner aufgehängt. Es stellt eindeutig die Pinguine als dessen Hauptattraktion heraus.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Zufrieden lasse ich das gerade Erlebte in Gedanken noch einmal Revue passieren. Zwar wurde ich – der Globalisierung, die dafür sorgt, daß alles allüberall gleich aussieht, sei Dank – in meiner Erwartung, was das gleichgeschaltete Erscheinungsbild und Besuchererlebnis des typischen Sea Life-Aquariums betrifft, nicht enttäuscht, doch war es dennoch ein schöner und interessanter Rundgang, den wir gerade absolviert haben, gab es doch – ganz wie erhofft – einiges hier zu sehen, was einen stark regionalen Bezug hatte und außerordentlich lehrreich war. Und mit dem antarktischen Ausstellungsbereich gleich zu Beginn wurde mir sogar mehr geboten, als ich erwartet hatte.

Während ich noch darüber sinniere, schweift mein Blick über die Weite der vor mir liegenden Okahu Bay und des Waitematā Harbours, von dem sie ein Teil ist. Angesichts der Vielzahl der Segelboote, die auf den Wellen schaukeln, und der ausgedehnten Anlagen des Hafens, die ich in der Ferne am jenseitigen Ufer ausmachen kann, kommt mir die Frage in den Sinn, wie lange es diese faszinierende Unterwasserwelt, in die ich gerade einen Blick geworfen habe, in der freien Natur wohl noch geben wird angesichts des großen negativen Einflusses, den die Menschheit mit ihrem Wirken darauf ausübt, ohne groß darüber nachzudenken und ihm auch nur wenigstens ein bißchen entgegenzuwirken. Das durch die Klimaveränderungen bewirkte Abschmelzen der Eismassen an den Polen der Erde ist dabei vielleicht der populärste Effekt, der stets und ständig in aller Munde ist, weil sich dadurch die Klimadebatte wunderbar befeuern läßt. Und so diskutiert man über den Wandel des Klimas und die Maßnahmen dagegen, ohne auch nur das Mindeste zu erreichen. Tatsächlich habe ich den Eindruck, daß die ganze Klimadebatte zu einer Art Ideologie aufgeblasen wird, mit der man ganz wunderbar den Versuch unternehmen kann, neue Profitquellen zu generieren und gesellschaftlichen Reichtum weiter in die falsche Richtung umzuverteilen. In Bezug auf das Klima, das man ja vorgibt, retten zu wollen, erzielt man jedenfalls bisher keine nennenswerten Erfolge. Ginge es wirklich darum, den Planeten und das vielfältige Leben darauf zu retten, bliebe die Diskussion nicht allein auf das Klima beschränkt. Man spräche stattdessen über die Um- beziehungsweise Mitwelt, von der das Klima ja nur ein Teil ist. Umweltverschmutzung und Raubbau wären ebenso Gegenstand der Debatte wie Überlegungen, was man dagegen tun könnte. Man fragte sich, warum der Verbrennungsmotor am Pranger steht, die großen mit Schweröl betriebenen Containerschiffe aber nicht, und warum man überhaupt soviele davon fahren läßt, anstatt viel mehr auf regionale Produktion zu setzen. Man diskutierte nicht nur über Kohlendioxid erzeugende Gas- und Kohlekraftwerke, man thematisierte auch die Verschmutzung der Meere. Man verteufelte nicht nur Öl und Kohle, sondern zuallererst jeglichen Krieg, jegliche Waffenproduktion und alle sonstigen ausschließlich destruktiven Unternehmungen. Überhaupt diskutierte man nicht nur, sondern packte endlich gemeinsam an. Stattdessen plant man „Maßnahmen“ wie Kohlendioxid-Zertifikate, die nichts anderes sind als der Versuch, das Problem mit genau dem kapitalistischen System von Handel und Profit zu lösen, das es hauptsächlich verursacht hat.

Allein, hier am Ufer der Okahu Bay ist von all dem nichts zu merken. Die Wellen schaukeln weiter die Boote und plätschern sanft ans Ufer, auf dem Tamaki Drive fahren Autos hin und her, ein sanftes Lüftchen weht uns um die Nase und die Sonne schickt ihre wärmenden Strahlen zu uns herunter. So lege ich diese Gedanken innerlich zur Seite und widme mich wieder dem heutigen Tag, der noch lange nicht vorüber ist. Schließlich haben wir gerade einmal den frühen Nachmittag erreicht und somit Zeit genug für weitere Unternehmungen. Weil aber unser nächstes Ziel doch ein ganzes Ende weiter entfernt ist als die Strecke, die wir zwischem dem Michael Joseph Savage Memorial und Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium zurückzulegen hatten, wollen wir es dem Auckland Explorer diesmal gestatten, uns zu unserem nächsten Ziel zu bringen. Und so stehen wir kurz darauf an der nahegelegenen Haltestelle mit dem gelb-blau-roten Schild und warten auf den nächsten Bus.

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Referenzen

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1 Im Original heißt es: „Antarctic explorers spent up to 3 years living in a hut like this, in the coldest, windiest, driest place on Earth!“

Gedenken an einen Mann des Volkes

Dieser Beitrag ist Teil 7 von 10 der Beitragsserie "Reise nach Neuseeland & Singapur"
Wie ich ein zum Teil versunkenes Denkmal aufsuchte und eines Mannes des Volkes gedachte

Zwei Tage. So hatte man es uns versprochen, als wir das Ticket gestern kauften. Zwei Tage würde man uns ohne weitere Kosten durch die Stadt fahren, wann immer wir wollten. Wir könnten aus- und wieder einsteigen, wie es uns gefiele. Jederzeit und überall.

Und was soll ich sagen: die Leute vom Auckland Explorer Bus halten ihr Wort. Anstandslos akzeptiert der Busfahrer unser am Vortag gelöstes Ticket, das wir ihm vorzeigen, als wir am Morgen unseres sechsten Reisetages an der Haltestelle unter dem Sky Tower in der Victoria Road West in seinen gelb-blauen Bus steigen. Tatsächlich hatte ich allerdings auch nichts anderes erwartet und wäre überrascht gewesen, wenn es anders gekommen wäre.

Hatten wir tags zuvor lediglich ein erstes Ziel angepeilt und waren dementsprechend ein wenig auf’s Geratewohl unterwegs gewesen, was dazu geführt hatte, daß wir am Ende sowohl die rote als auch die blaue Route komplett abgefahren waren, so haben wir heute nicht vor, das zu wiederholen. Und so sind unsere Ziele für diesen Tag bereits festgesetzt, als wir unsere Plätze im Bus einnehmen.

Wieder geht es am Viaduct Bassin, an der Waterfront und am Hafen vorüber. Wieder sind wir alsbald auf dem Tamaki Drive unterwegs und passieren auf dieser Uferstraße die Hobson und die Okahu Bay sowie den Isthmus von Auckland. Als wir schließlich rechterhand das Steilufer neben uns haben, wissen wir, daß wir unser erstes Ziel gleich erreicht haben werden. Steil geht es die kleine abzweigende Straße hinan und, als wir erst den oberen Rand des Steilufers und kurz darauf ihr Ende erreichen, in die Wendeschleife hinein. Einige Augenblicke später schauen wir bereits dem sich von uns entfernenden Bus hinterher, der uns hier zurückgelassen hat: am Bastion Point.

Da stehen wir nun und schauen uns um. Kreisrund ist die kleine Insel, um die die Straße herumführt, völlig eben und von kurz gestutztem Rasen bedeckt. Ein kleiner, kaum zwei Meter hoher Baum wächst ziemlich genau in ihrem Zentrum und ist – im wahrsten Sinne des Wortes – das einzig Herausragende dieses verkehrstechnischen Eilands. Hier war jemand sehr auf Symmetrie bedacht und von idealer Geometrie fasziniert.

Überhaupt ist die ganze Hochfläche rings um den Wendekreis eine einzige von außerordentlich gut gepflegtem Rasen bedeckte Fläche und wirkt so ein bißchen wie ein Golfplatz. Oder ein sehr langweiliger Park. Lediglich an ihren Rändern ist höhere Vegetation zu erkennen. Mit einer Ausnahme: entlang eines breiten Weges, der sich in nördlicher Richtung von dem Kreisrund, an dem wir stehen, entfernt, genau im rechten Winkel zur von Westen hierher führenden Straße, stehen links eine Baumreihe und rechts einige größere Büsche und kleinere Bäumchen, die uns förmlich einladen, diesem Weg zu folgen.

Da in allen anderen Richtungen außer Rasen von hier aus nichts weiter zu sehen ist, lassen wir uns auch gar nicht lange bitten und folgen dem uns so gewiesenen Weg, an dessen Ende wir in der Ferne bereits ein hoch aufragendes Bauwerk erkennen können – das Ziel unserer Fahrt hierher.

Der Weg gibt noch ein kurzes Stück vor, eine Straße zu sein, bis er von einer Reihe aus acht großen, steinernen Blumenkästen versperrt wird, die lediglich schmale, für Fußgänger passierbare Durchgänge freilassen. Doch als wolle man endgültig ausschließen, daß ein wie auch immer geartetes Fahrzeug diese passiert, hat man in die drei mittleren noch zusätzlich halbmeterhohe metallische Poller postiert und in zwei weitere überdies Laternen auf massiven steinernen Sockeln eingesetzt.

Auf der anderen Seite dieser Sperre steht in der Mitte des Weges eine etwa mannshohe Tafel, die uns schon einmal ankündigt, was wir gleich sehen werden: „Michael Joseph Savage Memorial“ steht in großen weißen Buchstaben an ihrem oberen Ende geschrieben. Darunter ist ein Bild des Mannes zu sehen, dem zu Ehren die Gedenkstätte errichtet wurde, verbunden mit einem kurzen Text, den ich mir neugierig durchlese. Schließlich habe ich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, wer dieser Michael Joseph Savage eigentlich war und warum man ihm hier eine Gedenkstätte errichtet hat.

Das Michael Joseph Savage Memorial am Bastian Point in Auckland
Diese Tafel steht am Hauptweg, der auf dem Bastion Point zum Michael Joseph Savage Memorial führt. Viel Aufschluß über Sinn und Zweck der Gedenkstätte gibt sie allerdings nicht.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Ich erfahre, daß der Tamaki Drive über einen Damm, am Resolution Point beginnend, die Hobson Bay überquert und an der Okahu Bay vorüberführt, die an der Westseite des Bastion Points liegt, der eine Landzunge ist, an deren Ende sich heute ein Yacht Club befindet, der ebenfalls den Namen Tamaki trägt. An der Okahu Bay, so lese ich weiter, habe sich bis in die 1950er Jahre ein Dorf der Ngati Whatua, eines Māori-Stammes, befunden. Ein Fort, wird mir berichtet, habe es hier ebenfalls einmal gegeben. Fort Bastion habe es geheißen und sei errichtet worden, weil man in den 1880er Jahren große Angst vor einfallenden Russen gehabt habe. Man stellte Geschütze auf, die den Eingang zum Waitematā Harbour bewachten, gemeinsam mit denen auf dem Mount Victoria und dem North Head in Devonport. Daß sie nie zum Einsatz kamen, weil die Russen Besseres zu tun hatten, als in Neuseeland eine Invasion durchzuführen, steht allerdings nicht auf der Tafel. Dafür lerne ich, woher der Name Bastion Point kommt. Der leitet sich von einem markanten, vor der Küste stehenden Felsen ab, dem Bastion Rock. Für den Fall, daß ich vorgehabt haben sollte, mir diesen festungsartigen steinernen Koloß anzusehen, wird gleich der Hinweis nachgeschoben, daß er heute nicht mehr existiert. In den 1920er Jahren mußte er für den Tamaki Drive Platz machen, als dieser am Ufer des Hauraki-Golfs um die Anhöhe des Bastion Points herumgeführt wurde.

Obwohl das alles sehr interessant ist, frage ich mich allmählich doch, was das eigentlich mit der Gedenkstätte und dem durch sie Geehrten zu tun hat. Doch auch der letzte Satz des Textes gibt darüber keinen Aufschluß. Er stellt lediglich fest, daß sich die Gedenkstätte an dem Ort befindet, dessen Geschichte vorher grob umrissen wurde, und daß sie Michael Joseph Savage gewidmet ist, der von 1872 bis 1940 lebte und Neuseelands erster von der Labour-Partei gestellter Premierminister war. Und ist es auch nicht viel, so ist es doch immerhin etwas Information zu seiner Person.

Aber, so denke ich mir, es gibt ja noch eine zweite Seite der Tafel. Dort werde ich sicher mehr über die Gedenkstätte und ihren Namensgeber erfahren. Nun, ich könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Zwar lautet auch dort die Überschrift „Michael Joseph Savage Memorial“ und es wird, neben einer Karte des Gebiets, auch wieder etwas Text geboten, doch geht es darin, genau wie auf der ersten Seite, zunächst einmal um völlig andere Dinge[1]Im Original lautet der Text: In 1860, 1879 and 1880 Ngati Whatua leaders Tuhaere and Te Kawau assembled many North Island chiefs to the Kohimaramara Conference to establish a Māori parliament. They … [Weiterlesen]:

In den Jahren 1860, 1879 und 1880 versammelten die Ngati Whatua-Führer Tuhaere und Te Kawau viele Häuptlinge der Nordinsel zur Kohimaramara-Konferenz, um ein Māori-Parlament einzurichten. Sie forderten Wiedergutmachung in Landfragen und Gleichheit vor dem Gesetz. In den 1930er Jahren bemühten sich die Māori um Abhilfe durch Michael Savage, den damaligen Premierminister der Labour-Regierung. Mit der Unterstützung der Māori zog die Labour-Partei zum ersten Mal ins Parlament ein. Es begann damit eine langjährige Beziehung.

Auch wenn es hier durchaus einen Bezug zu Michael Joseph Savage gibt, frage ich mich immer noch, was wohl der Grund dafür war, daß man ihm eine eigene Gedenkstätte errichtet hat. Den Erklärungen auf der großen Tafel kann ich das leider nicht so recht entnehmen. Doch ich werde die Beantwortung dieser Frage auf einen späteren Zeitpunkt verschieben müssen. Denn wo wir nun einmal hier sind, wollen wir uns die Gedenkstätte auch ansehen.

So folgen wir nun also dem gut fünf Meter breiten Weg über eine große, von – wie sollte es anders sein – Rasen bedeckte Fläche, bis er nach wenigen Metern eine Hecke erreicht, die ihm jedoch bereitwillig Durchlaß gewährt. Diesen durchschreitend, betreten wir die Gedenkstätte.

Ein paar Stufen, die ob ihrer geringen Höhe eigentlich nur Stüfchen sind, geht es hinunter, dann kreuzt ein breiter, mit Platten ausgelegter Weg den unseren, welcher dahinter in eine Plattform mit dem gleichen Belag übergeht und an einem großen, steinernen, ein Hochbeet beherbergenden Kasten endet, das jedoch außer Erde nichts enthält. Links und rechts führen Stufen an ihm vorbei und hinunter zu einem tiefer gelegenen Bereich. Wir verharren jedoch zunächst eine Weile auf der Plattform und schauen uns um. Von hier aus können wir die gesamte Gedenkstätte überblicken.

Gestaltet im Art-Déco-Stil, besteht sie aus einem großen Platz, der die Form eines großen Vierecks besitzt, das man im ersten Moment für ein Rechteck halten könnte, bis man bemerkt, daß seine Längsseiten leicht gebogen sind. Hinter uns wird dieser Platz von der großen Hecke, die wir passiert haben, begrenzt. Auf der uns gegenüber liegenden Seite erhebt sich ein gemauertes Mausoleum, das von einem riesigen, mehrere Meter hohen Obelisken bekrönt wird. Sowohl das Mausoleum als auch die Plattform, auf der wir gerade stehen, befinden sich in der Mitte der jeweiligen Längsseiten des Platzes. Der Raum dazwischen besitzt ein um wenigstens zwei Meter niedrigeres Niveau als unser aktueller Standort. Dort befindet sich direkt vor dem Mausoleum ein langgestreckter versunkener Teich von exakt rechteckiger Form, dessen Ufer an allen seinen Seiten eine steinerne Einfassung besitzen. Gewissermaßen stellt er eine direkte Verbindung zwischen unserer Plattform und dem Mausoleum her.

Das Michael Joseph Savage Memorial am Bastian Point in Auckland
Ein Blick vom Eingang über das Michael Joseph Savage Memorial auf dem Bastion Point.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Die bereits erwähnten Stufen führen links und rechts von uns über mehrere Terrassen hinunter zu dem Teich. Diese Terrassen sind an den beiden Außenseiten links und rechts von den gleichen steinernen Kästen begrenzt wie der, der unsere Plattform abschließt. Im Gegensatz zu ihm wachsen in ihnen allerdings tatsächlich Blumen. Im Gelände zu beiden Seiten der Stufen setzen sich diese Terrassen fort, sind dort allerdings von Rasen bewachsen, in den von Zeit zu Zeit halbrunde Steine mit ebener Oberfläche eingelassen sind, die so angeordnet wurden, daß sie ihrerseits wie Stufen wirken, die zur tiefergelegenen Mitte des Platzes führen.

Links und rechts des Teiches liegen ebenfalls Rasenflächen, auf denen man jedoch in gewissen Abständen in Längsrichtung des Platzes ausgerichtete Beete angelegt hat. Diese sind üppig mit Blumen bepflanzt, die man offenbar so ausgewählt hat, daß sie in allen nur möglichen Farben blühen. Ob es in dieser Hinsicht ein Glück ist, daß wir jetzt gerade Frühling haben, oder ob man bei der gärtnerischen Pflege dieses liebevoll angelegten und gestalteten Areals dafür sorgt, daß in den Beeten ganzjährig Blumen blühen, vermag ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall ist es ein wunderschöner Anblick.

Auch der Teich wird an den Längsseiten hinter seiner Einfassung von solchen Beeten eingerahmt, die allerdings, im Gegensatz zu jenen auf den Rasenflächen, von niedrigen schmalen Hecken begrenzt werden.

Doch nicht nur wir auf unserer Plattform stehen gegenüber der Mitte des Platzes erhöht. Als ich das Mausoleum genauer betrachte, stelle ich fest, daß es eigentlich kein Gebäude im eigentlichen Sinne ist. Tatsächlich erhöht sich auf seiner Seite das Bodenniveau wieder, so daß das Gelände hinter dem Platz die gleiche Höhe besitzt, auf der wir uns befinden. Während allerdings auf unserer Seite Terrassen allmählich zum niedrigeren Grund der Platzmitte hinabführen, bildet die andere Seite eine senkrechte Wand, in deren Mitte sich das Mausoleum befindet, das somit ein Teil dieser Wand ist. Daß diese nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen ist, liegt daran, daß sie sich zu beiden Seiten des Mausoleums nicht als Mauer fortsetzt, sondern dicht mit grünen Pflanzen bewachsen ist, denen weiße, vermutlich hölzerne Gitter Halt geben. Inmitten dieses Grüns vermittelt das Mausoleum den täuschenden Eindruck, ein einzeln stehendes Gebäude zu sein.

Wir entschließen uns, den Platz einmal zu umrunden, bevor wir uns das Mausoleum genauer ansehen. So steigen wir also nicht die Stufen hinunter, sondern spazieren über den Weg, der den unseren hinter der Hecke gekreuzt hatte, zur linken, westlichen Schmalseite des Platzes hinüber. Dort angekommen, endet der Weg abrupt und eine Treppe führt, die Terrassen aufnehmend, den sanften Hang hinunter zu einem Rundweg, der die gesamte Innenfläche der Gedenkstätte umrundet und mit drei Reihen quadratischer Steinplatten ausgelegt ist, zwischen denen jeweils etwa zehn Zentimeter Abstand liegen. Da sich das Gras diesen zunutze gemacht hat, wirkt es so, als seien die Platten in den Rasen eingelassen worden. Überrascht stelle ich fest, daß der Innenraum der Gedenkstätte nicht einfach nur eine Niederung im Gelände darstellt, sondern offenbar absichtsvoll vertieft angelegt worden ist. Denn auch hier an der Westseite behält das umgebende Gelände seine Höhe bei. Tatsächlich ist es, wie ich nun erkennen kann, rings um den gesamten Innenbereich gleich hoch. Dieser liegt also wie ein versunkener Garten in der ihn umgebenden Landschaft und weckt so ganz von selbst Assoziationen von Ruhe und Einkehr. Wunderschön.

Hinter dem westlichen Ende der Gedenkstätte stehen einige große Bäume, die sie von dem dahinterliegenden Gelände abschirmen. Unter einem von ihnen lädt eine Bank zum Verweilen ein, der Gedenkstätte abgewandt. Neugierig treten wir unter den Bäumen hindurch näher.

Vor uns dehnt sich eine große, leicht gewölbte Rasenfläche. Dahinter erkenne ich die stets etwas puschelig wirkenden Wipfel mehrerer Palmen, unter denen die Zufahrtsstraße, die uns hergebracht hat, dem Tamaki Drive am Ufer des Waitematā Harbours entgegenstrebt, dessen weite Wasserfläche rechterhand über weiteren Baumkronen zu sehen ist. Dort, wo das ihn linkerhand begrenzende Steilufer des Bastion Points eine Biegung zur Okahu Bay macht, die es allerdings vor unseren Blicken verbirgt, ist in der Ferne, leicht verdeckt, die Skyline der Innenstadt Aucklands zu sehen, dominiert von dem markanten, wie ein achtunggebietender Finger in den Himmel aufragenden Sky Tower.

Langsam überqueren wir die Rasenfläche. Einen Weg gibt es nicht, also laufen wir einfach geradezu. Jeder Schritt bringt uns dabei ein wenig weiter nach rechts, was das Steilufer in unserer Perspektive langsam nach links zurückweichen läßt. Nach und nach gibt es so den Blick auf die Skyline Aucklands frei. Von hier aus betrachtet wirkt sie fast ein wenig wie eine Insel inmitten des großen Naturhafens. Oder wie eine Fata Morgana, die über den Wellen schwebt. Ein faszinierender Anblick.

Der Bastion Point in Auckland
Ein Blick vom Steilufer des Bastion Points über den Waitematā Harbour, hinüber zur Innenstadt von Auckland mit dem Hafen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als wir am Ende der großen Freifläche angekommen sind, blicken wir über die Wipfel der Bäume, die auf dem Hang des Steilufers vor uns Halt gefunden haben, direkt auf den Waitematā Harbour hinab. Dort, wo der Tamaki Drive um die Landspitze herum nach rechts abbiegt, um seinen Weg am Ufer der Okahu Bay fortzusetzen, ragt ein langer Steg in die Fluten hinaus – der Okahu Bay Wharf. Blickt man über sein Ende hinaus, kann man in der Ferne die Auckland Harbour Bridge ausmachen.

Wir bleiben noch ein Weilchen stehen und bewundern die Aussicht, dann kehren wir um und spazieren zurück zu der Bank unter den Bäumen, unter denen hindurch wir dann zu der großen Gedenkstätte zurückkehren.

Die Treppe bringt uns hinab in den versunkenen Garten. Hier, an seinem westlichen Ende, wird er von einer Mauer begrenzt, die an ihren Enden etwa brusthoch aufragt, in der Mitte jedoch eine Höhe von etwa zwei Metern erreicht. Dort überschattet ein Vordach in Form einer Pergola den Bereich vor ihr. In dessen Zentrum ist ein kleiner Brunnen in die Wand eingelassen. Seine Rückwand ist aus hellem Stein zusammengefügt, in dessen Mitte sich ein schmaler, senkrechter, mit kleinen blauen Mosaikfliesen ausgelegter Streifen befindet, der an seinem oberen Ende das Relief eines Löwenkopfes trägt. Aus dem geöffneten Maul des Löwens fließt unentwegt ein dünner Strahl klaren Wassers in ein Becken am Boden, das mit denselben blauen Mosaikfliesen ausgekleidet ist wie die Rückwand des Brunnens.

Wandbrunnen im Michael Joseph Savage Memorial am Bastion Point in Auckland
Einer der beiden Wandbrunnen im Michael Joseph Savage Memorial auf dem Bastion Point.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Wir folgen nun dem Rundweg um das Gartenareal der Gedenkstätte und spazieren an dessen nördlicher Längsseite entlang. Dabei habe ich ausreichend Gelegenheit, die Vielfalt und Farbenpracht der in den einzelnen Beeten angepflanzten Blumen zu bewundern. Gelbe Studentenblumen, tiefblauer Rittersporn und die rosafarbenen Blüten des Fleißigen Lieschens sind nur einige der Vertreter dieser bunten Vielfalt, die mir in Erinnerung bleiben. Rings um mich herum ist das stete Summen und Brummen von Insekten, vornehmlich Hummeln, zu vernehmen, die das reichhaltige Angebot an Blüten in regelrechte Begeisterung zu versetzen scheint.

Die Ostseite des Gartens ist das exakte Gegenstück ihres westlichen Pendants. Die gleiche Mauer, das gleiche Vordach, der gleiche Wandbrunnen mit dem Löwenkopf. Als wir dann den Garten einmal umrundet haben und unterhalb der Plattform, auf der wir eingangs gestanden und die Gedenkstätte überblickt hatten, angekommen sind, stehen wir am südlichen Ende des Teiches, der sich im Zentrum der Anlage befindet. Die ruhige Oberfläche des rechteckigen Gewässers erweist sich von hier aus betrachtet als genau plazierter Spiegel, denn in ihm ist nun kopfüber das genaue Gegenstück des Mausoleums mit seinem großen Obelisken zu sehen.

Dieses ist nun unser nächstes Ziel. Daß es ebenso wie der Obelisk aus Betonfertigteilen errichtet wurde, sieht man ihm nicht an. Die Verkleidung mit Oamaru-Stein und Dunedin-Quarz verleiht ihm ein helles, freundliches Äußeres. Zwei schlanke Zypressen flankieren die schwarze Tür, die Zutritt in sein Inneres gewähren könnte, wäre sie nicht verschlossen. Sie ist die einzige Öffnung in der ansonsten glatten Außenwand des Mausoleums, das an seinem oberen Rand von einer Balustrade abgeschlossen wird. Bereits während unseres Rundgangs hatte ich dort oben immer wieder einmal Leute stehen sehen, so daß ich also bereits weiß, daß das Obere des Mausoleums begehbar ist.

Obenauf ragt der große Obelisk in die Höhe, dessen Sockel von einem mannshohen Madonnenrelief verziert wird. Daß dieses aus Bronze bestehen soll, vermag ich kaum zu glauben, denn sein Farbton unterscheidet sich kaum von dem des umgebenden Steins. Geschaffen wurde diese Figur der Liebe und der Gerechtigkeit von dem in Neuseeland sehr bekannten Bildhauer Richard Gross. Ursprünglich, so lese ich später, hatten die Pläne für die Gedenkstätte eine Statue anstelle des Obelisken vorgesehen, die den „arbeitenden Menschen“ symbolisieren sollte. Allerdings fanden die Behörden, wie es heißt, die Statue zu protzig und verlangten eine diesbezügliche Änderung der Pläne. Das Ergebnis waren der Obelisk und eben jenes Madonnen-Relief.

Links und rechts neben dem Mausoleum führen Stufen in die Höhe, die wir nun hinaufsteigen. Sie führen auf eine große Plattform, die sich hinter dem Obelisken befindet und vom Garten aus gar nicht zu sehen war. Das Dach des Mausoleums ragt etwas über sie hinaus, so daß zwei Stufen zu ihm und dem Obelisken hinaufführen. Und hier, an der Rückseite von dessen Sockel, finde ich nun zum ersten Mal einen direkten Bezug zu dem durch die Gedenkstätte Geehrten. In die Wand des Sockels ist ein weiteres Relief eingelassen, das im Gegensatz zu seinem Gegenstück an der Frontseite seine bronzene Herkunft nicht verleugnen kann. In der Form einer kreisrunden Plakette zeigt es die Büste Michael Joseph Savages und darunter eine Tafel mit folgenden Worten[2]Im Original lautet die Inschrift: This Monument is erected by The New Zealand Labour Party in memory of Michael Joseph Savage First Labour Prime Minister „There is no fame to rise above The … [Weiterlesen]:

Dieses Monument wurde errichtet von
der neuseeländischen Labour-Partei
in Erinnerung an
Michael Joseph Savage
Erster Labour-Premierminister
„Es gibt keinen Ruhm über
die krönende Ehre der Liebe eines Volkes hinaus.“

Relief am Michael Joseph Savage Memorial am Bastion Point in Auckland
Die Rückseite des Obelisken auf dem Mausoleum des Michael Joseph Savage Memorials zeigt ein Relief des Geehrten, eine Ehrentafel und eine Inschrift.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Bei genauem Hinsehen entdecke ich noch eine weitere Inschrift, die über dem Relief direkt in den Stein graviert wurde[3]Im Original ist dort zu lesen:

Michael Joseph Savage
(1872-1940)
„He loved his fellow men.“

:

Michael Joseph Savage
(1872 – 1940)
„Er liebte seine Mitmenschen.“

Ich muß zugeben, ich bin beeindruckt. Diese Gedenkstätte, dieses Denkmal, diese Inschriften – all das zeugt von einer sehr großen Verehrung. Und bisher weiß ich lediglich, daß jener, dessen hier gedacht wird, einst Premierminister des Landes war. Doch ist das Grund genug für solch ein Mahnmal? Sicher nicht. Was also ist es, daß ihn so besonders macht?

Nun, Michael Joseph Savage war nicht einfach nur der dreiundzwanzigste Premierminister Neuseelands und der erste der Labour-Partei. Er war ein Politiker, der es ablehnte, Politik lediglich als Mittel zur Erlangung und Verwaltung von Macht und zur Spaltung der Gesellschaft zu betreiben. Vielmehr war er jemand, der sich aufrichtig für die Menschen des Landes einsetzte, der eine bessere und gerechtere Gesellschaft anstrebte und versuchte, für die Realisierung dieses Traums so viele Menschen wie möglich zu begeistern und zu vereinen. Und dies blieb nicht nur leeres Gerede. Als seine Regierung 1933 gewählt worden war, zu einem Zeitpunkt also, als die wirtschaftliche Depression der späten 1920er und frühen 1930er Jahre noch in vollem Gange war, zahlte sie Arbeitslosen und Empfängern karitativer Hilfe sofort ein Weihnachtsgeld. Allen in der Fürsorge tätigen Helfern gewährte sie sieben Tage Jahresurlaub. Drei Jahre später gelang es ihr, mit Hilfe zahlreicher erlassener Gesetze die Kaufkraft der Bevölkerung wirksam zu erhöhen, so die Wirtschaft wieder zu beleben und Arbeitsplätze und neuen Wohlstand zu schaffen. Mit der Verstaatlichung der Reserve Bank of New Zealand und des kommerziellen Rundfunks wurden wichtige Einrichtungen des öffentlichen Lebens dem Gemeinwohl unterworfen. Ein neu aufgelegtes staatliches Wohnungsbauprogramm sorgte für bezahlbaren Wohnraum und gemeinsam mit weiteren Maßnahmen für eine spürbare Verbesserung des Lebens der Menschen im Land. Und auch die Māori wurden nicht vergessen. Einige gravierende Diskriminierungen wurden beendet, und die Ureinwohner Neuseelands fanden in den Bereichen der Bildung, der Gesundheit, der Beschäftigung und nicht zuletzt auch der Landbesiedelung verstärkt Berücksichtigung. Doch die vielleicht größte Errungenschaft war der Social Security Act, ein Gesetz, das das erste Sozialversicherungssystem der westlichen Welt einführte. Arbeitslosenunterstützung, ein allgemeines kostenloses Gesundheitssystem sowie eine bedürftigkeitsabhängige Altersrente waren nur einige der Maßnahmen, die jedem Bürger des Landes zu mehr sozialer Sicherheit verhalfen.

Savages unermüdlicher Einsatz hatte jedoch seinen Preis. Als er im Jahre 1938 die Diagnose Darmkrebs erhielt, wurde sein Herzensprojekt, der Social Security Act, gerade ins Parlament eingebracht. Außerdem stand wieder eine Parlamentswahl an. So verschob er die eigentlich dringend erforderliche Operation, um das Projekt und die Wiederwahl seiner Partei nicht zu gefährden. Zwar unterzog er sich im Jahr darauf dem lebensrettenden Eingriff, doch es war bereits zu spät. Im März des Jahres 1940 erlag er seinem Leiden.

Michael Joseph Savage wurde hier auf dem Bastion Point bestattet. Daß er der beliebteste aller neuseeländischen Premierminister war, läßt sich auch daran erkennen, daß ihm bei seinem Staatsbegräbnis hunderttausende Neuseeländer nicht nur in Wellington und Auckland, sondern auch an den Bahnhöfen entlang der Strecke die letzte Ehre erwiesen, als sein Leichnam zu seiner letzten Ruhestätte überführt wurde. Bereits ein Jahr nach seinem Tod schrieb die Labour-Regierung einen Wettbewerb zur Errichtung einer Gedenkstätte aus, die mit Tibor Donner und Anthony Bartlett zwei Architekten aus Auckland gewannen. Ihrem Entwurf entsprechend wurde noch im selben Jahr mit dem Bau begonnen, der im März 1942 abgeschlossen werden konnte.

All das bringe ich natürlich nicht hier, auf dem Dach des Mausoleums, in Erfahrung, sondern erst später. Und doch ist mir bereits hier klar, daß dieser Politiker ein ganz besonderer Vertreter seiner Zunft gewesen war. Allein die Existenz dieser beeindruckenden Gedenkstätte ist dafür Beweis genug. Es erscheint mir kaum vorstellbar, daß die Idee, einem unserer heutigen Politiker ein solches Denkmal zu setzen, viel Anklang bei der Mehrheit der Bevölkerung fände. Keinem von ihnen würde man wohl das Zeugnis ausstellen, sich in besonderem Maße für die Menschen seines Landes einzusetzen. Ganz im Gegenteil. Die Maßnahmen, die Savages Regierung für das Wohl der neuseeländischen Bevölkerung ergriff, erscheinen heute undurchführbar. Doch nicht, weil sie es tatsächlich wären, sondern lediglich deshalb, weil es im Kreise der Politik keinerlei Neigung gibt, dafür auch nur einen Finger zu rühren. Stattdessen folgt man dort anderen Interessen und tut eher das genaue Gegenteil, ignoriert Armut, Notstände im Bildungs- und im Gesundheitswesen sowie den unausgesetzten Verfall der Infrastruktur. Und am Ende ist man dann noch stolz darauf, das Land zu regieren, in dem der größtmöglichen Anzahl Menschen lediglich Niedrigstlöhne gezahlt werden.

Und so ist die Gedenkstätte für Michael Joseph Savage nicht nur eine Ehrung für einen aufrichtigen Politiker, der seine Aufgabe, zum Nutzen seines Volkes zu wirken, ernst genommen hat, sondern gerade in der heutigen Zeit auch eine Erinnerung daran, daß Politik im Dienste der Menschen nicht nur möglich ist, sondern auch tatsächlich durchführbar. Immerhin ist es schön zu sehen, daß diese Gedenkstätte auch heute noch umfassend und liebevoll gepflegt wird. Denn daß sie in allerbestem Zustand ist, davon haben wir uns bei unserem Rundgang selbst überzeugen können.

Wir bleiben noch ein wenig auf der Plattform hinter dem Obelisken stehen und genießen die Aussicht, die sich uns von hier bietet – nicht nur auf den Garten am Grund der Senke, sondern auch in der entgegengesetzten Richtung. Dort, im Norden, ist nach wenigen Metern die Anhöhe des Bastion Points zu Ende. Das Steilufer, mit dem sie zum Hauraki-Golf abfällt und an dessen Fuß der Tamaki Drive entlangführt, können wir von hier oben zwar nicht sehen, doch dafür haben wir einen wunderbaren Ausblick auf die Bucht und das uns genau gegenüber liegende Rangitoto Island mit seinem markanten Vulkankegel.

Von dem einstigen militärischen Vorposten, der sich auf dem Bastion Point befand, ist hingegen heute nichts mehr zu sehen, da sein Platz vollständig von der Gedenkstätte eingenommen wird. Zum Zeitpunkt seiner Errichtung gehörte das hiesige Land dem Māori-Stamm der Ngati Whatua. Ohne viel Federlesens nahm man es ihm einfach weg, wobei man sich nicht nur auf das Areal der heutigen Gedenkstätte beschränkte, sondern die ganze Bastion Point genannte Landzunge einbezog. Darauf bezieht sich letztlich der Text auf der zweiten Seite der Tafel am Anfang des Weges zur Gedenkstätte, allerdings ohne diesen Fakt selbst zu erwähnen. Als der Stützpunkt 1941 schließlich aufgegeben wurde, erhielten die Māori das Land jedoch nicht zurück. Gegen die Errichtung der Gedenkstätte hatten die Māori wahrscheinlich nichts einzuwenden, da sie Michael Joseph Savage und seiner Regierung viel zu verdanken hatten, doch auf das übrige Land erhoben sie nach wie vor Anspruch. Allerdings erfolglos. Als man in den 1970er Jahren schließlich ankündigte, das Land an den Meistbietenden zu verkaufen, damit dort hochpreisige Wohnungen entstehen könnten, kam es zu einer großen Protestaktion der Māori, die das Land friedlich besetzten. Nachdem diese mehr als fünfhundert Tage angedauert hatte, ließ die Regierung sie von Polizei und Armee gewaltsam beenden. Dies trug maßgeblich dazu bei, daß die Ungerechtigkeit gegenüber den Ureinwohnern des Landes deutlich wurde und in der neuseeländischen Gesellschaft zur Sprache kam. Dennoch dauerte es noch einige Jahre, bis die Regierung 1988 bei den Māori formell um Entschuldigung bat und das Land an sie zurückgab.

Wir setzen uns schließlich wieder in Bewegung und wandern den Weg zurück, den wir gekommen sind, hinaus aus der Gedenkstätte zu dem kleinen Wendekreis. Zeit haben wir genug, und so wollen wir doch einmal sehen, ob sich nicht dort in irgendeiner anderen Richtung außer Rasen doch noch etwas Interessantes finden läßt.

Als wir an der Wendeschleife anlangen, stellen wir fest, daß drei Wege von hier ausgehen. Den zur Gedenkstätte und die Straße selbst kennen wir bereits. Der dritte ist ein asphaltierter Fußweg, der das Ende der Straße in östlicher Richtung verläßt, die Rasenfläche überquert und dann in einem Streifen aus Gebüsch und Bäumen verschwindet, so daß nicht genau auszumachen ist, wohin er führt. Grund genug für uns, einmal nachzusehen.

Im Michael Joseph Savage Memorial Park am Bastion Point in Auckland
An der Ostseite der Anhöhe des Bastion Points führt ein Weg hinab zur Mission Bay, an dem dieses schöne Exemplar eines Kohlbaums steht.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Es dauert nicht lange, da haben wir das Gehölz erreicht. Am Wegrand ragt ein vielstämmiges Gewächs auf, das ich mit meinem laienhaften Blick für eine Art Palme halte. Vermutlich ein Kohlbaum, der hier in Neuseeland heimisch ist. Unter den Bäumen ist es schattig. Viel Erleichterung bringt uns das heute jedoch nicht, da der Himmel schon den ganzen Vormittag über recht stark bewölkt war, so daß wir trotz des spärlichen Baumbestands auf der Anhöhe des Bastion Points nicht unter zu starker Sonneneinstrahlung zu leiden hatten. Als wir weitergehen, verliert der Weg rasch an Höhe. Offenbar steuern wir auf das Steilufer am östlichen Rand des Bastion Points zu. Daß ich mit dieser Vermutung recht habe, zeigt sich kurz darauf, als der Weg unvermittelt in eine Treppe übergeht, die uns innerhalb kürzester Zeit zum Tamaki Drive hinunterbringt, der hier das Meeresufer bereits verlassen und sich ein Stück landeinwärts gewandt hat, um einer kleinen Grünanlage und einem sandigen Strandabschnitt Platz zu machen.

Neugierig begeben wir uns nach links zu dem Strand hinüber, der sich allerdings als nicht besonders spektakulär erweist. Vereinzelt laufen ein paar Menschen so wie wir darauf herum, der Sand ist von graubrauner Farbe, überall liegen Tangstreifen und Muschelschalen herum. Mehr ist da nicht. Kein Strandkorb, kein Strandpavillon, kein Beach-Volleyball-Feld. Und keine Düne. Das obere Ende des Strandstreifens wird von einer langgestreckten steinernen Bank abgeschlossen, hinter der eine breite, mit Asphalt befestigte Strandpromenade verläuft. Dahinter dehnt sich die bereits erwähnte Grünanlage aus.

Dort, wo das Wasser auf den Strand trifft und der Sand etwas heller ist, stehe ich und schaue hinaus auf die Fluten des Hauraki-Golfs, ohne in diesem Moment zu wissen, daß dessen hiesiger Abschnitt Mission Bay genannt wird, ein Name, den man praktischerweise auch gleich dem anliegenden Vorort Aucklands gegeben hat. Die Wasseroberfläche ist leicht gekräuselt, Wellen gibt es keine beziehungsweise nur dann, wenn draußen ein Schiff vorübergefahren ist. In der Ferne kann ich inmitten des Wassers einen Turm ausmachen, der dort auf einem komplexen Gestell aus sieben Streben steht. Von hier aus möchte ich fast meinen, er sei aus Holz, was ich mir angesichts seiner Position inmitten der Bucht allerdings nicht so recht vorstellen kann. Tatsächlich liege ich mit meinem Eindruck jedoch völlig richtig. Denn bei diesem Bean Rock Lighthouse genannten und zur Gänze aus Holz errichteten Gebäude handelt es sich nicht nur um den einzigen verbliebenen Leuchtturm im Landhausstil, den es in Neuseeland noch gibt – und auch in der ganzen Welt existieren nur noch sehr wenige davon -, sondern gleichzeitig um den ältesten hölzernen Leuchtturm des Landes. Überdies ist er der einzige, der inmitten der Meeresfluten steht. 1870 errichtet, wurde er bis 1912 von den Leuchtturmwärtern mit ihren Familien bewohnt. Dann automatisierte man die Anlage und die Leuchtturmwärter wurden überflüssig. Benannt wurde der am Ende eines Riffs errichtete Turm nach Lieutenant Bean von der Royal Navy, der der Kapitän der HMS Herald war, des Schiffes, das die erste Vermessung des Waitematā Harbours nach der Gründung Aucklands vornahm. Hinter dem Leuchtturm ist die bewaldete Küste des Rangitoto Islands zu sehen, das uns genau gegenüberliegt und das ich so von hier aus in seiner ganzen Pracht bewundern kann.

An der Mission Bay
Ein Blick über die Mission Bay hinüber zum Bean Rock Lighthouse, das inmitten des Hauraki- Golfs steht. Das gegenüberliegende Ufer ist Rangitoto Island.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Nach einigen Augenblicken intensiven Auf’s-Meer-Schauens wenden wir uns um und stapfen über den Sand des menschenleeren Strandes zurück zur Promenade. Als ich bei einem späteren Blick in einen Reiseführer erfahre, daß wir hier am angesagtesten Strand von Auckland gestanden haben, kann ich mir das angesichts dessen, was wir zu sehen bekommen haben, kaum vorstellen. Offenbar ist seine behauptete Beliebtheit eher eine gelegentliche Angelegenheit.

Wir spazieren ein Stück die Promenade entlang, bis wir einen Querweg erreichen, der in die Grünanlage hinein- und zu einem kreisrunden Areal führt, in dessen Mitte sich ein großer Brunnen befindet. Inmitten eines riesigen runden Beckens steht eine überdimensionierte, übermannshohe Schüssel in der Form eines großen Blumentopfs, in der sich allerdings nichts zu befinden scheint, soweit ich sehen kann. Vielleicht schießt daraus normalerweise eine Fontäne hervor? Wenn dem so sein sollte, so ist sie jetzt gerade inaktiv. Rings um die Schüssel sind auf ebenfalls kreisrunden Podesten vier große Skulpturen angeordnet, die wohl Fabelwesen des Meeres darstellen sollen. Der Kopf eines Seepferdchens, der Körper einer Wasserschlange, die Pranken eines Löwen – das sind die Merkmale der Wesen, die mir sofort ins Auge fallen. Eine einigermaßen merkwürdige Anlage.

Geschaffen wurde dieser Brunnen, der den Namen Trevor Moss Davis Memorial Fountain trägt, zu Ehren des Direktors der Auckländer Spirituosenfirma Hancock & Company, der 1947 einen Herzinfarkt erlitt und nur fünfundvierzigjährig verstarb. Sein Vater, der die Erinnerung an seinen Sohn wachhalten wollte, stiftete diesen Gedenkbrunnen, den der Architekt George Tole entwarf. Mit dieser Wasserkunst treffen wir zum zweiten Mal an diesem Tag auf ein Werk des Bildhauers Richard Gross, der die Ausführung von Toles Plänen übernommen hatte.

Da wir auf den ersten und auch auf den zweiten Blick hier in Mission Bay nicht mehr sonderlich viel entdecken können, dessentwegen sich das Bleiben lohnte, machen wir uns schließlich wieder auf den Weg zurück, verlassen die Grünanlage, überqueren den Tamaki Drive, erklimmen die Stufen, die uns zur Anhöhe des Bastion Points hinaufbringen und stehen alsbald wieder an der kleinen kreisrunden Wendeschleife.

Sollte der Fahrer des nächsten ankommenden Auckland Explorer Busses allerdings damit gerechnet haben, uns einsammeln und zu unserem nächsten Ziel bringen zu können, so müssen wir ihn enttäuschen. Dieses liegt nämlich in nicht allzu großer Entfernung von hier, so daß wir beschließen, die kurze Strecke einfach zu Fuß zurückzulegen. Gesagt, getan. Und so sieht die Straße, die von der Wendeschleife auf der Anhöhe des Bastion Points hinunter zum Tamaki Drive am Ufer des Hauraki-Golfs führt, kurz darauf zwei Wanderer, die an ihrem Rand kräftig ausschreiten, ihrem nächsten Ziel entgegen…

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Referenzen

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1 Im Original lautet der Text:

In 1860, 1879 and 1880 Ngati Whatua leaders Tuhaere and Te Kawau assembled many North Island chiefs to the Kohimaramara Conference to establish a Māori parliament. They sought redress on land issues and equality under the law. In the 1930’s Māori sought remedy through Michael Savage, the then Prime Minister, of the Labour Government. With Māori support Labour had entered parliament for the first time beginning a long-standing relationship.

2 Im Original lautet die Inschrift:

This Monument is erected by
The New Zealand Labour Party
in memory of
Michael Joseph Savage
First Labour Prime Minister
„There is no fame to rise above
The Crowning honour of a people’s
love.“

3 Im Original ist dort zu lesen:

Michael Joseph Savage
(1872-1940)
„He loved his fellow men.“

A good traveller has no fixed plans and is not intent on arriving. (Lao Tzu)

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