Schlagwort-Archive: Bresewitz

Barther Kirchentag

Dieser Beitrag ist Teil 6 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Bomm!
Bomm!
Bo-bomm!
Bo-bomm!
Bomm!

Von irgendwo läßt sich ein sanftes Trommeln vernehmen. Zuerst nur ganz leise, doch dringt es, sich in seiner Vehemenz beharrlich durchsetzend, lauter und lauter durch die Schleier hindurch, die der Schlaf um mich gewoben hat, bis sich diese endlich verflüchtigen und mich aus meinen Träumen in die reale Welt zurückführen. Noch wehre ich mich dagegen, doch schließlich kann ich nicht mehr umhin, die Traumwelt endgültig zu verlassen und meine Aufmerksamkeit diesem unablässigen Trommeln zuzuwenden.

Bomm!
Bomm!
Bo-bomm!

Ein Weile lausche ich dem Geräusch, das mich aus dem Schlaf geholt hat. Was könnte das sein? Ein tropfender Wasserhahn vielleicht? Nein, dazu ist es zu vielfältig. Das müßten schon mehrere Wasserhähne zugleich sein, die da so stetig vor sich hin tropfen. Und es kommt ja auch gar nicht aus dem Badezimmer. Nein, das Geräusch kommt definitiv von draußen. Es dringt durch das geöffnete Fenster und zwischen den schweren Vorhängen hindurch, die das Zimmer in einem beständigen Halbdunkel halten. Nur durch den schmalen Spalt zwischen ihnen fällt ein wenig Licht des bereits angebrochenen Tages. Von dort kommt auch das ewige Trommeln.

Mein Gehirn kommt nur langsam in die Gänge. Doch schließlich findet es den Gedanken, nach dem es gesucht hat, seit ich von dem Geräusch geweckt worden bin: Regen! Das muß Regen sein.

Auf einmal erscheint mir das Bett als ein ausgesprochen sympathischer Aufenthaltsort für den Tag. Ich könnte mich ja nochmal auf die andere Seite drehen und eine weitere Runde schlafen…

Andererseits ist das Verschlafen des hellichten Tages keine Option, die sehr unterhaltsam und interessant klingt. Und so wirklich müde bin ich eigentlich auch nicht mehr…

Ach, was soll’s! So ein bißchen Regen wird mir nicht den Tag verderben. Und wer weiß, vielleicht hört er ja auch bald auf. Entschlossen schlage ich die Decke zurück und stehe auf. Zunächst will ich mir doch einmal ansehen, was denn das eigentlich für ein Regen ist, der da vor meinem Fenster herumtrommelt. Ich tappe durch das Halbdunkel des Raumes um das Bett herum und ziehe die Vorhänge zurück. Licht strömt ins Zimmer, doch ist es nicht gerade blendend. Dafür ist der Tag, der vor dem Fenster herumlungert, viel zu grau. Und naß.

Das Trommeln, das mich geweckt hat, kommt von irgendwo dort draußen, ohne daß ich genau ausmachen kann, woher eigentlich. Es hört sich so an, als befände sich an irgendeiner Stelle des Hauses in der Nähe meines Fensters ein Blech, auf das Wasser tropft. Daß es der feine Regen ist, der unaufhörlich herniederströmt, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Offenbar sammelt er sich jedoch irgendwo und verursacht stetig fallende Tropfen. Den Klängen nach an gleich mehreren Stellen.

Egal. Ich bin wach. Laß es tropfen.

Ich suche nicht weiter. Stattdessen starte ich frohen Mutes in den Tag. Von dem bißchen Regen lasse ich mir nicht die Laune verderben. Zunächst stehen Waschen, Zähneputzen und Frühstücken auf dem Programm. Und wer weiß, wenn ich damit fertig bin, hat der Regen ja vielleicht auch schon aufgehört.

Tatsächlich ist das der Fall. Als ich den Frühstücksraum meiner Pension verlasse, auf mein Zimmer zurückkehre und einen Blick aus dem Fenster werfe, sind die Regenschleier verschwunden. Der Himmel sieht zwar immer noch so aus, als habe er sich heute in Asche gewandet, doch das stört mich nicht weiter. Solange es einigermaßen trocken ist, wird mich nichts davon abhalten, vor die Tür zu gehen. Allerdings erscheint es mir klug, dem regenschwangeren Wetter doch Rechnung zu tragen und keine Ausflüge in Gegenden zu unternehmen, in denen es vor vom Himmel herniederstürzendem Wasser keinerlei Schutz gibt. Da kommt es mir sehr zupaß, daß sich auf der Liste meiner Ausflugsziele für diesen Urlaub noch eines findet, das sich ganz wunderbar für solch einen Tag eignen könnte: Barth. Die auf dem Festland am südlichen Ufer des nach ihr benannten Boddens gelegene Kleinstadt ist, orientiert man sich an ihrer ersten urkundlichen Erwähnung, fast so alt wie Berlin. Tatsächlich ist sie älter, denn in eben jener Urkunde aus dem Jahr 1255 ist bereits von einer Stadt die Rede. Das könnte also ein für mich als an Geschichte Interessiertem ein lohnendes Ziel sein.

Auch sagen mir meine Erinnerungen, daß wir in unseren Urlauben zu den Zeiten meiner Kindheit und Jugend mehrfach in Barth gewesen sind. Ein Besuch dort gehörte in jedem Jahr einfach dazu. Vieles habe ich zwar mittlerweile vergessen, doch an die bereits geschilderte Fahrt über die Meiningenbrücke erinnere ich mich noch gut. Auch die Passage einer engen Durchfahrt durch eine Art Stadttor taucht aus den Tiefen meines Gedächtnisses auf, wenn ich an Barth denke; und aus irgendeinem Grund weiß ich noch, daß wir pro Besuch stets nur ein einziges Mal hindurchfuhren. In die Gegenrichtung führte der Weg immer an dem Stadttor vorbei, wohl weil es so eng war. Zwar erinnere ich mich noch gut, daß ich das jedesmal irgendwie enttäuschend fand, doch könnte ich heute nicht mehr sagen, ob das auf der Fahrt in die Stadt hinein gewesen ist oder beim Verlassen derselben. Nun, das werde ich ja vielleicht ergründen können, wenn ich mich jetzt auf den Weg dorthin mache.

Ein kurzer Blick auf den Busfahrplan, den ich über mein Smartphone abrufen kann, belehrt mich, daß ich mehr als ausreichend Zeit habe. Und weil ich weder große Lust verspüre, diese auf meinem Zimmer zu verbringen, noch ein langes Herumstehen an der nahegelegenen Bushaltestelle im Zentrum des Ortes sonderlich verlockend finde, entschließe ich mich zu einem Spaziergang zur Hafenstraße, wo sich, wie ich von meinem Prerow-Rundgang ein paar Tage zuvor weiß, eine weitere Busstation befindet. Bis ich dort bin, dürfte die Zeit bis zur Abfahrt des Busses schon fast heran sein.

Wegweiser in Prerow
Jede Menge Ziele. Mitten im Zentrum, an der Ecke Wald- und Bergstraße, steht dieser bunte, typische Prerower Wegweiser.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Vorüber an den bunten Prerower Wegweisern, die ich dieses Mal allerdings lediglich zu fotografischen Zwecken beachte, da ich sie zum Auffinden des mir bereits bekannten Weges nicht benötige, spaziere ich durch Berg- und Lange Straße der Hafenstraße entgegen.

An selbiger angekommen, habe ich wider Erwarten doch noch mehr Zeit übrig als erwartet. Eine reichliche Viertelstunde muß ich noch auf den Bus warten. Angesichts des nach wie vor tiefgrauen Himmels und der sich beharrlich hinter der Wolkendecke verbergenden Sonne erscheint es mir nicht sehr sinnvoll, diese Zeit mit Herumstehen an der Haltestelle zu verbringen, denn ohne die wärmenden Strahlen der Sonne wird mir an diesem Apriltag doch recht schnell recht kühl. So spaziere ich ein wenig in der Gegend herum und nehme sie in Augenschein. Zunächst fällt mir erneut das Wartehäuschen auf. Mit mir warten einige Personen, die trotz dieses sauertöpfischen Tages recht fröhlich gestimmt scheinen. Ein junges Mädchen in rotem T-Shirt und knielanger blauer Sommerhose, ausgestattet mit Sonnenbrille und Strohhut sitzt auf seinem blauen Koffer direkt neben drei Sitzen, die sämtlich frei sind. Auf deren anderer Seite steht eine junge Familie mit zwei Kindern. Die Eltern tragen beide lange blaue Hosen und schulterfreie Tops, die Kinder, ein Mädchen und ein Junge, stehen brav vor ihren Eltern und sind ebenfalls recht sommerlich angezogen. Etwas abseits wartet noch ein junger Mann mit Vollbart, der einen Rucksack über die Schulter geworfen hat und einen Koffer in der Hand trägt. Auch er ist lediglich mit knielangen Hosen bekleidet. Daß diese Gesellschaft Wartender bei diesem kühlen Wetter nicht friert und auch die freien Sitze beharrlich meidet, hat seinen Grund. Denn genau wie die Fenster des Häuschens sind alle diese Personen lediglich auf dessen Wand aufgemalt. Eine hübsche und durchaus passende Gestaltung für eine Bushaltestelle.

Die Bushaltestelle "Hafenstraße" in Prerow
Gemeinschaft im Wartestand – Das Wartehäuschen der Bushaltestelle an der Prerower Hafenstraße.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

In Berlin versucht man dergleichen auch immer wieder einmal, doch leider erweist sich ein solches Unterfangen stets als verlorene Liebesmüh, die Perlen vor die Säue streut, denn innerhalb kürzester Zeit sind tumbe Graffiti-Schmierfinken zur Stelle, um die mit viel Liebe gestalteten Wandbilder mutwillig zu beschmieren und so zu zerstören. Und das ist nicht nur in Berlin so. Auch andere der größeren deutschen Städte haben mit diesem Problem zu kämpfen. Es ist mir unbegreiflich, warum es nicht möglich ist, das in den Griff zu bekommen. Andere Städte dieser Welt schaffen das doch schließlich auch. Weder in Singapur noch in Auckland, Sydney, Melbourne, Adelaide oder auch Vancouver und Quebec habe ich derartiges in dem Ausmaß zu Gesicht bekommen, wie es in den Städten unserer heimischen Gefilde gang und gäbe zu sein scheint. Wenn es sich dabei wenigstens um Bilder mit zumindest etwas gestalterischem Anspruch handeln würde, ließe sich noch trefflich darüber streiten, ob das nun Ausdruck einer Art Subkultur oder einfach nur Geschmiere und Sachbeschädigung fremden Eigentums ist. Doch schaut man sich an, was da beispielsweise in Berlin an Hauswänden, Brückenpfeilern, Mauern, auf Fahrzeugen des öffentlichen Nahverkehrs und an sonstigen Flächen aufgesprüht wird, handelt es sich meist um irgendwelches unentzifferbares Gekrakel, mit dem seine Verursacher vermutlich lediglich eine Marke setzen wollen, die ihr Revier kennzeichnen oder auch nur ein profanes „Ich bin hier gewesen“ mitteilen soll. Am Ende ist es auch wieder nur eine neue Form des heute so allgegenwärtigen Hangs zur Selbstdarstellung. Solche Graffitis offenbaren lediglich die Geist- und Ideenlosigkeit ihrer Urheber. Vermutlich von ihnen ungewollt, doch dafür um so entlarvender. Besonders dreist und unverschämt wird es natürlich, wenn sie dabei die ästhetisch schönen und wertvollen Werke wirklicher Könner auf diesem Gebiet zerstören. Der Stadt und ihren Verantwortlichen scheint es egal zu sein. Ihnen fehlen ganz offenbar nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch der Wille, dies wirksam zu unterbinden. Doch wahrscheinlich ist dies nicht nur ein administratives, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Man kann wohl mit einigem Fug und Recht davon sprechen, daß eine Gesellschaft, die Derartiges widerspruchslos geschehen läßt, sich selbst längst aufgegeben hat – eine Feststellung, die ich einmal irgendwo gelesen habe, wobei mir leider entfallen ist, wo das gewesen ist und von wem sie stammt. Trotzdem erscheint sie mir wahr.

Auf meinem kleinen Streifzug durch die Umgebung der Bushaltestelle bin ich mittlerweile an der Straßenkreuzung angekommen, an der Hafen- und Strandstraße einander begegnen. Als ich ein paar Tage zuvor auf meinem Rundgang durch Prerow hier vorübergekommen war, hatte ich mich nicht allzu lange aufgehalten, denn viel gibt es wirklich nicht zu sehen. Der große Parkplatz, der nur eine zerfahrene Wiese ist, gegenüber die Darss-Passage mit dem Supermarkt und die Straßenkreuzung, an der sich ein kleiner Imbißstand befindet, der sich De lütt Eck nennt und als Prerows Snackbar bezeichnet. Viel mehr ist da nicht. Und doch, nun, da ich hier gewissermaßen die Zeit totschlagend herumlungere, bemerke ich zu meinen Füßen am Straßenrand, zwischen Fahrbahn und Gehsteig, eine Reihe von Blumenrabatten, die ganz offensichtlich liebevoll gepflegt werden und den Frühling in den Ort einladen. Und der hat das Anerbieten dankend angenommen und ist mit einer Reihe von Narzissen als Frühlingsboten in Prerow eingezogen, die mit ihren üppigen gelben Blüten dem heutigen Grautag einen willkommenen Farbtupfer bescheren.

Narzisse in Prerow
Bote des nahenden Frühlings – Narzisse am Prerower Straßenrand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Und als ich gerade noch sinnend auf die hübschen Blumen herunterschaue, entdecke ich ein Stück voraus in Richtung Ortsausgang den Bus. Die Tatsache, daß ich mich ein Stück von der Bushaltestelle entfernt befinde, muß mich allerdings nicht in Hektik versetzen, denn mittlerweile bin ich nach mehreren bereits absolvierten Busfahrten gut darüber informiert, wie sich die Sache mit den Fahrten des öffentlichen Personennahverkehrs in Prerow verhält. Zunächst wird der Bus die Haltestelle an der Hafenstraße ignorieren und direkt ins Zentrum fahren. Nachdem er alle dort wartenden Fahrgäste aufgenommen hat, wird er wenden und schließlich hierher zurückkommen, einen kleinen Abstecher zur Haltestelle an der Hafenstraße einlegen und mir so die Möglichkeit geben, ebenfalls zuzusteigen und die Fahrt nach Barth anzutreten. Bis dahin bin ich ganz gemütlich und in Ruhe zu der Haltestelle zurückgelaufen. Und genauso geschieht es dann auch.

Die Fahrt ist mir bereits hinlänglich bekannt. Wieder einmal passiere ich den Prerower Hafen, den Alten Bahnhof, die Hohe Düne, die Engstelle zwischen Ostsee und Prerower Strom und die Haltestelle Prerow Hertesburg, an der es auch heute keinen Halt gibt. Dann bin ich auch schon wieder in Zingst. Von hier aus geht die Fahrt weiter zur Meiningenbrücke, die wir überqueren, um über Bresewitz und Pruchten schließlich nach Barth zu gelangen. Nun, da ich nach meiner zwischenzeitlichen Beschäftigung mit der Darßbahn und ihrer früheren Route weiß, worauf ich zu achten habe, gelingt es mir, ihre einstige Trasse während der Fahrt nahezu die gesamte Wegstrecke über in der Landschaft auszumachen, folgt die Straße in ihrem Verlauf doch im wesentlichen dem der einstigen Darßbahn. Ab Bresewitz ist das sogar bedeutend leichter, da hier zu großen Teilen noch die alten Gleise liegen. Von Barth bis Bresewitz war die Bahn noch einige Jahre länger in Betrieb gewesen, bis dieser 1947 auch hier eingestellt wurde und man die Gleise entfernte. Allerdings hatte, wie ich bereits weiß, die Nationale Volksarmee der DDR genau zwanzig Jahre später diesen Abschnitt wiederaufgebaut, um ihn für Truppen- und Materialtransporte zu nutzen. Dafür errichtete sie nahe Bresewitz eine Laderampe, über die ihr Übungsplatz in den Sundischen Wiesen und ihr Stützpunkt in Zingst versorgt werden konnten. Bis zur sogenannten Wende im Jahre 1989 blieb die Strecke in Betrieb und ist daher heute noch samt Gleisen vorhanden. Als mein Bus Bresewitz im Süden des Ortes verläßt, kann ich auf der rechten Seite den einstigen Darßbahn-Haltepunkt des Ortes erkennen, an dem es zwar kein Bahnhofsgebäude gibt, wohl aber drei alte Güterwaggons, die dort noch herumstehen und langsam vor sich hinrotten. Und auch das alte Bahnhofsschild und ein Formsignal sind noch vorhanden.

Rund fünfundvierzig Minuten dauert die Fahrt. Als wir die Barthe, einen in den Barther Bodden mündenden, knapp fünfunddreißig Kilometer langen Fluß, überqueren und kurz darauf die ersten Häuser Barths erreicht haben, beginne ich zu überlegen, wo genau ich aussteigen will. Ich beschließe, nicht bis zum Bahnhof mitzufahren, sondern möglichst nah am Zentrum der kleinen Stadt auszusteigen. Gespannt warte ich darauf, irgendwo voraus das alte Stadttor zu entdecken, das heute morgen bereits aus meinen Erinnerungen aufgetaucht war. Werden wir hindurchfahren? Oder drumherum?

Kurz darauf habe ich die Antwort. Gerade als ich durch das Frontfenster des Busses weit voraus ein hohes turmartiges Gebäude mit einer Toröffnung am Boden ausmachen kann, schwenkt der Bus nach links, verläßt die darauf zuführende Straße und umfährt das Zentrum der Stadt weiträumig in Richtung Bodden. Wenige Minuten später kommt er an der am Hafen der Stadt gelegenen Haltestelle zum Stehen. Die Türen öffnen sich und ich steige aus.

Just diesen Moment sucht sich der Himmel aus, um den Regen wieder einsetzen zu lassen. Zwar nieselt es nur leicht, doch ich verspüre dennoch nur wenig Lust, draußen herumzulaufen, während unablässig Wasser von oben auf mich herunterfällt. Wollte ich lediglich ein paar Besorgungen machen, wäre das nicht weiter schlimm, doch für einen Stadtbummel eignet sich Regenwetter eher weniger. So beschließe ich, den Hafen später einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen, und mache mich auf den Weg zum nahegelegenen Marktplatz, wo, wie ich weiß, die Sankt-Marien-Kirche zu finden ist. Eine eingehende Besichtigung des Gotteshauses sollte dem Himmel ausreichend Gelegenheit geben, den Regen wieder einzustellen. Stadt und Hafen würde ich danach noch ausgiebig besichtigen können.

Von der am Hafen vorüberführenden Straße, in der der Bus gehalten hatte und die passenderweise den Namen Hafenstraße trägt, biege ich in die Fischerstraße ein. Bereits nach wenigen Metern passiere ich die einstige mittelalterliche Stadtmauer, was allerdings kaum zu bemerken ist, da sie nicht mehr steht. Lediglich die hier die Fischerstraße kreuzende Mauerstraße erinnert mit ihrem Namen an das historische Bauwerk, das die Stadt einst vollständig umgeben hat. Genau hier hat sich auch eines der vier Tore befunden, die damals Zugang zur Stadt gewährten. Im Pflaster der Straße hat man dessen Standort markiert, indem man links und rechts der mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Fahrbahn die diese begrenzenden Mauern des Turms angedeutet hat. Warum man dafür auf der rechten Straßenseite allerdings erhöhte, in die Fahrbahn hineinragende und sie so verengende Bordsteinkanten verwendet hat, während sich die Markierung auf der linken Seite eben in das Straßenpflaster einfügt, erschließt sich mir nicht so ganz. Aber wie heißt es doch: Die Genossen werden sich schon was dabei gedacht haben. Ich muß unwillkürlich schmunzeln, als mir diese Redewendung aus vergangenen DDR-Tagen durch den Kopf geht.

Die meisten Häuser in der Fischerstraße haben drei Stockwerke, deren oberes durch ein Spitzdach nach oben hin abgeschlossen wird. Bis auf wenige wenden sie ihre Giebelseite der Straße zu. Die Fassaden sehen nahezu alle wie aus dem Ei gepellt aus. Hier hat man in den letzten Jahren und Jahrzehnten ganz offensichtlich viel gemacht. Die Häuserfronten sind sauber verputzt, allerdings meist in nur einer Farbe, was sie ein wenig langweilig macht. Einige wenige Häuser durchbrechen dieses Einerlei jedoch. Eines präsentiert stolz seine Ziegelfassade, ein anderes zeigt sich in schlichtem Fachwerk. Und eines ist dabei, das wohl als das schwarze Schaf der Straße bezeichnet werden muß, denn es scheint ihm nicht gelungen zu sein, es zu etwas zu bringen. Der Putz ist fleckig braun und bröckelt hier und da bereits ab, wodurch er die darunter liegenden Ziegel freilegt. Die Fenster im Erdgeschoß hat man mit Brettern und Sperrholzplatten verrammelt, in den oberen Stockwerken ersetzen, wie es scheint, blinde Plastiktafeln die Scheiben der ansonsten leeren Fenster. Und an der Giebelspitze bröckelt bereits die Dachkante nach und nach weg. Hier wohnt ganz offensichtlich niemand mehr.

Als ich das Ende der Fischerstraße erreicht habe, stehe ich an der nordöstlichen Ecke des Marktplatzes. Sein großes Areal wird an allen vier Seiten von ebensolchen Häusern umstanden, wie ich sie bereits in der Fischerstraße angetroffen habe, allerdings mit dem Unterschied, daß den hiesigen ein viertes Stockwerk gestattet wurde. Doch auch hier sehen allesamt so aus, als seien sie nagelneu. Der Markt besitzt eine rechteckige Grundform, wobei die Ost-West-Ausdehnung die größere Länge aufweist. Nord- und Südseite werden jeweils von einer Baumreihe gesäumt, wobei man die Bäume so zurechtgestutzt hat, daß sie nicht nur einheitlich hoch sind, sondern daß ihre Kronen auch an der Unterseite eine gerade Linie bilden. Zwar sind die Äste um diese Jahreszeit noch kahl, doch wird trotzdem sehr deutlich, daß die Baumreihen wie zwei große, auf mehreren Baumstammstelzen ruhende Balken aussehen. Es ist mir ein ewiges Rätsel, warum sich Menschen die Mühe machen, Pflanzen in ihrem Wachstum so zu dressieren, daß sie strenge Formen und Linien, einheitliche Höhen und strikte Symmetrie einhalten. Das ist in meinen Augen nicht nur gemein, sondern auch ausgesprochen langweilig anzusehen. Mehr Glück hatte da der Baum, der auf der Ostseite des Marktes allein stehen darf. Ihm ist es gestattet, so zu wachsen, wie er will. Der Verzicht auf jegliche Symmetrie, jede Beschränkung in Breite und Höhe und die Wahrung irgendeiner vorgegebenen Form läßt ihn trotz seiner momentanen Laublosigkeit ungleich viel interessanter aussehen als seine bedauernswerten in Reih und Glied gezwungenen Artgenossen an den Seiten des Platzes.

Aufgrund des regnerischen Wetters wirkt der Platz heute etwas trist. Weil er, sieht man einmal von dem einzelnen Baum, dem achteckigen Brunnen mit den drei auf einer Ziegelsäule aufragenden Fischen in der Mitte und ein paar vereinzelt parkenden Autos ab, weitgehend leer ist, dominiert sein rotes Ziegelpflaster das Erscheinungsbild des Platzes. Es glänzt in der Nässe, die der Regen ausgiebig darauf verteilt. Kaum eine Menschenseele ist zu sehen. Wie es scheint, haben es die meisten Bewohner der Stadt vorgezogen, sich im Inneren der Häuser aufzuhalten, wo es warm und trocken ist. Nur wer unbedingt muß, ist jetzt draußen unterwegs. Und ich.

Über den Dächern der Häuser an der Westseite des Marktes, meinem Standort genau gegenüber, kann ich das Dach und den Turm der Sankt-Marien-Kirche aufragen sehen, die sich dahinter befindet. Und weil ich angesichts des Regens keine Veranlassung sehe, mich länger als unbedingt nötig draußen aufzuhalten, lenke ich meine Schritte zielstrebig dorthin. An der Nordwestecke des Marktes angekommen, gehe ich an den Häusern vorbei in die Papenstraße hinein und bin nach wenigen weiteren Schritten an der nördlichen Längsseite der Kirche angekommen.

Eine kleine Grünanlage trennt die Kirche von der ebenfalls mit Kopfsteinen ausgelegten Fahrbahn der Straße. Direkt an der Wand des Gotteshauses führt ein Weg entlang, den ich einschlage. Links neben mir ragen die Backsteinmauern des Kirchengebäudes in die Höhe, die in regelmäßigen Abständen von riesigen, dreigeteilten und nach oben hin in einem spitzen Bogen auslaufenden Kirchenfenstern unterbrochen werden – unmißverständliche Hinweise auf den Baustil der norddeutschen Backsteingotik, der dem Bau zugrundeliegt.

Wann der Grundstein für die Sankt-Marien-Kirche, die das bedeutendste Gotteshaus Barths ist, gelegt wurde, weiß man nicht genau. Vermutet wird, daß es um das Jahr 1250 herum geschah. Aus dieser Zeit stammt der Chor der Kirche, an dem ich als erstes vorübergekommen bin, denn er ist dem Marktplatz zugewandt. Den Namen Sankt-Marien-Kirche trug das in Bau befindliche Gotteshaus damals noch nicht. Dessen erste urkundliche Erwähnung findet sich erst 1340. Gebaut hat man gute zweihundert Jahre. Mit der Vollendung des Turms waren die Bauarbeiten im 15. Jahrhundert schließlich abgeschlossen. Zu dieser Zeit war die Kirche natürlich noch katholisch, schlug doch Martin Luther seine 95 Thesen erst im Jahre 1517 an die Tür der Wittenberger Schloßkirche, womit die Reformation offiziell begann. Und da die Bürger der Stadt damals recht wohlhabend waren und die katholische Kirche gegen Prunk nichts einzuwenden hatte, war die Innenausstattung des Gotteshauses zu jener Zeit noch recht prachtvoll. Das änderte sich jedoch, als die Reformation schließlich auch nach Vorpommern kam und Fuß zu fassen begann. Offiziell eingeführt wurde sie hier um 1535. Das hatte eine erste und gleichzeitig radikale Umgestaltung des Kircheninneren zur Folge. Entsprechend den neuen Ansichten hatte die Ausstattung einer Kirche schlicht zu sein. So entfernte man die prächtige Innenausstattung, die die Bürger der damals reichen Hafenstadt über die Jahre  der Kirche hatten angedeihen lassen, und ersetzte sie durch eine bedeutend einfachere Ausgestaltung.

Als sich Anfang des 19. Jahrhunderts die Aufklärung auch in den deutschen Landen durchzusetzen begann, erfuhr das Gotteshaus eine weitere Umgestaltung. 1820 wurde sie im Stil der Aufklärung renoviert und erhielt eine neue Orgel, die der Berliner Orgelbauer Johann Simon Buchholz gemeinsam mit seinem Sohn Carl August Buchholz schuf. Fast vierzig Jahre später kam es dann zu einer erneuten gravierenden Veränderung. Seit dem Jahre 1815 gehörte Pommern zum Königreich Preußen, dessen König Friedrich Wilhelm IV. der Provinz immer wieder einmal einen Besuch abstattete. Als er bei einer dieser Reisen auch einmal nach Barth kam und die Sankt-Marien-Kirche aufsuchte, mißfielen ihm deren in schlichtem Weiß gehaltene Innenbemalung und die nüchterne Ausstattung offenbar derart, daß er im Jahre 1857 eine umfassende Neugestaltung des Gotteshauses veranlaßte. Den Auftrag dazu vergab er an keinen Geringeren als den Architekten Friedrich August Stüler, einen Schüler Karl Friedrich Schinkels. Berliner sollten ihn als den Schöpfer des Neuen Museums, der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoje, der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel sowie der Kuppel des Berliner Stadtschlosses kennen. Passend zum gotischen Baustil des Kirchengebäudes verhalf Stüler dessen Innenraum zu seinem heutigen Erscheinungsbild, das er im Stile der Neugotik entwarf. Dieses selbst in Augenschein zu nehmen, bin ich mehr als gespannt.

Mittlerweile habe ich eine genau in der Mitte der Nordseite des Kirchenschiffes gelegene zweiflügelige Eingangspforte erreicht, deren Tür sich bei einem Druck auf die Klinke als offen erweist. Somit steht einem Besuch des Inneren der Sankt-Marien-Kirche nichts mehr im Wege und ich trete ein[1]Leider kann ich aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Gleich neben der Eingangstür stoße ich auf ein kleines Hinweisschild, das mir in strengem Ton das Folgende … [Weiterlesen].

Hatte ich erwartet, in einen von Dämmerlicht erfüllten Kirchenraum zu gelangen, so bin ich einigermaßen überrascht, als ich mich stattdessen in einem Kirchenschiff wiederfinde, das zwar von Licht nicht gerade überflutet wird, doch einen ausgesprochen hellen und freundlichen Eindruck macht. Verantwortlich dafür sind nicht nur die hohen, dreiteiligen und nach oben spitz zulaufenden Bogenfenster in den beiden Seitenschiffen, sondern auch die farbenprächtige Gestaltung des Raumes. Die Wände und die mächtigen, die drei Schiffe voneinander trennenden und das Gewölbe der Decke tragenden Pfeiler sind in einem hellen, sandsteinfarbenen Ton gehalten. Die einander kreuzenden Rippen dieses Gewölbes sind ebenso wie die spitz zulaufenden Bögen zwischen den Pfeilern rot und blau bemalt und teilweise mit Ornamenten verziert.

Auf dem Boden des Hauptschiffes stehen die Kirchenbänke, die zwischen den Pfeilern bis in die Seitenschiffe hineinragen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einfache, hintereinander aufgereihte lange Bänke, wie man sie aus vielen Kirchen kennt. Zwar sind die hiesigen, in hellem Grau gehaltenen Sitzgelegenheiten ebenfalls aus Holz und sehen mit ihren senkrechten Lehnen, die in strengen rechten Winkeln zur Sitzfläche stehen, auch genauso unbequem aus wie anderswo, doch hat man hier jeweils mehrere dieser Bänke zu Blöcken zusammengefügt, eingefaßt von hölzernen Wänden, die die gleiche Höhe wie die Banklehnen aufweisen und in denen Türen den Zugang zu den einzelnen Bänken gewähren. Es handelt sich um ein sogenanntes Kastengestühl.

Über dem Mittelgang, der zwischen den Kirchenbänken durch das gesamte Hauptschiff verläuft, hängen drei große Kronleuchter aus einem Metall, das ich für Messing halte. Der mittlere, heißt es, sei eine Stiftung Kaspar Kümmelbergs gewesen, der von 1577 bis 1655 lebte und in Barth Bürgermeister war. Die anderen beiden Leuchter hat der Stralsunder Gelbgießer Dominicus Slodt in den Jahren 1589 und 1590 geschaffen. Das Material dafür gewann man aus dem Deckel des Tauffasses, der dafür eingeschmolzen wurde.

Dieses Tauffaß ist ebenfalls noch in der Kirche vorhanden. Ich entdecke es direkt vor der Kanzel, die sich an der nördlichen Längsseite des Hauptschiffes am vom östlichen Ende aus zweiten Pfeiler befindet. Taufbecken habe ich in Kirchen schon viele gesehen, doch ein Tauffaß wie dieses noch nie. Auch als Tauffünte bezeichnet, gehört es zu den ältesten Stücken des Kircheninventars. Vollständig aus sogenanntem Rotmessing beziehungsweise Bronze bestehend, wurde es in der Zeit nach 1360 geschaffen. Daß mir ein so altes Taufbecken aus Metall ungewöhnlich erscheint, kommt nicht von ungefähr. Der ansonsten gebräuchliche Begriff Taufstein hat schließlich durchaus seinen Grund. Und tatsächlich ist das hiesige Exemplar die einzige erhaltene Bronzetaufe in ganz Vorpommern. Im Grundriß achteckig, zeigt das Faß, dessen Höhe ich auf etwa einen Meter und zwanzig Zentimeter schätze, an seinen acht Seiten jeweils zwei übereinanderliegende Reliefbilder. In jedem von ihnen stehen immer zwei Personen, die dem Kreis der Apostel, der christlichen Heiligen und der Figuren biblischer Geschichten entstammen. Am oberen Rand ragt an jeder der acht Kanten ein kleiner Kopf hervor. Menschen und Tiere sind dabei bunt gemischt. Unten ruht das Faß auf einem großen Fuß, dessen Standfläche den achteckigen Grundriß wiederholt. An vier der acht Seiten stehen darauf Figuren, die so gestaltet sind, daß sie das Faß auf ihren Schultern zu tragen scheinen.

An dem Pfeiler, vor dem das Tauffaß steht, windet sich eine steinerne Treppe zum Korb der Kanzel hinauf. Dieser zeigt an seinen Außenseiten in Feldern mit gotischen Formen als Relief gestaltetes steinernes Blattwerk. Die Felder wurden mit einem tiefblauen Hintergrund versehen, über dem sich die Ranken zu winden scheinen. Während an der unmittelbaren Vorderseite des Kanzelkorbes ein aufgeschlagenes Buch mit den beiden griechischen Buchstaben Alpha und Omega in das Blattwerk eingearbeitet wurde, sind es an den Seiten links und rechts davon Spruchbänder, ein Engel und ein Kelch. Am unteren Rand des Kanzelkorbes, der auf einem mächtigen Sockel ruht, blicken kleine Engelsköpfchen dem Betrachter entgegen. Nach oben hin wird die Kanzel durch eine Abdeckung abgeschlossen, die die Form eines gotischen Turmes besitzt und reich gegliedert ist. Im Gegensatz zum steinernen Kanzelkorb besteht diese Abdeckung aus tiefdunklem Holz.

Ausmalung und ornamentale Gestaltung wurden ebenso wie die Kanzel und die Emporen im Zuge der von Stüler vorgenommenen Umgestaltung entweder erneuert oder gänzlich neu geschaffen. Die Emporen befinden sich an den Seitenwänden der äußeren Kirchenschiffe sowie am westlichen Ende des Hauptschiffs. Während erstere aus Holz bestehen und nur eine Etage besitzen, ist die Westempore aus Stein gemauert und weist zwei Ebenen auf, von denen die obere die Orgel trägt. Das bereits vorhandene gewaltige Instrument hatte Stüler mit einem neuen Prospekt versehen lassen, der seinem Gesamtkonzept entsprechend im Stile der Neugotik geschaffen wurde. So bilden insbesondere Kanzel und Orgel eine gestalterische Einheit.

An einem der Pfeiler, deren Grundriß im übrigen ebenfalls achteckig ist – das scheint ein wiederkehrendes Motiv zu sein -, hat man an fünf seiner Seiten lange Tafeln angebracht, deren Form ebenfalls Elemente der Neugotik aufweist. Die darauf zu lesenden langen Namenslisten weisen sie ebenso wie die am oberen Ende sichtbaren Darstellungen von Kränzen und Eisernem Kreuz als Erinnerungsstätte für im Krieg gefallene Soldaten aus. Die Daten aus den Jahren 1914 bis 1918 zeigen, daß es sich um Soldaten handelt, die ihr Leben im Ersten Weltkrieg verloren und sicherlich alle aus Barth stammten. Insgesamt sind es 286 Namen, die für jedes Jahr nach den Ländern gruppiert sind, aus denen ihre Träger nicht zurückkehrten. Frankreich, Flandern, Rußland, Rumänien, Mazedonien – der Orte sind viele. Und wo man kein Land zuordnen konnte, hat man Gruppen wie „Lazarett“ oder „Auf See“ verwendet. Fast dreihundert Männer, an die der damalige Kriegerverein der Stadt mit diesen Tafeln erinnern wollte. Liest man anderswo, daß der Weltkrieg Millionen tote Soldaten zeitigte, ist das stets eine Größenordnung, die nur schwer Eingang in die eigene Vorstellungskraft findet. Doch die Zahl Dreihundert in Bezug zu einer Kleinstadt wie Barth läßt mit einem Mal deutlich werden, wie groß die Verluste an Menschenleben in diesem Krieg wirklich waren und wie sehr sie die Bevölkerung des Landes betrafen. Männer, die in fremde Lande auszogen, um dort irgendeinen Kampf zu kämpfen, der sie und ihr Leben eigentlich nicht betraf, und aus denen sie niemals zurückkehrten – zu ihren Familien, ihren Frauen und Kindern, ihren Müttern und Vätern, ihren Geschwistern, die von nun an ohne sie weiterleben mußten, betroffen von dem Verlust und dem vielleicht nie ganz zu verwindenden Schmerz darüber. Und dennoch wird die Menschheit nicht klüger. Dennoch werden bis zum heutigen Tage immer wieder Kriege geführt, in denen sich Soldaten gegenüberstehen und gegenseitig töten, die sich nicht einmal kennen und einander vorher nie etwas zuleide getan haben, die jedoch durch Kriegspropaganda so aufgehetzt wurden, daß sie ernsthaft glauben, sie kämpften für irgendeine gerechte Sache oder gegen einen bösartigen Feind und helfen, den Frieden zu sichern, indem sie Gewalt ausüben und töten. Und die Bevölkerung zu Hause wähnt sich derweil an der Heimatfront und übt sich in Haß auf den Gegner, in dem sie das personifizierte Böse zu erkennen glaubt, weil es in den Medien der Mächtigen tagtäglich so steht oder gesagt wird. Und keiner erinnert sich daran, was die älteren Generationen über vergangene Kriege erzählten, wieviel Leid sie brachten, wieviel sie unwiederbringlich zerstörten und welche Lehren man doch einst daraus gezogen zu haben glaubte, als man aus voller Überzeugung „Niemals wieder!“ gelobte. Hassen ist ja so einfach, besonders, wenn man über den vermeintlichen Gegner so gut wie nichts weiß, doch alles glaubt, was einem über ihn gesagt wird. Und so kommen zu den vergessenen Denkmälern vergangener Kriege nach und nach neue hinzu, wenn es denn nach den nächsten Kriegen noch Orte gibt, an denen man sie aufstellen kann, und wenn dann noch jemand da ist, der es tut. Nach dem zweiten der großen Weltkriege war das wohl schon nicht mehr der Fall, denn ein ähnliches Denkmal für die darin zu Tode gekommenen Männer Barths findet sich in der Kirche nicht. Vielleicht gab es einfach nur keinen Kriegerverein mehr, der das hätte tun können. Vielleicht waren es auch einfach zu viele Namen, die man hätte auflisten müssen, als daß sie an einen Pfeiler gepaßt hätten. Und wer weiß – wenn es demnächst erneut zu einem großen Krieg kommt, weil die Deutschen wieder einmal glauben, gegen den Russen in den Kampf ziehen zu müssen, weil die Medien ihnen das gesagt haben, dann wird es in dieser Kirche vielleicht nicht einmal mehr einen Pfeiler geben, an dem man ein weiteres Denkmal für die Gefallenen anbringen könnte…

Ich wende mich von den Tafeln mit den Namenslisten ab und gehe den Mittelgang des Kirchenschiffs entlang in Richtung des Chores, der sich am Ostende des Gotteshauses befindet. Ganz traditionell steht hier der Altar. Handelt es sich dabei zumeist um einen großen, mit einem Tuch verhängten Tisch, auf dem ein Kruzifix und vielleicht ein paar Kerzen stehen, so ist dieser hier etwas ganz Besonderes. Zwar gibt es auch hier einen großen Altartisch, doch ist dieser nicht komplett verhängt. Das große weiße Tuch, das ihn bedeckt, hängt nur an den Schmalseiten wenige Zentimeter herunter, doch insbesondere die Vorderseite läßt es frei. Hier hängt lediglich ein etwa ein Meter breites, hellgraues Leinentuch herab, auf dem ein goldfarbenes Kreuz und darüber eine ebensolche Krone eingestickt sind. Links und rechts davon kann man an den beiden seitlichen Enden des Tisches die beiden steinernen Säulen sehen, die ihn tragen, während die hintere Seite von einer massiven Rückwand abgeschlossen wird. Da diese lediglich unter der Tischplatte zu sehen ist und somit in tiefem Schatten liegt, kann ich leider nicht erkennen, ob sie aus Holz oder Stein besteht. Dafür ist die Kante der Altarplatte um so besser zu erkennen. Sie ist mit dicht aneinandergereihten goldenen Sternen verziert. Auf dem Altar stehen zwei große Kerzen auf schwarzen Leuchtern, zwischen denen man eine Vase aufgestellt hat, in der einige dicht mit weißen Blüten besetzte Zweige stecken. Hinter der Vase ragt ein übermannshohes Kruzifix mit einer marmornen Jesusfigur auf. Das beeindruckendste Accessoire des Altars ist jedoch der hohe Sandsteinbaldachin, der ihn überwölbt. Auf vier in einem Quadrat angeordneten starken Pfeilern ruhend, ist er ebenso wie Kanzelhaube und Orgelprospekt im neugotischen Stil gestaltet und sieht aus wie eine kleine Kirche in der großen. An jedem der vier Pfeiler befindet sich am Ansatz des Baldachin-Daches eine steinerne Statue. Die vier Seiten sind mit großen, spitz zulaufenden Bögen versehen, über denen sich jeweils ein dreieckiger Giebel befindet, auf dessen Spitze eine Engelsfigur steht. Im Inneren des Baldachins ist das Dach als Gewölbe gestaltet, dessen in der Mitte befindlicher Schlußstein die Figur einer weißen Taube trägt. Die Felder des Gewölbes sind mit tiefem Blau ausgemalt, auf dem sich eine Vielzahl goldfarbener Sterne befindet, was den schönen Eindruck erweckt, der Tisch des Altars befände sich unter einem prächtigen Sternenhimmel.

Einen solchen sogenannten Ziborium-Altar hatte Stüler ein paar Jahre zuvor bereits in der alten Berliner Garnisonkirche gestaltet[2]Ich habe darüber ausführlich in meiner Serie zur Geschichte der Berliner Garnisonkirche berichtet, die auf meiner Website Anderes.Berlin zu finden ist. Die Beschreibung des dortigen von Stüler … [Weiterlesen]. Dort war es ihm allerdings nicht möglich gewesen, ihn freistehend in der Mitte des Raumes zu plazieren, wie er das hier getan hatte, so daß der Altar gewissermaßen das Zentrum des Chorraumes bildet. In der Garnisonkirche hatte er ihn stattdessen mit der Rückseite an eine Wand anschließen müssen, was ihm andererseits jedoch die Möglichkeit geboten hatte, den Altar mit einem großen Altarbild über dem Tisch zu versehen. Heute wäre es sicher interessant, diese beiden Werke Stülers miteinander zu vergleichen, doch leider ist die Berliner Garnisonkirche im Zweiten Weltkrieg untergegangen – ein Schicksal, das ihr Ziborium-Altar teilte, auch wenn er sich zu dieser Zeit bereits nicht mehr im Kirchenraum befunden hatte, da er bei einem Umbau im Jahre 1899 von dort entfernt worden war.

Die Wände des Chorraums sind mit Scheinemporen versehen. Im unteren Bereich reihen sich als Spitzbögen ausgeführte Felder aneinander, die von als runde Säulen gestalteten Pilastern voneinander getrennt werden. Darüber ist eine Balustrade zu sehen, die den Anschein erweckt, als befände sich darüber eine Empore. Tatsächlich setzen sich jedoch, sieht man einmal vom ersten Drittel des Chorraumes ab, wo das tatsächlich der Fall ist, die Wände unmittelbar fort. Sie zeigen lebensgroße Darstellungen der zwölf Apostel, die der Maler Karl Gottfried Pfannschmidt, der in hiesigen Gefilden auch als Barths Michelangelo bezeichnet wird, im Rahmen der von Stüler konzipierten und geleiteten Neugestaltung der Kirche geschaffen hat. Die Freskenmalereien sind von beeindruckender Natürlichkeit und wirken regelrecht lebensecht. Die Apostel sind dabei jeweils paarweise angeordnet und scheinen in von gotischen Baldachinen überdachten Nischen zu stehen, die jedoch ebenfalls aufgemalt sind. Jeder von ihnen ist an charakteristischen Gegenständen zu erkennen, mit denen er in der biblischen Geschichte verbunden ist und die er in der hiesigen Darstellung bei sich trägt. Jacobus der Ältere beispielsweise trägt die Jakobsmuschel sowie Pilgerhut und -stab, während Petrus an dem Schlüssel zu erkennen ist. Paulus hält das Schwert und Johannes der Evangelist den Kelch mit der Schlange. Bei einigen von ihnen bedarf es allerdings der Kenntnis ihrer Attribute nicht, denn ihre Namen sind in die steinernen Sockel zu ihren Füßen eingemeißelt.

Die östliche Rückwand des Chores wird in der Mitte von einem riesigen Fenster eingenommen. Es ist wohl das einzige Buntglasfenster der Kirche und vorwiegend mit roten und blauen Ornamenten gestaltet. Nur in seiner Mitte ist eine große Mandorla[3]Eine Mandorla ist eine Glorie oder Aura beziehungsweise Aureole, die eine ganze Figur umgibt. zu sehen, in deren Innerem sich das Bildnis Der auferstandene Christus befindet. Es wurde im Jahre 1889 nach Entwürfen von Professor Andreas Müller geschaffen.

Als ich den Chorraum wieder verlassen will, komme ich an einem kleinen Ständer vorüber, der ein einfaches Textblatt trägt. Es weist mich auf zwei weitere von Karl Gottfried Pfannschmidt geschaffene Bildnisse hin, die sich im sogenannten Gurtbogen des Chores befinden. Der Gurtbogen ist der große steinerne Bogen, der gewissermaßen den Eingang in den Chor bildet und diesen vom Kirchenschiff abtrennt. Da ich meinen Blick beim Betreten des Chores auf den in dessen Zentrum befindlichen Altar gerichtet hatte, waren mir die beiden Gemälde völlig entgangen, obwohl sie sich doch in Augenhöhe und damit bedeutend tiefer als die Apostelfresken befanden. Aus dem Text erfahre ich, daß die Nordseite des Bogens Die Menschwerdung Christi zeigt, während auf der Südseite Die Auferstehung Christi zu sehen ist. Folgerichtig ist auf ersterem Gemälde die von den Hirten umgebene Maria zu sehen, die den neugeborenen Jesus auf ihrem Schoß hält, während das letztere den auferstandenen Heiland zeigt. Die Wahl der Themen für die beiden Gemälde, so heißt es in dem Text, geht auf Pfannschmidt selbst zurück, der sie vorschlug, nachdem Stüler im Anschluß an die Besichtigung der gerade fertiggestellten Apostelfresken angeregt hatte, daß man doch auch den unteren Teil des Gurtbogens noch mit weiteren Malereien Pfannschmidts versehen solle, um zu ermöglichen, daß die großartige Malkunst des Künstlers auch aus der Nähe gesehen werden könne. Und tatsächlich, so beeindruckend und schön die Darstellungen der Apostel im Chor der Sankt-Marien-Kirche auch sind, erst die Betrachtung dieser beiden Gemälde, die ich gewissermaßen direkt vor Augen nehmen kann, läßt mich die großartige Malkunst des Barther Michelangelo so richtig würdigen. Derart lebensechte Darstellungen habe ich in einer Kirche auf den dort üblichen Bildwerken selten zu sehen bekommen. Meist scheinen mir die Malereien religiös stark überhöht, die Figuren entrückt und weit jenseits gewöhnlicher Menschen zu sein. Ein Eindruck, der wahrscheinlich durchaus gewollt ist. Hier jedoch kann ich nicht umhin zu meinen, ganz gewöhnliche Menschen – im besten Sinne – vor mir zu sehen, wie man sie in jenen Zeiten allerorten hätte treffen können. Und doch strahlen die Gemälde gleichzeitig etwas Erhabenes aus, jedoch auf eine Weise, daß man sich als Betrachter nicht klein und weit davon entfernt fühlt.

Über ihren Schöpfer, den Maler Karl Gottfried Pfannschmidt, erfahre ich später noch, daß er, der ursprünglich aus Mühlhausen in Thüringen stammte, sein Leben in meiner Heimatstadt Berlin beendet hat und auf dem Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof bestattet wurde, wo sein Grab seit 1984 ein Ehrengrab der Stadt Berlin ist. Zu seinen Lebzeiten hatte er gemeinsam mit Peter von Cornelius an der Ausschmückung der Vorhalle des Alten Museums gearbeitet und mit Wilhelm von Kaulbach die Ausmalung des Treppenhauses des Neuen Museums vorgenommen. Manchmal muß man erst ein Stück in die Ferne reisen, um etwas über die eigene Heimat zu erfahren.

Ich bewundere die Bildnisse, den Altarraum und die gesamte Kirche noch eine Weile, doch schließlich habe ich alles eingehend in Augenschein genommen, so daß es Zeit ist, das Gotteshaus wieder zu verlassen. Langsam begebe ich mich zum Ausgang, wo ich durch ein Hinweisschild noch auf die Bibliothek der Kirche aufmerksam werde, die sich in der nördlichen Seitenhalle des Turmes befindet. Sie wurde bereits im Jahr 1398 erstmals erwähnt und umfaßt etwa viertausend vorwiegend kirchengeschichtliche Werke – Handschriften, Bücher und Drucke. Darunter sind nicht nur die umfangreiche Sammlung des Barther Reformators Johannes Block, sondern auch die Erstausgaben sämtlicher Schriften Martin Luthers sowie einige Schriften Philipp Melanchthons. Zwei Weltkriege hatten ihr glücklicherweise nichts anhaben können, so daß sie heute weitgehend vollständig erhalten ist. Leider ist sie nicht öffentlich zugänglich, so daß ich sie nicht selbst in Augenschein nehmen kann.

Als ich schließlich durch die seitliche Kirchentür, durch die ich hereingekommen war, wieder ins Freie trete, muß ich feststellen, daß der Wettergott die Zeit weidlich genutzt hat, um den Regen noch zu verstärken. Nun nieselt es nicht mehr nur, sondern pladdert regelrecht. Zwar kann ich auf dem Straßenbelag noch keine Blasen sich  bilden sehen, doch kann das auch daran liegen, daß dieser hier konsequent aus Kopfsteinpflaster besteht, von dem ich nicht weiß, ob Regen darauf üblicherweise Blasen bildet.

Nun, das ist weniger schön. Doch will ich mich davon nicht abschrecken lassen. Das wäre ja noch schöner, denke ich. Wie heißt es doch so treffend? Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unangepaßte Kleidung. Genau! Das bißchen Regen wird mich nicht davon abhalten, mir die Stadt anzusehen.

Mutig laufe ich los. Zunächst geht es zur Westseite der Kirche, denn in dieser Richtung muß, wie ich weiß, das alte Stadttor liegen. Schließlich war mein Bus vorhin von Westen aus in die Stadt hineingefahren. Dort angekommen, finde ich mich vor einem großen Eingangsportal wieder, dessen Spitzbogen von einer dreifach abgestuften Ziegeleinfassung gebildet wird und das damit dem Seitenportal, durch das ich die Kirche zuvor betreten hatte, recht ähnlich ist. Dort waren es allerdings vier Abstufungen gewesen. Die große, zweiflügelige Holztür ist fest verschlossen. Hier kommt niemand hinein oder hinaus. Glücklicherweise hatte ich den an der Nordseite gelegenen offenen Eingang zur Kirche bereits vorher gefunden.

Das westliche Eingangsportal der Barther Sankt-Marien-Kirche
Tag der geschlossenen Tür – Das Westportal der Sankt-Marien-Kirche in Barth läßt an diesem Tag niemanden in die Kirche.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Das Kopfsteinpflaster der Papenstraße, auf der ich unterwegs bin, glänzt vor Nässe, die vom niederprasselnden Regen beständig erneuert wird. Nur wenige Schritte weiter stoße ich auf eine Kreuzung, an der die Papenstraße auf die Dammstraße trifft. An der Ecke steht ein Wohnhaus, dessen prächtige rote Fassade aus einfachen Ziegeln besteht. Über und unter den Fenstern hat man mittels gelber Steine Verzierungen eingemauert. Und zwischen der oberen Etage und dem Erdgeschoß verläuft ein breiter Streifen aus ebensolchen gelben Ziegeln, als habe man das Gebäude mit einer Art zick-zack-gemusterten Bordüre versehen wollen. Das Haus ist der Länge nach entlang der Papenstraße ausgerichtet und wendet der Dammstraße seine schmale Giebelfront zu. Es wirkt mit seinen Verzierungen sehr hübsch, strahlt aber gleichzeitig mit seiner rohen Ziegelfassade eine gewisse Rustikalität aus. Obwohl seine sich in der Dammstraße anschließenden Nachbarhäuser alle eine ähnliche Form aufweisen, ist es leider nur noch eines von zweien unter ihnen, die über eine Backsteinfassade verfügen. Alle anderen Häuser wurden von ihren Besitzern verputzt. Zum Teil hat man dabei auch die klassische Aufteilung in Fensterachsen aufgegeben und stattdessen großformatige Fensteröffnungen geschaffen, die derart riesige Ausmaße haben, daß an den schmalen Giebelfronten nur je eine pro Etage Platz gefunden hat. Dafür ist jedes der Häuser in einer anderen Farbe gehalten, was dem Anblick eine angenehme Buntheit verleiht. Jedes der Gebäude wird nach oben hin durch einen dreieckigen Giebel abgeschlossen. Während sich einige dabei an die klassische geometrische Form halten, bevorzugen andere abgestufte Treppengiebel.

Die Dammstraße in Barth
Kleinstädtische Häuserfront in der Barther Dammstraße.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Der Blick in die Straße hinein offenbart mir nicht nur, daß ich weit und breit der einzige Mensch zu sein scheine, der bei diesem Wetter in der Stadt unterwegs ist, sondern auch die Richtigkeit meiner Annahme, daß sich in dieser Richtung das alte Stadttor befinden müsse, kann ich es doch weiter hinten aufragen sehen. Es nimmt die ganze Breite der schmalen Straße ein.

Es sind nur wenige Schritte zu gehen, dann habe ich das Tor auch schon erreicht. Steht man unmittelbar davor, wirkt es in seiner Wuchtigkeit unglaublich beeindruckend. Trotzig ragt der fünfunddreißig Meter hohe Torturm in den grauen, wolkenverhangenen Himmel auf. Die Straße führt direkt auf ihn zu. Nur widerwillig scheint er ihr Durchlaß gewähren zu wollen, denn die spitzbogige Toröffnung ist, obwohl schon die kopfsteingepflasterte Fahrbahn nicht eben breit genannt werden kann, noch einmal schmaler als diese. Darüber ragt die glatte, aus Ziegeln festgefügte Turmwand auf, bis sich im dritten Stock endlich zwei kleine Bogenfenster zeigen. Ob sie über Fensterscheiben verfügen oder einfach die schwarzen Löcher sind, als die sie von hier unten erscheinen, kann ich nicht erkennen. Der vierte Stock tut es dem dritten gleich, allerdings scheinen hier die Fenster schmaler zu sein. Die fünfte Etage besitzt anstelle von Fensteröffnungen nur mehr ein kleines Guckloch, das sich in einem Erker befindet, dessen unteres Ende ebenfalls eine Öffnung zu haben scheint. Und in der Tat – diese sogenannten Trauferker, von denen es an jeder Seite des Turmes einen gibt, waren als sogenannte Pechnasen gestaltet, durch die man auf etwaige Angreifer hätte siedendes Pech hinabgießen können. Darüber erhebt sich das Spitzdach des Turmes, das von einer Wetterfahne bekrönt wird und an jeder Ecke ebenfalls einen Erker aufweist. Diese vier weiteren Vorsprünge sind diagonal ausgerichtet, besitzen ihr eigenes kleines Spitzdach sowie Gucklöcher.

Das Dammtor in Barth
Trutzturm ohne Funktion – der Turm des Dammtores ist der letzte verbliebene Rest der einstigen mittelalterlichen Wehranlagen der Stadt Barth.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Natürlich war dieser Turm einst nicht als Einzelstück errichtet worden. Vielmehr war er Bestandteil der mittelalterlichen Stadtmauer, in der er gemeinsam mit seinen vier Kameraden, dem Langen Tor im Süden, dem Wiecktor im Osten und dem Fischertor am Hafen im Norden, einen gesicherten Durchgang in die Stadt bot. Er selbst trägt den Namen Dammtor, der auf den Hochwasserschutzdamm Bezug nimmt, der unmittelbar vor ihm begann. Errichtet wurde das Dammtor um das Jahr 1425 herum. Was man von außen natürlich nicht sehen kann, ist der Umstand, daß es im Inneren des Stadttores keine Treppen gab. Von Etage zu Etage gelangte man nur über Leitern, die man jeweils hochziehen mußte, wollte man die nächste Ebene erreichen.

Heute ist nur noch der trutzige Torturm erhalten. Zu Zeiten der Stadtmauer hatte das Dammtor jedoch noch ein vorgelagertes Vortor besessen, von dem der Weg bis zum eigentlichen Haupttor durch Mauern eingefaßt wurde. Auch einen doppelten Wassergraben hatte es gegeben, der vor der Stadtmauer lag und auf dem Weg vom Vor- zum Haupttor überquert werden mußte. Davon ist heute leider nichts mehr zu sehen. Vielmehr wirkt es so, als hätte jemand einst einen großen Turm errichten wollen, sich aber nicht sonderlich darum geschert, ob er mit ihm jemanden behindern oder stören würde, und ihn so mitten auf der Straße plaziert. Weder Stadtmauer noch Vortor noch Wassergraben sind heute noch vorhanden. Lediglich ein paar Reste schmiedeeiserner Torangeln in den Mauern der Durchfahrt zeugen davon, daß diese nicht immer so offengestanden hatte wie heute, sondern mit schweren Holzbohlentoren verschlossen werden konnte.

Warum das Dammtor nicht wie seine anderen drei Pendants und die Stadtmauer insgesamt im 19. Jahrhundert abgerissen wurde, scheint heute nicht ganz klar zu sein. Die an seinen Mauern angebrachten Texttafeln, die ein wenig aus der Geschichte der Barther Wehranlagen plaudern, wissen dazu leider nichts Genaueres zu berichten. Noch im 20. Jahrhundert hatte man Pläne dafür gemacht, doch letztlich lediglich ein paar angrenzende Häuser abgerissen. So blieb das Dammtor als einziges der einstigen vier Stadttore Barths bis zum heutigen Tag erhalten. Daß hier allerdings der Bus, der mich in die Stadt gebracht hatte, nicht versuchte, durch die Toröffnung zu fahren, leuchtet mir angesichts ihrer Enge unmittelbar ein. Er wäre, hätte er es getan, wohl geradewegs steckengeblieben. Mit unserem kleinen Trabant 601 S war das hingegen damals kein Problem gewesen, und so ist mir die Durchfahrt durch das Tor nach wie vor in Erinnerung. Heute kann ich immerhin hindurchlaufen. Und das tue ich auch. Schon, um wenigstens für ein paar Sekunden einmal nicht im Regen zu stehen.

Da es in der Barthestraße, die die Dammstraße auf der anderen Seite des Torturms fortsetzt, nichts weiter zu sehen gibt, was für mich von Interesse wäre, wende ich mich wieder um und gehe in die Stadt zurück. An der Ecke Dammstraße und Papenstraße würdige ich noch einmal den prachtvollen Anblick der Sankt-Marien-Kirche, von dem ich vorher, als ich in der Gegenrichtung unterwegs gewesen war, keine Notiz genommen hatte.

Die Sankt-Marien-Kirche in Barth
Norddeutsche Backsteinromantik – die Barther Sankt-Marien-Kirche.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Ich gehe nun auf dieser, der Südseite der Kirche entlang, die ebenfalls durch eine kleine Grünanlage von der Straße getrennt ist. Auch hier gibt es ein in der Mitte der Kirchenwand gelegenes zweiflügeliges Portal, das den anderen beiden stark ähnelt, sich andererseits jedoch von ihnen dadurch unterscheidet, daß auf den Türflügeln zwei große preußische Kreuze zu sehen sind. Auch ist der Spitzbogen hier wieder mit vier Abstufungen versehen. Die Prüfung, ob die Tür offen oder verschlossen ist, spare ich mir diesmal allerdings und gehe weiter an der Grünanlage entlang. An ihrem östlichen Ende stoße ich auf einen großen metallenen Gegenstand, der hier auf der Rasenfläche abgelegt worden ist. Es handelt sich um eine große Glocke, die bei mir mit ihren beeindruckenden Ausmaßen einigen Eindruck schindet.

Eine Grünanlage scheint mir allerdings ein eher ungewöhnlicher Aufbewahrungsort für eine Kirchenglocke – denn um eine solche handelt es sich bei dem guten Stück unzweifelhaft – zu sein. Ganz sicher wird sie hier an diesem Ort keinen Ton mehr produzieren. Doch das muß sie auch nicht, denn sie ist eine der beiden Eisenglocken, mit denen man im Jahre 1925 die zwei kleineren der insgesamt drei Glocken der Kirche ersetzte. Weil Eisen jedoch als Glockenmaterial nicht sonderlich gut geeignet ist, da es nach nicht allzu langer Zeit ermüdet, mußte man die beiden Glocken bereits runde siebzig Jahre später stillegen. Das war 1997. Während die eine von ihnen im Stockwerk unterhalb der Glockenstube in der Kirche verblieb, legte man die andere an dieser Stelle vor der Kirche ab. Die dritte im Bunde, die große Glocke, wurde im Jahre 1911 gegossen, wobei man sich allerdings – wie bereits zweimal zuvor – an der 1585 gegossenen ersten Glocke orientierte. Vielleicht wollte man neben der Rücksicht auf Traditionen auch den mit ihr verbundenen Superlativ nicht verlieren, ist sie doch die zweitgrößte Bronzeglocke Vorpommerns.

Die Sankt-Marien-Kirche in Barth
Was macht eine Glocke auf dem Rasen? – Die ausrangierte Kirchenglocke von Sankt Marien in Barth.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Nach wie vor prasselt der Regen ununterbrochen hernieder. Und wie ich mir nun eingestehen muß, ist es ihm mit seiner unverminderten Stärke mittlerweile gelungen, meinen Trotz, den ich ihm zuvor beim Verlassen der Kirche entgegengebracht hatte, Stück für Stück aufzuweichen. Zwar hält ihn meine Regenjacke nach wie vor wirksam von mir ab, doch erweist sich ein Stadtbummel bei Dauerregen dann doch als wenig erbauliche Angelegenheit, zumal inzwischen auch die Kälte beginnt, vom Boden aufzusteigen, meine Schuhe und Strümpfe zu überwinden und meine Beine hinaufzuklettern. So erkenne ich denn zähneknirschend den Sieg des Wetters über meine Pläne und meinen Willen, ihm zu trotzen, an und beschließe schweren Herzens, meinen Ausflug abzubrechen und zurückzufahren.

Ist eine Entscheidung, so ungeliebt sie auch sein mag, einmal gefallen, setzt sie doch neue Energie frei. Und auch das Denken und die eigene Stimmung passen sich unmittelbar daran an, wie ich interessiert an mir selbst beobachten kann. War ich zuvor noch voller Enthusiasmus gewesen, mir alles in der Stadt anzusehen, Neues zu entdecken oder auch auf alte Erinnerungen zu stoßen, so bin ich nun, da ich beschlossen habe, den Regen Regen sein zu lassen und nach Prerow zurückzukehren, nur noch daran interessiert, zu einer Bushaltestelle zu gelangen, wo ich mich in einen Bus setzen und Kälte und Regen für eine Weile entkommen kann. Nun, vielleicht ist es aber auch das Mißempfinden, das mich angesichts fortdauernder Nässe und aufsteigender Kälte befallen hat, das es mir jetzt verleidet, irgendwo noch einmal anzuhalten und eine schöne Hausfassade oder einen anderen interessanten Ort zu bewundern. Nicht gerade mißmutig, doch konsequent verfolge ich mein neues Vorhaben und gehe raschen Schrittes zurück zum Marktplatz und von dort durch die Lange Straße direkt zum Bahnhof. Ich hätte auch zurück zum Hafen gehen können, was vielleicht geringfügig näher gewesen wäre, doch erscheint mir das Warten auf den Bus am Ufer des Boddens, wo der Wind ungehindert wehen und mir den Regen um die Ohren schlagen kann, als die weniger attraktive Alternative.

Von der Langen Straße registriere ich auf meinem Weg eigentlich nur noch, daß sie wohl die Hauptgeschäftsstraße der Stadt ist, denn ich komme an einer Vielzahl von Geschäften aller Art vorüber. Auch daß es hier einige sehenswerte Gebäude gibt, deren eingehendere Betrachtung sich lohnen würde, bemerke ich zwar durchaus wohlwollend, doch weil der Regen seine Intensität nun sogar noch einmal verstärkt hat, weiche ich von meinem gefaßten Entschluß dennoch nicht ab. Ihre Besichtigung wird einem zukünftigen weiteren Besuch in Barth ebenso vorbehalten bleiben müssen wie die des Hafens, den ich eigentlich nach meiner Besichtigung der Kirche noch einmal hatte aufsuchen wollen. Ich setze daher gedanklich einen weiteren Barth-Besuch auf die Liste meiner zukünftigen Vorhaben.

Am Ende der Langen Straße angekommen, befinde ich mich direkt am Bahnhof. Ich setze mich in eines der Wartehäuschen, die sich an dem angeschlossenen großen Parkplatz befinden. Als einige Zeit später der Bus vor mir hält, steige ich ein und fahre den Weg zurück, den ich gekommen bin. Der Regen hört während der gesamten Fahrt nicht auf und prasselt auch auf mich herunter, als ich in Prerow von der Bushaltestelle im Zentrum des Ortes zu meiner Pension gehe. Wie es scheint, umfaßt das Regengebiet mittlerweile nicht nur Barth, sondern die gesamte Region der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst.

Es ist früher Nachmittag, als ich schließlich mit leidlich nasser Regenjacke, doch nicht durchnäßt durch die Tür meines Zimmers trete. Ich werde wohl den Rest des Tages hier verbringen müssen. Nun gut, dann soll es eben so sein.

Ich verfolge einige Zeit das Fernsehprogramm, das mir eindrücklich vermittelt, warum es vor einigen Jahren eine ausgesprochen gute Idee war, den Fernseher aus meiner Wohnung zu verbannen. Was man dort an einem Nachmittag wie diesem geboten bekommt, ist kaum anders zu bezeichnen als mit Volksverblödung.

Da gibt es Quizsendungen, in denen die Fragen entweder so trivial sind, daß man sie auch noch beantworten kann, wenn man sein Gehirn im Tanzbein aufbewahrt, oder so abgehoben, daß selbst ein Hochschulstudium einem keine Chance einräumt, über derartiges Nischenwissen zu verfügen.

Auf einem anderen Kanal läuft eine Sendung, in der sich die Protagonisten redlich mühen, eine Gerichtsverhandlung zu simulieren. Weil das aber so billig wie nur irgend möglich produziert wird, sind die Darbietungen der Darsteller, bei denen es sich ganz offensichtlich um Laienschauspieler handelt, derart schlecht, daß jede Schulaufführung dagegen als hohe Schauspielkunst durchgeht. Von der hanebüchenen Story gar nicht zu reden. Wäre diese wirklich wahr, wie man offenbar den Anschein erwecken möchte, müßte man sich als Zuschauer ernsthaft fragen, ob es bei der Polizei eigentlich noch Ermittler gibt, die ihren Beruf verstehen. Offenbar nicht, denn in jeder dieser simulierten Gerichtsverhandlungen müssen die Anwälte und Richter es übernehmen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, was ihnen natürlich stets durch ihre überragenden Fragen gelingt. Und wo die doch einmal nicht weiterhelfen, tritt garantiert irgendein unglaublicher Zufall auf den Plan, der sich natürlich immer genau zum Zeitpunkt dieser Gerichtsverhandlung ereignet. Der Stuß könnte größer nicht sein und beleidigt die Intelligenz des Zuschauers.

Der Rest des Angebots fällt allerdings auch in diese Kategorie oder, was noch schlimmer ist, in die der regelrechten Menschenverachtung. Wer will, kann dabei zusehen, wie Leute aus den untersten Schichten der Gesellschaft, die dafür wahrscheinlich ein paar dürftige Euro kriegen, vor die Kamera gezerrt und bloßgestellt werden. Hier versuchen schwer Übergewichtige abzunehmen und scheitern dabei, dort probieren notorisch Abgebrannte dies und das, um ihre Schulden zu vermindern, was ihnen jedoch nicht gelingt. Und stets sind scheinbar selbstlose Helfer zur Stelle, die letztlich jedoch nichts anderes tun, als diese Menschen vorzuführen und der allgemeinen Lächerlichkeit preiszugeben.

Und dann sind da noch die ganzen anderen Formate, die als Realitätsfernsehen beziehungsweise Reality TV angepriesen werden und doch nur aus einer Aneinanderreihung genauso gestellter Szenen bestehen, wie es bei den Gerichtsshows bereits der Fall ist. Da kann man als Zuschauer Polizisten auf Streife begleiten oder Anwälten bei ihren Ermittlungen über die Schulter sehen, die sie mit der Hilfe von Privatdetektiven offenbar selbst anstellen müssen, weil die Polizei dafür keine Zeit mehr hat, da sie doch das Fernsehen auf Streife mitnehmen muß.

Das Nachmittagsprogramm des deutschen Fernsehens ist nach meinem Empfinden mittlerweile durch die Bank so dämlich, daß es definitiv besser ist, man schaltet den Fernseher umgehend wieder aus. Und weil es mit dem Programm zu anderen Tageszeiten nicht viel besser aussieht, habe ich den Fernseher bereits vor einigen Jahren komplett aus meinem Leben verbannt.

Nachdem ich mich nun also davon überzeugt habe, daß es in der Zeit seitdem mit dem Fernsehen nicht besser, sondern eher noch schlimmer geworden ist, schalte ich den Kasten, der heute ja keiner mehr ist, sondern genauso flach wie das Programm, das er zeigt, aus. Mir gefällt der Gedanke, daß sich das Empfangsgerät gewissermaßen dem Inhalt angepaßt hat.

Ich greife zu einem guten Buch und verbringe den Rest dieses regnerischen Tages zufrieden und ohne Gram über die widrigen Umstände in dem Zimmer meiner Pension. So ein Nachmittag der Ruhe ist ja eigentlich auch mal ganz schön…

Sie können alle Fotos auch direkt auf Flickr anschauen.
Für alle Fotos gilt die folgende Lizenz:

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

Referenzen

Referenzen
1 Leider kann ich aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Gleich neben der Eingangstür stoße ich auf ein kleines Hinweisschild, das mir in strengem Ton das Folgende verkündet:
„Ton-, Film-, Foto- und Videoaufnahmen sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Die Veröffentlichung von Aufnahmen, auch im Internet, ohne Genehmigung ist verboten!“
So muß in diesem Falle das Wort genügen, um einen Eindruck des Kircheninneren zu vermitteln.
2 Ich habe darüber ausführlich in meiner Serie zur Geschichte der Berliner Garnisonkirche berichtet, die auf meiner Website Anderes.Berlin zu finden ist. Die Beschreibung des dortigen von Stüler geschaffenen Ziborium-Altars nebst einem Bild findet sich im fünften Teil der Serie, der den Titel Die zweite Garnisonkirche: Neuanfang und Wiederaufstieg trägt.
3 Eine Mandorla ist eine Glorie oder Aura beziehungsweise Aureole, die eine ganze Figur umgibt.

Zwischen Bodden und Meer

Dieser Beitrag ist Teil 4 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Stille.

Ringsum ist kein Laut zu hören. Das ist zumindest mein erster Eindruck, als ich hier, mitten im Dünenwald, für ein paar Minuten innehalte und lausche. Gerade ist die zehnte Stunde des Tages abgelaufen, und auf dem namenlosen Waldweg inmitten der zahllosen Kiefern läßt sich keine Menschenseele entdecken.

Stille.

Wie bereits zwei Tage zuvor malt die Sonne wieder helle Lichtflecken auf den von niedrigen Sträuchern bestandenen Waldboden. Und der Himmel über den Wipfeln der Bäume erstrahlt in einem satten tiefen Blau.

Stille.

Das ist zumindest das, was meine die Großstadt gewöhnten Ohren, geeicht auf deren nahezu ununterbrochenen Lärm, der des Nachts lediglich ein wenig abflaut, doch nie ganz verschwindet, mir zunächst übermitteln. Es dauert seine Zeit, bis sie wahrzunehmen beginnen, daß da mehr ist. Zunächst dringt ein sachtes Rauschen in mein Bewußtsein, zwar nur leise, aber doch vorhanden; mal anschwellend, dann wieder abflauend; eben noch säuselnd und weit entfernt, so daß ich es für das Rauschen des hinter den Dünen gelegenen Meeres halten könnte, ist es plötzlich direkt über mir und um ein Vielfaches lauter, läßt mich unwillkürlich den Blick zu den Kronen der Kiefern heben, die sich sanft hin- und herwiegen. Und gleich entfernt es sich wieder, wird leiser und leiser, bis es schließlich kaum noch zu vernehmen ist. Doch da scheint es auch schon zurückzukehren, nimmt wieder zu und dringt erneut an mein Ohr. Nein, das sind nicht die Wellen des Meeres, das ist der Wind, der an diesem Morgen gemächlich über den Dünenwald streicht, mit den Baumwipfeln spielt und sie gewissermaßen zum Klingen bringt. Und auch die Stämme der Bäume stimmen ein, denn auf einmal nehme ich ein tiefes Knarren und Knarzen wahr, das, so scheint es mir, irgendwie zufrieden klingt, so als ob die Bäume glücklich darüber wären, sich hin- und herwiegen zu können, sich dabei zu strecken und zu dehnen. Und irgendwie verstärken diese Töne des Waldes in mir den Eindruck absoluter Ruhe, die sich für mich nun allerdings nicht mehr als Geräuschlosigkeit ausdrückt, sondern als die Abwesenheit jeglichen unkontrollierten Lärms und Stresses.

Im Prerower Dünenwald
Ein Morgen im Dünenwald.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

In dieser Stimmung angekommen, nehme ich plötzlich auch andere Geräusche wahr. Von irgendwo ertönt der fröhliche Ruf eines Vogels, der um so stärker in mein Bewußtsein dringt, als das Federvolk an diesem Morgen offenbar beschlossen hat, kein lautstarkes Konzert zu veranstalten, sondern ebenfalls die Ruhe des Waldes zu genießen; eine Ruhe, die der irgendwo auf einem Ast sitzende kleine Piepmatz mit seinem fröhlichen Zwitschern nur unterstreicht. Und was war das?! Hat da nicht eben etwas hinter mir geraschelt? Da! Schon wieder! Je länger ich hier innehalte und lausche, desto mehr Geräusche dringen an mein Ohr und überschreiten die Schwelle meiner Wahrnehmung. Geräusche, die ich sonst im Lärm der Großstadt nie zu hören in der Lage bin. Regungslos stehe ich noch eine ganze Weile mitten im Wald und höre zu…

Daß ich mich um diese Zeit bereits hier im Dünenwald aufhalte, hat seinen Grund. Ich bin unterwegs zu einer Verabredung, die ich allerdings nicht mit einer Person, sondern mit einer Unternehmung habe, die für den heutigen Vormittag geplant ist und für die das Wetter gar nicht besser sein kann. Mein Ziel ist der im Prerower Strom gelegene Hafen. Als ich am gestrigen Abend dort vorübergekommen war, hatte ich herausgefunden, daß man Schiffstouren durch den Strom anbot, die bis in den Bodstedter Bodden führen. Und nach all der Lauferei in den letzten drei Tagen hatte ich spontan beschlossen, daß mir für heute ein Ausflug ganz gut täte, bei dem ich es etwas ruhiger würde angehen können. Und so bin ich nun unterwegs zur Anlegestelle, wobei ich mir anstelle des Weges durch den Ort, die Hauptstraße entlang einen kleinen Umweg gönne, der mich den Hauptübergang entlang zum Strom und darüber hinweg hierher in den Dünenwald geführt hat.

Nach der morgendlichen Andacht im Wald innerlich zur Ruhe gekommen, setze ich schließlich meinen Morgenspaziergang fort. Der Weg, in den ich vom Hauptübergang eingebogen bin und dem ich nun folge, verläuft in östlicher Richtung durch den Dünenwald, bis er eine scharfe Biegung nach Südosten macht und kurz darauf den großen Deich erreicht. Ich treffe dort an genau der Stelle ein, wo ich tags zuvor zur Seemannskirche abgebogen war. Geradeaus über den Deich hinweggehend, folge ich auch heute dieser Route, lasse jedoch, als ich sie erreicht habe, die kleine Kirche und den sie umgebenden Friedhof hinter mir und gehe weiter zur Straße, die Prerow hier verläßt und hinüber nach Zingst führt. Dort angekommen, sind es nur noch ein paar Meter bis zum Hafen. Da ich jedoch trotz meines Verweilens im Wald bis zur Abfahrt meines Schiffes noch mehr als eine Stunde Zeit habe, wende ich mich anstatt nach rechts in die entgegengesetzte Richtung, wo, wie ich weiß, der alte Prerower Bahnhof zu finden ist. Wenn ich schon einmal in dieser Gegend bin, dann will ich doch auch einmal einen Blick darauf werfen.

Es sind nur wenige Meter bis dorthin. Die Straße macht einen kleinen Schwenk nach links und gibt so den Platz frei für ein Gelände, das von einem großen roten Ziegelbau dominiert wird, der seine Herkunft eines alten Bahnhofsgebäudes kaum verleugnen kann. Da er parallel zur Straße ausgerichtet ist, wendet er mir seine westliche Schmalseite zu, die von sechs großen Bogenfenstern dominiert wird, deren fünf unmittelbar nebeneinander liegen, während das sechste sich in einigem Abstand zu diesen an der abgeschrägten Hausecke befindet. Bei genauerem Hinsehen stelle ich fest, daß es sich bei einem der fünf Fenster eigentlich um eine Tür handelt. An dieser bemerke ich auch den ersten deutlichen Hinweis auf die Eisenbahnvergangenheit des Gebäudes, denn in dem über ihr befindlichen oberen Bogenfeld ist der Flügel eines einstigen Formsignals zu sehen. Der zweite untrügliche Hinweis besteht in der ebenfalls bogenförmigen Aufschrift, die an der Ziegelwand zwischen dem abgesetzten Fenster und den anderen fünf angebracht worden ist. Alter Bahnhof steht dort weithin sichtbar. Und darunter: Restaurant. Wahrscheinlich ist es hinter den aneinandergereihten Bogenfenstern zu finden, die den Eindruck vermitteln, zu einem größeren Saal zu gehören.

Der alte Bahnhof in Prerow
Wo einst das eiserne Roß schnaufte… – der alte Bahnhof von Prerow.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Über diesem Erdgeschoß türmt sich bereits das schwarze Dach des alten Gebäudes, das in mehreren Abstufungen schräg nach oben aufragt und wenigstens einer weiteren Etage unter sich Platz gewährt. Tatsächlich ist es höher als die Ziegelwand und die Fenster, die das zu ebener Erde gelegene Geschoß bilden. Als ich der Straße weiter folge, um neben das Gebäude zu gelangen, kann ich nach und nach seine gesamte, dieser zugewandte Längsseite in Augenschein nehmen und dabei weitere Hinweise auf die mit der Eisenbahn in Verbindung stehende Geschichte des Hauses entdecken – wie die aus der Hauswand ragende kreisrunde Bahnhofsuhr mit ihrem schwarzen Rahmen, die sich, wie es sich für eine gute Bahnhofsuhr gehört, beharrlich weigert, die korrekte Zeit anzuzeigen. Am davor verlaufenden Zufahrtsweg steht ein dreieckiges Verkehrsschild mit rotem Rand, auf dem eine schwarze Dampflokomotive zu sehen ist. Der unbeschrankte Bahnübergang, vor dem es warnt, ist allerdings nirgends zu finden.

Die Mitte des Gebäudes wird von einer nach oben hin spitz zulaufenden Giebelwand gebildet, in der sich unzweifelhaft der Haupteingang befindet, über dem sich der bogenförmige Schriftzug Alter Bahnhof wiederholt. Der Zusatz Restaurant fehlt hier zwar, doch gibt es eine andere Ergänzung. Denn mag man früher auch als Reisender durch diese Tür den Bahnhof betreten haben, so verkündet die Aufschrift auf dem der Tür vorgelagerten Baldachin in großen Lettern nun, wohin man heute gelangt, wenn man sie durchschreitet. HOTEL ist dort zu lesen. Die drei Sterne über dem Buchstaben in der Mitte des Wortes machen deutlich, daß es sich durchaus um ein Etablissement mit Anspruch handelt. Unmittelbar vor diesem Haupteingang sind auch die beiden deutlichsten Hinweise darauf zu finden, daß dies hier einst ein Bahnhof war: ein intaktes Formsignal mit einem schräg nach oben ragenden Flügel, der der darunter auf einem Gleisfragment aufgestellten kleinen Diesellokomotive vom Typ Kö II des Herstellers Krupp freie Fahrt anzeigt – ein Hinweis, der angesichts des direkt vor der Lok aufgestellten Prellbocks etwas ironisch wirkt.

Der alte Bahnhof in Prerow
Es fährt ein Zug nach nirgendwo… – die alte Diesellok Kö II vor dem alten Bahnhof in Prerow.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Ein Hotel also. Da ergeht es diesem alten Bahnhofsgebäude definitiv besser als manch anderem seiner Geschwister an den Bahnstrecken in ganz Deutschland, die man mittlerweile stillgelegt hat, um lieber die Kosten und Profite zu optimieren als die der Bevölkerung zur Verfügung gestellten Verkehrsverbindungen. Und selbst an Bahnstrecken, die noch in Betrieb sind, verfallen viele der einst stolzen Bahnhofsgebäude, weil ihre Erhaltung Geld kosten und so die genannten Profite schmälern würde. Dieser alte Bahnhof hingegen sieht ausgesprochen gepflegt und gut erhalten aus.

Daß hier ein Zug hielt, ist schon viele Jahre her. Die Geschichte der hiesigen Eisenbahn begann im Jahre 1888, als man zwischen Velgast und Barth eine neu geschaffene Zugverbindung in Betrieb nahm. Weil jedoch die Zahl der Badegäste, die des Sommers in die hiesigen Ostseebäder strömten, stetig zunahm, entschloß man sich zwanzig Jahre später, die Strecke über Zingst bis nach Prerow zu verlängern. Bereits nach nur zwei Jahren Bauzeit ging die sogenannte Darßbahn in Betrieb. Sie war ein überwältigender Erfolg. In kürzester Zeit mußten die Dampfschifflinien, die bis dahin das Monopol auf die Verkehrsverbindung zum Festland hatten, ihren Betrieb einstellen. Mit der Eisenbahn und deren unbestreitbarem Vorteil, ihren Betrieb auch im Winter uneingeschränkt aufrechterhalten zu können, waren sie nicht in der Lage zu konkurrieren. Jahr für Jahr erreichte die Darßbahn steigende Fahrgastzahlen.

Das Sturmhochwasser von 1913, das die Strecke beschädigte, und der kurz darauf Europa verheerende Erste Weltkrieg sorgten dann jedoch für einen großen Einbruch, von dem sich die Bahn auch in den 1920er Jahren nicht so recht erholen konnte, als Deutschland von verschiedenen ökonomischen Krisen heimgesucht wurde. Erst die dreißiger Jahre brachten wieder einen Aufschwung, mit dem die Darßbahn an ihre einstige Bedeutung, die sie vor dem Ersten Weltkrieg hatte, anknüpfen konnte.

Der Zweite Weltkrieg brachte mit seinen Folgen schließlich das Ende der Darßbahn. Zwar überstand die Strecke die Kriegshandlungen weitestgehend unbeschädigt, doch wurde der Abschnitt zwischen Prerow und Bresewitz kurz nach Kriegsende abgebaut. Die Gleise hatten als Reparationsleistung für die Sowjetunion zu dienen. Seitdem ist in Prerow kein Zug mehr gefahren. Nur wenige Jahre später kam dann auch der Zugverkehr zwischen Barth und Bresewitz endgültig zum Erliegen, als dieser Streckenabschnitt das Schicksal des ersten teilte. Seitdem können Fahrgäste mit der Eisenbahn nur noch bis Barth fahren, so wie auch ich es bei meiner Anreise vor einigen Tagen getan hatte. In den 1960er Jahren baute man zwar die Strecke bis Bresewitz wieder auf, doch blieb sie der Nationalen Volksarmee der DDR vorbehalten, die sie zur Versorgung ihres Stützpunktes auf der Halbinsel Zingst nutzte. Das Ende der DDR bedeutete dann allerdings das endgültige Aus jeglichen Eisenbahnverkehrs ab Barth.

Heute besteht die Trasse der einstigen Darßbahn noch immer, wenn auch auf den verschiedenen Abschnitten in stark unterschiedlichem Zustand. Teils liegen noch Gleise, teils wird sie als Radweg genutzt. Zwischen Zingst und Prerow ist sie hingegen kaum noch wahrnehmbar. Die Bahnhofsgebäude wurden in den 2000er Jahren saniert. Dies diente jedoch nicht etwa einer Wiederinbetriebnahme der Strecke, sondern lediglich der Vorbereitung des anschließenden Verkaufs an Privatleute. Aus diesem Grunde ist der alte Bahnhof Prerow heute ein Hotel.

Wie lange dieses noch Bestand haben wird, ist heute allerdings durchaus fraglich. Im Jahre 2002 hatte nämlich die Usedomer Bäderbahn den Personenverkehr zwischen Velgast und Barth übernommen. Seitdem haben Überlegungen zur Wiederherstellung der Darßbahn mehr und mehr an Gestalt gewonnen. Doch wie bei so ziemlich allem, was im heutigen Deutschland unter Beteiligung der öffentlichen Hand in Angriff genommen wird, mahlten die Mühlen der Bürokratie unendlich langsam. Es dauerte bis zum Jahr 2020, daß die Wiedererrichtung der Strecke von Barth über Zingst nach Prerow schließlich wenigstens beschlossen wurde. Man rechnet momentan mit einer Bauzeit bis 2028. Ich vermute jedoch, daß es wesentlich länger dauern wird, denn auf meiner Busfahrt von Barth nach Prerow im Zuge meiner Anreise, die ein großes Stück parallel zur einstigen Trasse der Darßbahn vonstattenging, konnte ich absolut nirgends auch nur den kleinsten Anschein von im Gange befindlichen Bauarbeiten erkennen. Wahrscheinlich hat man bisher noch nicht einmal damit begonnen. So wird wohl auch das Hotel im Alten Bahnhof von Prerow noch einige Jahre vor sich haben.

Zwar liegt die Abfahrt meines Schiffes noch immer in komfortabler zeitlicher Entfernung, doch gibt es hier nicht viel mehr Interessantes zu sehen. So mache ich mich auf den Weg zum Hafen. Vielleicht kann ich mich ja dort noch ein wenig umschauen. Im Weggehen werfe ich noch einen Blick hinter das alte Bahnhofsgebäude, wo sich einst der Bahnsteig mit den Gleisen befunden haben muß. Nach meinem Eindruck ist er noch vage zu erkennen, auch wenn das Gelände heute vollständig grasbewachsen und mit einem Spielplatz versehen ist. Sollte hier in Zukunft jemals wieder ein Zug verkehren, werde ich ganz sicher einmal an diesem Bahnhof aus einem aussteigen. Vorausgesetzt natürlich, das geschieht noch zu meinen Lebzeiten. In Deutschland weiß man ja nie…

Gute fünf Minuten später bin ich am Hafen angekommen. Gerade als ich von der Straße abbiege, um zu dem kleinen Kai zu gelangen, an dem zwei Schiffe angelegt haben, wird bei dem ersten der beiden der Zugangssteg eingezogen. Langsam setzt es sich in Bewegung, wobei sich zwischen Schiffsrumpf und Kai eine stetig größer werdende Lücke auftut. Um dort mitzufahren, bin ich definitiv zu spät dran. Glücklicherweise hatte ich das gar nicht vorgehabt. Genaugenommen hatte ich nicht einmal damit gerechnet, dieses Schiff hier noch anzutreffen, denn meinen am Abend vorher in Erfahrung gebrachten Informationen zufolge sollte es eigentlich bereits seit gut zehn Minuten unterwegs sein. Offenbar läßt man sich hier Zeit. Doch warum auch nicht? Schließlich geht es ja nur um eine Ausflugsfahrt und nicht um einen Fährbetrieb.

Das Schiff entfernt sich zusehends vom Ufer, wendet und nimmt, als es die Mitte des Stroms erreicht hat, Fahrt auf. MS Ostseebad Prerow kann ich an seiner Seite lesen. Dem Aufsteller neben seinem Liegeplatz am Kai entnehme ich, daß es von der Reederei Rasche betrieben wird. Von moderner Bauart, macht es einen durchaus schnittigen Eindruck. Als Passagier hat man, soweit ich es von hier aus sehen kann, die Wahl, ob man im unteren Fahrgastraum oder oben auf dem Sonnendeck sitzen möchte. Wie es scheint, haben sich die meisten der an Bord befindlichen Fahrgäste für die zweite Möglichkeit entschieden, was angesichts des momentan absolut wolkenlosen blauen Himmels und der strahlenden Sonne nicht verwundert. Eine Fahrt auf diesem Schiff wäre sicher angenehm gewesen, doch hatte ich mich bereits am Abend zuvor für die Tour mit der MS Baltic Star entschieden, die eine Stunde später abfahren soll. Der Grund ist ebenso einfach wie kitschig: bei der Baltic Star, die von der Konkurrenzreederei Poschke betrieben wird, handelt es sich um einen Schaufelraddampfer.

Die "Baltic Star" im Prerower Hafen
Ein Dampfschiff ohne Dampf – die Baltic Star im Prerower Hafen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Nun ist es nicht so, daß Schaufelraddampfer im Stil nordamerikanischer Flußschiffe hier in Prerow eine besonders ausgeprägte Tradition hätten. Genaugenommen ist der Prerower Strom, wie ich bereits weiß, nicht einmal ein Fluß. Auch findet man heute auf vielen Flüssen in Deutschland, die Schiffahrt ermöglichen und wo man sich mit Urlaubern ein gutes Geschäft versprechen darf, derartige Schaufelraddampfer mit ihren übereinanderliegenden, mit balustradenartigen Geländern versehenen charakteristischen Oberdecks und den beiden nach oben hin in gezackten Kronen auslaufenden Schornsteinen, aus denen man jedoch kaum einmal Rauch aufsteigen sieht, denn das Heizen mit Kohle wäre in heutigen Zeiten kaum noch wohlgelitten, erst recht nicht in einem Nationalpark wie dem hiesigen Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Und doch sind diese historisierenden Schiffe bei den Urlaubern stets außerordentlich beliebt, muß man doch auf diese Weise nicht bis nach Amerika und erst recht nicht in der Zeit zurückreisen, um sich einmal wie auf einem großen Flußdampfer auf dem Mississippi in den Südstaaten der USA des 19. Jahrhunderts zu fühlen. Ich bilde da keine Ausnahme. Unwillkürlich kommen mir die Digedags in den Sinn, jene von Hannes Hegen erdachten Helden der Mosaik genannten Comicreihe, die mich in meiner Kindheit und Jugend begleitet haben und in deren ersten Ausgaben der Amerika-Serie ich ein Wettrennen zwischen zweien dieser Mississippi-Dampfer hautnah miterleben konnte. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich diese Geschichten schon gelesen habe. Auch heute noch nehme ich sie immer wieder einmal aus dem Schrank und vertiefe mich für einen Abend oder zwei in die Welt der Digedags, die in den verschiedensten Teilen der Erde zu den unterschiedlichsten Perioden der Weltgeschichte, ja sogar in der Zukunft im Weltraum ihre Abenteuer erleben – und damals wie heute meine Phantasie beflügeln. So ist es für mich kein Wunder, daß ich, als ich tags zuvor von diesem Dampfer erfuhr, ohne groß nachzudenken entschied, daß meine heutige Ausflugsfahrt in den Bodden mit ihm stattzufinden hätte.

Doch noch habe ich eine gute Dreiviertelstunde Zeit bis zur Abfahrt. Die nutze ich nun, um mich ein wenig im Umfeld des Hafens umzusehen. Über ihn selbst ist nicht allzu viel zu sagen. Betritt man so wie ich den Hafenbereich von der Straße aus, gelangt man unmittelbar an den Kai für die Fahrgastschiffe. Von hier aus brechen die Schiffe zu den Boddenfahrten auf, doch auch Fähren legen hier an, die Prerow zu Wasser mit Born und Bodstedt verbinden. Während man ersteres noch gut auch per Straße erreichen könnte, erforderte dies für letzteres schon eine recht weite Umfahrung des Bodstedter Boddens. Auf der dem Kai gegenüberliegenden Seite des Stroms ist dessen Ufer dicht mit Schilf bestanden. Dort stehen drei alte Holzhäuser mit charakteristischen Reetdächern, in deren Rücken die Straße vorüberführt. Den ihnen beigegebenen Stegen mit den daran vertäuten Ruderbooten nach zu urteilen, sind diese kleinen Fischerhütten heute noch in Benutzung.

Fischerhütte am Prerower Hafen
Eine der drei am Prerower Hafen gelegenen alten Fischerhütten.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Das Ende des Kais bedeutet jedoch nicht das Ende des Hafens, wie ich feststellen kann, als ich dort angekommen bin. Vor mir sehe ich nun die ausgedehnte Wasserfläche des Stroms, der, so liest man häufiger, hier am Hafen endet. Tatsächlich stimmt das, wie ich bereits weiß, nur zum Teil, war doch der Prerower Strom einst mit der Ostsee verbunden und wurde erst nach der großen Sturmflut des Jahres 1872 von dieser getrennt. Reste des Stroms sind allerdings auch heute noch jenseits der am Hafen vorüberführenden Straße vorhanden, wo sie wie kleine, aneinandergereihte Seen wirken. Die beiden Gewässer links und rechts des Hauptübergangs, die das Zentrum des Ortes vom Dünenwald trennen, gehören dazu.

Die vor mir liegende Wasserfläche wird zu beiden Seiten von schilfbewachsenen Ufern eingefaßt, von deren rechtem – dasjenige, an dem ich mich befinde – drei große Stege bis fast zur Mitte des Stroms hinausragen, die von jeder Menge Pfählen gesäumt werden. Sie markieren die fast sechzig Liegeplätze für jede erdenkliche Art von Booten. Jetzt in der Vorsaison ist jedoch noch kein einziger belegt, was mir einen ungehinderten Blick auf die Landschaft rings um den Strom gewährt. Nur ganz hinten, nahe dem Horizont, zieht ein Schiff einsam seine Bahn den Strom entlang. Es ist eben jenes, das seine Fahrt begonnen hatte, als ich am Hafen eintraf.

Am Prerower Hafen
Pfähle und Stege, doch keine Boote – der Prerower Hafen im April.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Ich wandere ein Stück den vom Kai wegführenden Uferweg entlang, der mich hinter dem Schilf zu den Stegen bringt. Dabei entdecke ich eine hier aufgestellte große Informationstafel, die sich vornehmlich an die Wassersportler und -wanderer richtet, denen sie Verhaltensregeln und Hinweise für die Befahrung der Boddengewässer vermittelt. Für mich ist sie jedoch trotzdem interessant, da sie auch eine Karte der gesamten Boddenlandschaft des hiesigen Nationalparks zeigt und die einzelnen Gewässer, die bis hinüber zur Insel Rügen reichen, näher beschreibt. So erfahre ich beispielsweise, daß die Fischland, Darß und Zingst vom Festland trennenden Wasser von insgesamt vier verschiedenen Bodden gebildet werden. Ganz am Ende der Kette liegt der Saaler Bodden, an dessen südlicher Spitze sich die Stadt Ribnitz-Damgarten befindet. Mit seinen ausgedehnten Sandbänken bietet er wichtige Nahrungsgründe für viele Arten von Entenvögeln. Brandgänse, Löffelenten und Krickenten sind nur einige der Artenbezeichnungen, die ich noch nie zuvor gehört habe.

Auf den Saaler Bodden folgt, mit ihm durch den sogenannten Koppelstrom verbunden, der Bodstedter Bodden, der das Ziel meiner heutigen Fahrt sein soll. Die Tafel verrät mir, was ich zu sehen bekommen werde: Bülten und Haken. Und bevor ich beginnen muß zu rätseln, was das wohl sein möge, wird es mir auch erklärt. Bülten sind Inseln, Haken Halbinseln. Beide sind sie flach, bestehen aus Torf und säumen die Randbereiche des Boddens. Hier haben sie Salzgras und Brackwasserröhricht die Möglichkeit geboten, sich im Übergangsbereich vom Land zum Wasser anzusiedeln, so daß sich Moore gebildet haben, die teilweise schon recht alt sind – ein einzigartiger Lebensraum, in dem eine Vielzahl verschiedener Arten Wasservögel seine Brutgebiete gefunden hat.

Der Bodstedter Bodden hatte einst eine direkte Verbindung zur Ostsee – den Prerower Strom. Über die Meerenge Meiningen gelangt man vom Bodstedter Bodden in den Zingster Strom und zum östlich gelegenen Barther Bodden. Dieser ist vergleichsweise flach und reich an Fischen, was sowohl Wasservögeln als auch Menschen eine gute Lebensgrundlage gewährt. So ist es kein Wunder, daß die beiden Boddeninseln Kirr und Barther Oie sich zu regelrechten Vogelbrutgebieten entwickelt haben. Über sechzig verschiedene Arten sollen es sein, die hier nisten. Darüberhinaus dient dieses Gebiet Kranichen auf ihren Zügen als Rastplatz. Besonders im Herbst, wenn sie mit ihren Nachkommen unterwegs sind, halten sich die Kraniche hier länger auf und können zu dieser Zeit sehr gut beobachtet werden.

Die Kavelnrinne führt vom Barther Bodden in den Grabow, der sich noch weiter im Osten befindet und das einzige dieser flachen Gewässer ist, das auf den Begriff Bodden in seinem Namen verzichtet. Vielleicht liegt der Grund darin, das er der Ostsee am nächsten gelegen ist und so den Übergang zu ihr bildet. Dieser wird von zwei größeren Inseln, dem Großen und dem Kleinen Werder, versperrt, die den Kranichen auf ihrem Herbstzug als Rastplatz dienen. Zehntausende dieser Vögel übernachten dann hier, die es zu würdigen wissen, daß sie auf diesen Inseln vor dem Zugriff von Füchsen sicher sind. Der Grabow ist mit vier Metern in seinem Zentrum recht tief, seine Randbereiche weisen allerdings ausgedehnte Areale auf, in denen das Wasser recht flach ist. Sie wurden von Salzwasserfischen wie dem Hering zu ihrem Laichgebiet erkoren. Wegen des geringen Salzgehalts der Boddengewässer haben jedoch auch Süßwasserfische wie Hechte und Zander hier Räume für ihre Fortpflanzung gefunden.

Zur Boddenlandschaft im Nationalpark gehören der Tafel zufolge auch der Wieker und der Kubitzer Bodden, die sich jedoch schon im Einzugsgebiet der Insel Rügen befinden und somit nicht mehr Teil der Fischland, Darß und Zingst vom Festland trennenden Wasserlandschaft sind.

Hafen und Alter Bahnhof Prerow
Ein Bahnhof und ein Hafen einträchtig nebeneinander.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Ich spaziere weiter am Ufer entlang, inspiziere die Stege des Hafens aus nächster Nähe und stoße auf ein kleines Häuschen, in dem die Besitzer der im Hafen anlandenden Schiffe solch wichtige Einrichtungen wie ein WC, eine Dusche oder eine Waschmaschine finden können. Zu dieser Zeit des Jahres scheint es allerdings geschlossen zu sein, was aber nicht weiter schlimm ist, denn es liegt ja auch kein Boot im Hafen vor Anker. Über das Schilf hinweg kann ich zur anderen Seite des Stroms blicken, wo ich nun das Gebäude des alten Prerower Bahnhofs mit seiner Bahnsteigseite direkt vor mir habe. Ich stelle mir die rauchende und fauchende Dampflok an der Spitze eines Zuges vor, wie sie dort mit den hinter ihr aufgereihten Waggons am Bahnsteig steht und ungeduldig darauf wartet, daß es endlich losgeht. Vielleicht ist es ja in nicht allzu ferner Zukunft wieder soweit. Nur eine Dampflokomotive wird es dann wohl nicht mehr sein, die die Waggons hinter sich herzieht…

Als der Weg an einem geschlossenen Bootsverleih schließlich endet, wende ich mich landeinwärts, wo hinter einer Wiese ein vergleichsweise niedriger Deich verläuft, hinter dem sich ein paar Häuser befinden. Es ist dies der einzige östlich der Landstraße, die die Orte von Fischland, Darß und Zingst verbindet, gelegene Ortsteil Prerows, der den schönen Namen Krabbenort trägt. Wie mir scheint, besteht er vornehmlich aus Einfamilien- und Ferienhäusern.

Ein Blick auf die Uhr belehrt mich, daß ich mich nun besser auf den Rückweg machen sollte, will ich die Abfahrt nicht verpassen. So wandere ich den schmalen Pfad auf der Deichkrone entlang zurück zum Kai. Dort angekommen, stelle ich fest, daß der Zugangssteg zum Dampfer bereits ausgelegt ist. So zögere ich nicht länger, gehe hinüber und betrete das Schiff.

Gleich am Eingang steht ein Mann neben einem Tisch, auf dem er eine kleine Kiste stehen hat, die sehr an das Aufbewahrungsbehältnis erinnert, das in Piratenfilmen gewöhnlich für Schätze verwendet wird. Sollte ich mich über dieses Utensil gewundert haben, wird mir sein Zweck sofort klargemacht, denn um weiter in das Schiffsinnere vordringen zu dürfen, muß ich erst einmal den Fahrpreis entrichten. Das von mir dafür übergebene Geld landet – wie sollte es auch anders sein – unverzüglich in der Schatzkiste. Dafür erhalte ich ein kleines Stück Papier, dessen Besitz es mir gestattet, mich frei auf dem Schiff zu bewegen. Das nutze ich auch gleich weidlich aus, um die nächstgelegene Treppe aufzusuchen und ins obere Deck hinaufzusteigen. Dort gibt es im Heckbereich einige Bänke, doch halte ich mich nicht weiter auf, denn mein Ziel liegt noch eine Etage höher. Eine weitere Treppe bringt mich hinauf. Auf dem obersten Deck angekommen, schaue ich mich um. Zwei Reihen Tische und Bänke, aufgereiht an den die Längsseiten des Decks begrenzenden Geländern, dazwischen ein langer schmaler Gang – das ist alles. Das hintere Ende bildet die Treppe, am vorderen ragen die beiden großen Schornsteine mit ihren Zackenkronen in die Höhe. Zwischen ihnen spannt sich ein bogenförmiges Schild, dessen roter Grund blaue, weiß umrandete, in Westernschrift gehaltene Buchstaben zeigt, die den Namen des Schiffes verkünden: Baltic Star. Darüber prangt in der Mitte das Logo der diesen Ostsee-Stern betreibenden Reederei Poschke, eine an einen schwarzen Stab geknüpfte blaue Flagge mit vier weißen Sternen in jeder Ecke und einem in der derselben Farbe gehaltenen Anker in der Mitte, über dem die ebenfalls weißen Buchstaben R und P zu sehen sind. Von den Schornsteinen bis zum hinteren Ende des Decks hat man entlang dessen Längsseiten jeweils eine Kette gespannt, die aus Glühlampen besteht, zwischen denen blaue und weiße Wimpel fröhlich im Winde flattern.

An Bord der "Baltic Star"
Ostsee-Stern würde nicht so gut zu einem Schaufelraddampfer im amerikanischen Stile passen. Viel zu profan. Baltic Star muß es heißen!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Die Tische sind nahezu alle noch leer. Nur ganz vorn hat sich bereits ein Pärchen plaziert, das jedoch völlig mit sich selbst beschäftigt ist und mich gar nicht beachtet. Ich suche mir einen Tisch auf der linken Seite und zwänge mich auf eine der beiden Bänke, die man, um möglichst viele Plätze auf dem Deck unterbringen zu können, recht nah am Tisch positioniert hat. Glücklicherweise bin ich schlank genug, um ohne größere Probleme dorthin zu passen. Ich lege meinen Rucksack auf die Bank neben mich, lehne mich zurück und harre der Dinge, die da kommen mögen.

Das sind zunächst ein paar weitere Leute. Nach und nach treffen sie ein, suchen sich einen Platz und setzen sich. Trotz der Vorsaison sind es doch schon ansehnlich viele, auch wenn das Schiff noch weit entfernt davon ist, mit Fahrgästen gefüllt zu sein. Ich beachte sie jedoch nicht weiter, denn ich bin damit beschäftigt, mir von hier oben die Gegend anzusehen und die Sonne zu genießen, die ihre wärmenden Strahlen zu uns herunterschickt. Es ist so warm, daß ich die Jacke ablegen kann.

Minute um Minute vergeht, die Abfahrtszeit rückt näher und näher – und ist schließlich vorüber. Auch auf meinem Schiff hat man es offensichtlich nicht sonderlich eilig. Mich stört das allerdings wenig, denn mir geht es nicht anders. Gute zehn Minuten später ist es dann endlich soweit. Die Maschinen werden angeworfen, was eine Welle der Erschütterung durch den Schiffskörper schickt, die bis hier oben hin zu spüren ist und mir einen wohligen Schauer der Erwartung durch den Körper laufen läßt. Ich kann förmlich spüren, wie sich das am Heck befindliche Schaufelrad in Bewegung setzt und das Wasser aufwühlt. Langsam entsteht wieder eine Lücke zwischen Schiff und Kai, die größer und größer wird, und als unser Dampfer genug Abstand zwischen sich und das Ufer gebracht hat, nimmt er schließlich Fahrt auf und steuert den vom Hafen wegführenden Strom an. Wir sind unterwegs.

Zunächst geht es in einem Bogen ein Stück in Richtung Norden. Links ziehen Wiesen vorüber, auf denen sich einige Graugänse tummeln. Dahinter liegt der alte Bahnhof. Gerade als wir ihn passiert haben, gewahre ich neben uns eine weitere Wasserfläche, die sich ein Stück voraus mit dem Strom, auf dem wir unterwegs sind, vereinigt. Freundlicherweise erhalten wir Fahrgäste vom Schiffsführer über die Lautsprecheranlage Erklärungen zu dem, was wir an den beiden Ufern zu sehen bekommen. Aus diesen überaus unterhaltsam vorgetragenen Informationen erfahre ich, daß ich den alten Bootshafen vor mir sehe. Da dieser mit der Zeit zu klein geworden war, hat man vor einiger Zeit den neuen errichtet, an dessen Ufer ich vorhin entlangspaziert war.

Wir haben die erste große Kurve unserer Fahrt nahezu vollendet und sehen vor uns eine bewaldete Erhebung, einen Hügel, der angesichts des hiesigen sonst sehr flachen Landes ausgesprochen hoch wirkt. Es handelt sich um die Hohe Düne. Die auffällige Höhe wirkt, wenn man sie mit einer Zahl benennt, gar nicht mehr so beeindruckend, sind es doch gerade einmal dreizehn Meter, die sie mißt. Und doch, verglichen mit der Umgebung hat die Hohe Düne ihren Namen redlich verdient. Und tatsächlich handelt es sich um eine Ausformung der dem Ostseestrand vorgelagerten Sanddünen.

Wir sind jetzt wirklich genau in Richtung Norden unterwegs, und angesichts der sich nähernden Dünen könnte man tatsächlich meinen, wir wollten auf direktem Wege in die Ostsee fahren. Doch der Prerower Strom nähert sich ihr hier nur an und beschert so der einstigen Insel und heutigen Halbinsel Zingst ihre schmalste Stelle, an der das Land zwischen Strom und Ostsee gerade einmal einhundert Meter breit ist.

Der Prerower Strom beschreibt nun einen weiten Bogen, zuerst in Richtung Osten und dann zurück nach Süden, bis wir wieder auf der Höhe des Prerower Hafens angekommen sind. Nun geht es, sieht man einmal von gelegentlichen Schlenkern ab, ununterbrochen in südöstlicher Richtung gen Bodden.

Die Fahrt verläuft ruhig und lädt dazu ein, sich zurückzulehnen und einfach nur nach links und rechts über das weite Land zu schauen. Allerdings ist es, seit wir unterwegs sind, nun nicht mehr so warm wie noch im Hafen. Obwohl unser Schiff gewiß nicht mit rasender Geschwindigkeit unterwegs ist, macht sich der Wind deutlicher bemerkbar. Das mag auch daran liegen, daß wir nun nicht mehr Häuser neben uns haben, die ihn bremsen könnten, sondern sich zu beiden Seiten des Stroms unbebautes Land erstreckt, das ihm kaum einmal ein Hindernis entgegenstellt. Schnell wird es, da ich mich selbstredend kaum bewege, kühl, ein Umstand, dem ich jedoch mit dem Wiederanziehen meiner zuvor abgelegten Jacke abhelfen kann.

Die Landschaft um mich herum ist wunderschön. Links zieht das Ufer der Halbinsel Zingst an mir vorüber. Es wird nahezu ununterbrochen von einem breiten Schilfstreifen gesäumt, hinter dem uns ein kleiner Deich begleitet, der jede Biegung des Stroms nachvollzieht. Vereinzelt ragen einige Bäume auf, die jetzt im April noch keine Blätter hervorgebracht haben und daher schwarz und kahl in die Luft ragen; ein deutliches Zeichen der noch anhaltenden Winterruhe. Hinter dem Deich dehnen sich weite Wiesen und Felder, die von Waldstreifen begrenzt und immer wieder von Prielen und Fließen durchzogen werden. Einige davon mögen natürlichen Ursprungs sein, viele jedoch hat man im Laufe der Jahrhunderte künstlich angelegt. Dafür spricht allein schon ihr teils sehr regelmäßiger Verlauf. Soweit ich das erkennen kann, sind viele dieser Gräben beeindruckend parallel zueinander angelegt. Weil jetzt, im beginnenden April, der Frühling zwar schon angebrochen ist, aber sein wiederbelebendes Werk in der Natur noch nicht so recht begonnen hat, sind die vorherrschenden Farbtöne alle mehr oder minder Schattierungen von Braun, sieht man einmal von den Wasserflächen ab. Der Schönheit der Landschaft tut das jedoch keinen Abbruch.

Auf dem Prerower Strom
Ein wenig rauh, urwüchsig und doch wunderschön – das Land am Prerower Strom.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Auf der rechten Uferseite, die zum Darß gehört, sieht es ganz ähnlich aus. Da hier jedoch der begrenzende Wald fehlt, reicht der Blick beeindruckend weit in die Ferne. Dort ist hinter dem Land eine große Wasserfläche zu sehen – der Bodstedter Bodden, das Ziel unserer Fahrt. Auch hier sind immer wieder Gräben zu erkennen, die teils wie mit dem Lineal gezogen wirken. Und da ich mich hier auf dem zweiten Oberdeck doch beträchtlich weit über dem Bodenniveau befinde, kann ich bei einem Blick voraus bereits weitere Schleifen des Stroms, auf dem wir unterwegs sind, ausmachen. Über all dem wölbt sich ein strahlend blauer Himmel,  der hier und da mit weißen Wölkchen getupft ist und an dem die Sonne hell leuchtet. Ihre Strahlen spiegeln sich in der vom Wind gekräuselten Oberfläche des Stroms, die sie zum Glitzern bringen. Und die Wasserfläche des noch weit entfernten Boddens gleißt und blitzt, als bestünde sie aus flüssigem Silber. Die Luft ist ausgesprochen klar, was ein ausgesprochenes Glück ist, weil sich daraus eine überaus gute Fernsicht ergibt. Bis zum Horizont sind jegliche Konturen von Landschaft, Gewässern und auch Ortschaften gestochen scharf umrissen.

Gerade durchmessen wir eine weitere Schleife des Stroms, da teilt uns der Kapitän unseres Schiffes mit, daß wir auf der linken, der Zingster Seite nun an der Hertesburg vorüberfahren. Es war dies im Mittelalter eine burgähnliche Befestigungsanlage, die die Rügenfürsten hier hatten errichten lassen, um das Gebiet und insbesondere den Prerower Strom als Zugang von den Boddengewässern zur Ostsee militärisch kontrollieren zu können. Natürlich war Geld die maßgebliche Motivation, denn hier wurden Zölle erhoben. Die Hertesburg diente den Rügenfürsten auch als Jagdschloß und Vogteisitz. Später übernahmen sie die pommerschen Herzöge. Die Anfänge der Anlage reichen bis in das späte 13. Jahrhundert zurück. Auf einem Hügel gelegen, besaß sie einen Durchmesser von etwa dreißig Metern. Ihre Befestigungen sollen etwa zwei Meter hoch gewesen sein. Davor lag ein sechzehn Meter breiter Ringgraben, auf den ein Wall folgte. Weitere Schutzwälle schlossen sich an. Natürlich gab es auch einen Turm. Im sechzehnten Jahrhundert sollen seine Mauern sagenhafte drei Meter dick gewesen sein. Der Sage zufolge soll der Seeräuber Klaus Störtebeker hier mit seinen Gefährten einen Unterschlupf besessen haben. Das wird allerdings von vielen Orten an der Ostsee behauptet, so daß es fraglich ist, ob es wirklich stimmt. Daß hier allerdings Seeräuber ihr Unwesen trieben, gilt als sicher. Kriege haben der Anlage zugesetzt. Im sogenannten Rügenschen Erbfolgekrieg belagerten mecklenburgische Truppen sie gleich mehrfach, bis ihnen schließlich die Einnahme gelang. Der Dreißigjährige Krieg bedeutete schließlich das Ende der Burg. Danach waren ihre über der Erde gelegenen Bauten weitestgehend verschwunden. Nur der Wall und der Graben blieben übrig. Da der Hügel, auf dem sich die Burg einst befand, heute weitgehend mit Bäumen bewachsen ist, läßt sich außer diesen vom Schiff aus nichts erkennen. Lediglich eine hölzerne Kapelle mit Reetdach, errichtet im Jahre 1927, steht heute noch auf dem Gelände, ist aber von hier aus natürlich ebenfalls nicht zu sehen.

Wir lassen die Hertesburg links liegen und fahren weiter. Rechts von uns zieht etwas abseits vom Prerower Strom ein kleines Gewässer vorüber. Es wirkt auf mich ein wenig wie das Überbleibsel der letzten größeren Überschwemmung oder der Rest vom letzten Starkregen. Damit liege ich falsch, denn die übergroße Pfütze, wie ich sie in Gedanken etwas despektierlich nenne, hat sogar einen Namen: Lychensee. Viel mehr läßt sich über ihn allerdings nicht sagen. Die in dieser Gegend heimischen Wasservögel finden ihn und seine unmittelbare Umgebung jedoch durchaus ansprechend, wie mir scheint, denn zwischen ihm und dem Strom, auf dem wir unterwegs sind, tummelt sich eine erheblich Anzahl Graugänse.

Bereits eine Weile schon ist mir, wenn ich in Richtung des Bodstedter Boddens blicke, am Himmel ein dort kreisender Schwarm aufgefallen. Aus der großen Entfernung war allerdings bis dato nicht zu erkennen gewesen, um welche Tiere es sich dabei handeln könnte. Zwar spricht in dieser Gegend einiges dafür, daß wir es sicher mit Vögeln zu tun haben würden und nicht etwa mit Heuschrecken, doch welcher Art diese Vögel sind, hatte ich bisher nicht feststellen können. Nun allerdings, da wir uns dem Bodden immer weiter genähert hatten, beschließen die den Schwarm bildenden Tiere offenbar, sich einmal genauer anzusehen, was sich denn da auf dem Strom für ein merkwürdiges Etwas nähert, und kommen zu uns herübergeflogen.

Vogelschwarm über dem Prerower Strom
Ausschwärmen!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Leider behalten sie dabei ihre relativ große Flughöhe bei, so daß es mir trotzdem verwehrt bleibt, sie zu identifizieren. Einem Ornithologen mag es möglicherweise anhand der Silhouette der Flügel oder mittels des Flugbildes ohne weiteres gelingen, das zu bewerkstelligen, mir jedoch fehlt dazu dann doch das erforderliche Fachwissen. So begnüge ich mich damit, den Schwarm eine Weile zu beobachten. Es ist bewundernswert zu sehen, wie sich in dem anfangs recht chaotisch wirkenden Gebilde bei aller Bewegung doch eine gewisse Ordnung bemerkbar macht. Kein Vogel kreuzt unbeabsichtigt eines anderen Flugbahn, und alle orientieren sie sich aneinander und fliegen letztendlich trotz gelegentlicher Abweichungen und einer steten Veränderung der Gestalt des Schwarms in die gleiche Richtung.

Der Kapitän nimmt dies zum Anlaß, seinen Passagieren ein wenig über die hiesige Vogelwelt zu erzählen. Ich kann mir die vielen verschiedenen Arten, die er im Laufe seiner Ausführungen aufzählt, so schnell gar nicht alle merken. Allerdings bleibt mir zumindest eine im Gedächtnis, da wir das große Glück haben, einen ihrer Vertreter kurz darauf unmittelbar über unserem Schiff beobachten zu können: einen Seeadler. Und obwohl auch er in großer Höhe fliegt, bin ich von seinen mächtigen Flügeln, mit denen er mühelos eine Spannweite von mehr als zwei Metern erreicht, angemessen beeindruckt.

Seeadler über dem Prerower Strom
Himmel mit Seeadler.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Kaum habe ich schließlich meinen Blick wieder vom Himmel ab- und der Erde um mich herum zugewandt, werden wir von unserem wachsamen Kapitän, der nicht nur den Strom und die Fahrrinne, sondern auch die Umgebung stets im Auge behält, um uns auf Interessantes hinweisen zu können, darauf aufmerksam gemacht, daß es sich lohne, einmal nach links auf die sich dort dehnenden Wiesen zu schauen. Ich folge seiner Aufforderung und – entdecke zunächst nichts. Angestrengt suche ich das Ufer ab, kann jedoch weiterhin nichts ausmachen, was der eingehenderen Beobachtung lohnt. Erst als ich mich erinnere, daß ich ja nicht auf den Rand des Stroms, sondern auf die dahinterliegenden Wiesen schauen sollte, werde ich gewahr, was es dort zu sehen gibt: einen Kranich! Seelenruhig und völlig unbeeindruckt von uns und unserem stampfenden Schiff stolziert er mit seinen langen, staksigen Beinen auf dem Feld herum. Sein Gefieder, dessen Färbung von tiefem Schwarz am Schwanz über dunkleres und helleres Grau am Körper bis zu strahlendem Weiß am Hals reicht, hebt sich in scharfem Kontrast von dem Grün-Braun der noch nicht so recht wieder zu neuem Leben erwachten Felder ab. Ein kleines Weilchen bewegt er sich in die gleiche Richtung wie wir. Ob es ihm schließlich zu bunt wird, von so vielen Leuten angestarrt zu werden, oder ob er voraus irgendetwas ihn Interessierendes entdeckt hat, ist für mich nicht recht erkennbar, als er plötzlich beginnt, in schnellem Tempo loszurennen, um sich kurz darauf, mit den Flügeln schlagend, in die Luft zu erheben und in niedriger Höhe über dem Feld davonzufliegen. Es dauert nicht lange, da ist er meinen Blicken entschwunden.

Kranich am Prerower Strom
Feld mit Kranich.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Der Prerower Strom, der seit seiner letzten Schleife ein ganzes Stück mehr oder weniger stur geradeaus geführt hat, legt sich nun in eine große S-Schleife, deren beide Bögen fast perfekte 180-Grad-Wenden vollführen. Mit dem Ende des ersten Bogens haben wir dabei das Mündungsgebiet des Stroms in den Bodstedter Bodden erreicht, das die Form eines Deltas mit mehreren kleinen Inseln angenommen hat, die als Schmidtbülten bezeichnet werden. Als die Verbindung zur Ostsee noch bestand, strömte bei starken, vom Meer zum Land wehenden Winden Wasser durch den Strom, das viele Sedimente mit sich führte, die hier abgelagert wurden und im Laufe der Zeiten die Inseln aufschütteten. Mit der Trennung des Prerower Stroms von der Ostsee ist dieser Prozeß allerdings vollständig zum Erliegen gekommen.

Die kleinen Inseln mit ihren reichhaltig mit Schilf bewachsenen Ufern bilden für die zahlreichen hier ansässigen Wasservögel den idealen Lebensraum, was ich sozusagen mit eigenen Augen wahrnehmen kann, denn nirgends sonst habe ich zuvor derart viele Schwäne, Enten, Möwen, Bleßhühner und andere Arten des gefiederten Volkes versammelt gesehen. Sie schwimmen munter in den verschiedenen Seitenarmen, die der Strom hier ausgebildet hat, herum, haben aber offenbar gelernt, den Hauptarm, in dem Schiffe wie unseres verkehren, zu meiden.

Vielfach scheinen die kleinen Inselchen kaum einen Zentimeter über die Wasseroberfläche hinauszuragen, was dort, wo das Schilf einzelne Abschnitte ihrer Ufer einmal freigibt, dazu führt, daß es so aussieht, als würden sie nahtlos ins Wasser übergehen. Auf keinem dieser Eilande findet sich auch nur ein einziger Baum oder Busch. Lediglich Gräser haben sich hier angesiedelt.

Mündung des Prerower Stroms in den Bodstedter Bodden
Inseln unter der Sonne – die Schmidtbülten.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Als wir die Schmidtbülten schließlich passiert und den Prerower Strom damit hinter uns gelassen haben, setzen wir unsere Fahrt auf den Wassern des Bodstedter Boddens fort. Nun, da die Ufer weiter und weiter zurücktreten und wir uns auf der weiten Fläche des großen Gewässers befinden, zieht der Wind tüchtig an und zaust mich kräftig an den Haaren. Obwohl ich fest davon überzeugt bin, daß sich die Temperatur überhaupt nicht wesentlich verändert, fühlt es sich innerhalb weniger Augenblicke so an, als sei es plötzlich empfindlich kühler geworden. Zwar friere ich nicht, da meine Jacke warm genug ist, doch wird es mir angesichts des nun ununterbrochen um meine Ohren wehenden Windes hier auf dem Oberdeck zu ungemütlich, und so gebe ich den Platz an meinem Tisch auf, steige die Treppe zum tiefer liegenden Zwischendeck hinab und stelle mich dort an die Reling. So kann ich immer noch die Aussicht rings um das Schiff genießen und bewundern, bin den Luftströmungen aufgrund der Aufbauten des Schiffes aber nicht mehr so unmittelbar ausgesetzt wie zuvor.

Während ich versuche, dem Wind wenigstens etwas zu entgehen, sind die Möwen hier in ihrem Element. Begeistert schwingen sie sich in die Lüfte und stürzen sich in die Böen. Und da sie sehr daran interessiert sind, was wir wagemutigen Menschlein auf unserem kastenartigen Ungetüm hier in ihrem Revier wohl so treiben mögen, begleiten sie uns mit ausgebreiteten Schwingen ein Stück, was mir die Gelegenheit gibt, sie in ihrem Fluge zu beobachten. Hin und wieder stoßen sie ihre charakteristischen Schreie aus, als wollten sie sich gegenseitig auf irgendetwas Sehenswertes im Zusammenhang mit uns und unserem Schiff hinweisen. Oder sie haben im Wasser einen Fisch entdeckt, den zu verfolgen und zu fangen sich lohnen mag. Jedenfalls wenden sie sich, nachdem sie uns eine Weile gefolgt sind, wieder ab und anderen Dingen zu.

Ich schaue über die glitzernde Wasserfläche des Boddens, die mir etwas aufgewühlter als die des Stroms erscheint, auf der jedoch trotzdem keine wirklichen Wellen zu sehen sind. So stark ist der Wind dann doch nicht. So zieht auch das kleine Boot mit den roten Segeln, das in einiger Entfernung vorüberfährt, ruhig und gelassen seine Bahn.

Als sich mein Blick auf die im Süden gelegenen Ufer des Boddens richtet, bemerke ich etwas weiter östlich und ein ganzes Stück landeinwärts gelegen die Silhouette einer großen Kirche. Gerade, als ich mich frage, ob in dieser Richtung wohl Barth liegen mag, meldet sich unser Kapitän wieder über die Lautsprecheranlage zu Wort und gibt mir die Bestätigung. Ja, das was ich da vor mir sehe, ist der Umriß der Barther Sankt-Marien-Kirche. Etwa um 1250 herum hatte man mit ihrem Bau begonnen, der dann etwa zweihundert Jahre später mit der Fertigstellung des Turmes abgeschlossen war. Mit seiner beindruckenden Höhe von 86 Metern ist er, wie ich mich selbst überzeugen kann, derart weit in der Umgebung sichtbar, daß er einen idealen Orientierungspunkt sogar für die auf der Ostsee fahrenden Schiffe abgibt. So diente er denn lange Zeit auch als solcher. Und auch, wenn er heute angesichts moderner Navigationstechnik nicht mehr die Bedeutung von einst besitzt, gilt er doch bis zum heutigen Tag immer noch als Seezeichen.

Auf dem Bodstedter Bodden
Seezeichen oder Kirchturm? Beides! – Die Sankt-Marien-Kirche in Barth.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Während ich die entfernte Kirche beziehungsweise ihre Silhouette bewundere, bemerke ich nicht sofort, daß sich das Schiff in eine weite Kurve gelegt hat und nun auf das östliche Ufer des Boddens zuhält. Interessiert, was es denn dort wohl zu sehen gibt oder ob wir einfach nur eine Wende vollführen, gehe ich ein Stück die Reling entlang nach vorn. Als ich die voraus gelegene Aussicht vor Augen habe, stelle ich fest, daß wir auf eine Fahrrinne zuhalten, die sich dort auftut und in das Land hineinführt. Weit kann ich allerdings nicht in sie hineinsehen, da mein Blick von einem großen, sie überspannenden metallenen Ungetüm aufgehalten wird. Und wieder meldet sich der Kapitän des Schiffes gerade rechtzeitig mit weiteren Erklärungen zurück.

Was ich dort vor mir sehe, erfahre ich aus seinem Vortrag, ist die Meiningenbrücke, die über die gleichnamige Meerenge führt. Über jene, das weiß ich bereits von der Informationstafel, die ich am Prerower Hafen studiert hatte, gelangt man vom Bodstedter Bodden in den Zingster Strom und den Barther Bodden hinüber. Unsere Fahrt, so erklärt der Kapitän zu meinem Bedauern, wird dort allerdings nicht hinführen, sondern wir werden hier umkehren und die Heimfahrt antreten. Doch zuvor gibt es noch einiges Interessantes zu erzählen, was unser Schiffsführer auch ausgiebig tut. So weiß ich nun, daß die Brücke die Halbinsel Zingst mit dem Festland verbindet. 1908 hat man mit ihrem Bau begonnen, da man für die zu dieser Zeit errichtete Darßbahn an dieser Stelle einen Übergang schaffen mußte. Bereits zwei Jahre später konnte man die Brücke einweihen, auch wenn man für die endgültige Fertigstellung noch zwei weitere Jahre brauchte. Von solchen Bauzeiten können wir trotz bedeutend weiterentwickelter Bautechnik merkwürdigerweise im heutigen Deutschland nur träumen, das für den Bau einer Brücke gerne auch einmal zehn Jahre benötigt[1]Zehn Jahre für den Bau einer Brücke! Was unglaublich klingt, ist leider Realität, wie die in diesem Jahr (2023) fertiggestellte Schiersteiner Straßenbrücke beweist..  Aufgrund des die Meerenge umgebenden flachen Landes war es allerdings nicht möglich, eine Brücke zu errichten, die hoch genug wäre, um Schiffe unter ihr passieren zu lassen. Da die Passage zwischen den verschiedenen Boddengewässern jedoch nicht blockiert werden durfte, hatte man sich dafür entschieden, einen Teil als Drehbrücke zu gestalten.

Mit dem Ende der Darßbahn kam schließlich auch das Ende der Meiningenbrücke als Eisenbahnüberführung. Sie wurde daher zur Straßenbrücke umfunktioniert. Da sie jedoch sehr schmal ist und wegen ihrer massiven Metallkonstruktion auch nicht verbreitert werden konnte, war es lediglich möglich, den Verkehr über sie in eine einzige Richtung fließen zu lassen, so daß sich die verschiedenen Fahrtrichtungen abwechseln mußten. Weil das aber mit der wieder zunehmenden Beliebtheit von Darß und Zingst als Urlaubsziel und dem damit verbundenen Anstieg des Verkehrs mehr und mehr zum Problem wurde, entschloß man sich im Jahre 1980, neben der Meiningenbrücke eine Behelfsbrücke zu errichten, die der anderen Fahrtrichtung diente. Lange Jahre bestand diese lediglich aus einer Pontonbrücke, die man ausschließlich im Sommer benutzen konnte, weil sie in jedem Winter außer Betrieb gesetzt wurde. An diesen schwimmenden Übergang kann ich mich noch sehr gut erinnern. Wenn wir in jedem Jahr mit unserem Auto – einem kleinen Trabant 601 S – nach Prerow in den Urlaub fuhren, gehörte ein Besuch im nicht allzu weit entfernten Barth eigentlich immer dazu. Die Fahrt dorthin und wieder zurück ist mir bis heute unvergeßlich. Auf der Hinfahrt ging es immer über die Pontonbrücke, was mir stets ein gewisses Ruseln im Bauch bescherte. Was, wenn die schwimmende Fahrbahn unter unserem Gewicht und dem der anderen Autos plötzlich im Wasser versank? Das regelmäßige Rumpeln, wenn wir über die Fugen der einzelnen Brückensegmente fuhren, machte die Sache nicht angenehmer. Und wenn wir Pech hatten und gerade an der Brücke ankamen, wenn ein Schiff passieren wollte, dann mußten wir eine ganze Weile warten, bis wir hinüberfahren konnten, denn da die Pontonbrücke die Meerenge komplett blockierte, mußte sie erst ausgeschwommen werden, damit das Schiff hindurchfahren konnte. Bis das geschehen und die Brücke dann wieder an Ort und Stelle war, konnte schon einige Zeit vergehen. So war ich stets froh, wenn wir auf der Rückfahrt den Weg über die Meiningenbrücke nehmen konnten. Diese machte nicht nur einen bedeutend stabileren Eindruck, sondern mit ihren metallen Fachwerkträgern, die zu beiden Seiten den Blick auf die umgebende Landschaft in viele kleine Einzelbilder zerlegten, die wie ein Film am Autofenster vorbeizuziehen schienen, die Fahrt über die Meerenge zu einem überaus interessanten Ereignis.

Die Meiningenbrücke
Meiningen zwischen Festland und Zingst – keine Stadt, sondern eine Meerenge. Mit Brücke.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Dieser Zustand blieb bis 2011 erhalten. Ab 2012 konnte für den Straßenverkehr dann eine zweispurige Brücke genutzt werden, die die Meiningenbrücke endgültig vom Autoverkehr befreite. Die Schiffsdurchfahrt ermöglicht ein Klappmechanismus. Diese Brücke hatte ich auf meiner Fahrt von Barth nach Prerow am Tage meiner Ankunft passiert und dabei einen Moment der Enttäuschung erlebt, als ich feststellen mußte, daß mir das in meiner Jugend so spannende Erlebnis, die Landschaft als Film zu erleben, versagt bleiben würde. So ist auch die Drehbrücke heute nicht mehr in Betrieb. Aufgrund ihres Alters und weil die Meiningenbrücke nicht mehr für den Verkehr genutzt wird, läßt man sie heute ständig offen. Als wir mit unserem Schiff noch ein Stück in die Meerenge hinein- und auf die Brücke zu fahren, kann ich sie am linken Ufer sehen. In ihrer Mitte befindet sich an ihrem höchsten Punkt das aufgesetzte Häuschen für den einstigen Brückenwärter.

Heute will man, wie ich bereits weiß, die Darßbahn wiedererrichten, wodurch Prerow seinen Bahnanschluß zurückerhalten soll. Für die Meiningenbrücke hat man vorgesehen, sie als kombinierte Eisenbahn- und Straßenbrücke neu zu erbauen. Es bleibt allerdings zu hoffen, daß man die alte Brücke, die sich am rechten Ufer noch ein ganzes Stück ins Land hinein fortsetzt, um dort sich anschließende Sumpfgebiete zu überspannen, dennoch erhält. Zum einen dürfte sie durchaus einigen Wert als technisches Denkmal besitzen. Zum anderen, und das kann ich aus meinen eigenen Erinnerungen unmittelbar bestätigen, stellt sie für die hiesige Gegend durchaus ein Wahrzeichen dar, dessen Vernichtung sicher nicht nur ich als herben Verlust empfinden würde.

Der Kapitän hat mittlerweile nicht nur seine Ausführungen rund um die Meiningenbrücke beendet, sondern auch das Schiff gewendet, so daß wir nun zwischen den schilfbewachsenen Ufern wieder aus der Meerenge heraus- und zurück in den Bodden fahren. Wieder weht uns der Wind, der sich zuletzt eine kurze Pause gegönnt hatte, heftiger um die Ohren und ich ziehe mich wieder auf meinen Platz an der Reling in der Mitte des Schiffes zurück, wo die Aufbauten des Oberdecks ein wenig vor der Kraft des luftigen Gesellen schützen. Die Fahrt geht zurück zu der zwischen den Schmidtbülten gelegenen Mündung des Prerower Stroms. Als wir die ersten Ausläufer der kleinen Inselchen erreichen, erinnert uns der Kapitän freundlicherweise daran, den Blick auf den Schilfgürtel an Steuerbord, also zur rechten Seite unseres Schiffes, zu richten. Dort hatten wir, als wir zuvor in Richtung Bodden unterwegs gewesen waren, zwischen den dichten Halmen kurz eine Kegelrobbe gesichtet. Leider war sie erst recht spät zu entdecken gewesen, so daß wir schon fast an ihr vorbeigefahren waren, bevor wir sie richtig sehen konnten. Glücklicherweise ist unser Schiff groß und massiv genug, daß es nicht sofort kentert, als nun nahezu alle Passagiere zur Steuerbordseite stürzen, um zu schauen, ob die Robbe wohl noch im Schilf liegt. Da ich deren Vorhandensein im Schilf nicht vergessen und mich demzufolge bereits dort plaziert hatte, kann ich es nun ruhig angehen lassen und einfach nur nach dem Tier Ausschau halten, das dort entspannt am Ufer gelegen und es der Sonne erlaubt hatte, ihm den Pelz zu wärmen. Offenbar war dieser Platz derart gemütlich, daß es in der Zwischenzeit nicht in Erwägung gezogen hatte, ihn zu verlassen. So ist es uns vergönnt, es nun näher in Augenschein zu nehmen.

Kegelrobbe im Schilf am Prerower Strom
Auch Robben brauchen Entspannung… und finden sie an sonnigen Plätzchen im Schilf.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Still und ruhig liegt die Robbe im Schilf. Ob dort eine natürliche Lücke bestanden oder ob sie irgendwie die Halme niedergedrückt hatte, um sich den Liegeplatz zu schaffen, kann ich nicht so recht ausmachen. Ich bin aber sowieso mehr von ihrem niedlichen Gesicht fasziniert. Ruhig, doch interessiert blickt uns die Robbe mit ihren runden schwarzen Knopfaugen entgegen, regt jedoch keinen Muskel. Zu beiden Seiten ihrer Schnauze stehen ein paar Barthaare waagerecht ab und verleihen ihr irgendwie ein ehrwürdiges Aussehen. Der massive Körper ist von dichtem, braunem Pelz bedeckt. Ganz offensichtlich liegt das Tier auf der Seite, denn ich kann eine der Flossen erkennen, die es angewinkelt und am Körper angelegt hat. Das ausgewachsene Tier macht einen recht massiven Eindruck und ist so groß, daß sich das hintere Ende seines Leibs im Schilf verliert, so daß ich den Schwanz nicht sehen kann. Die ganze Zeit, die unsere Vorbeifahrt dauert, rührt es sich nicht und verzieht auch keine Miene. Wären nicht seine Augen, die uns unentwegt anschauen, ich fragte mich ernsthaft, ob es überhaupt noch am Leben sei. So aber habe ich keinerlei Veranlassung, daran zu zweifeln.

Kaum ist die Robbe aus unserem Blickfeld entschwunden, sind wir auch schon am Ende der kleinen Insel angekommen, deren Ufer ihr als Liegeplatz dient. Und hier an der Spitze des Eilands entdecke ich inmitten des Schilfs einen aus dessen Halmen aufgeschichteten kreisrunden Hügel, der allem Anschein nach auf dem Wasser zu schwimmen scheint. Vermutlich ruht er jedoch auf einem Fundament von abgeknickten Schilfhalmen, denn das schneeweiße Etwas, das auf ihm ruht und meine Aufmerksamkeit geweckt hatte, entpuppt sich beim Näherkommen als ausgewachsener Schwan, der es sich hier gemütlich gemacht, seinen Kopf zurückgelegt und auf das Gefieder seiner zusammengefalteten Flügel gebettet hat. Ich blicke direkt in das traute Heim eines Schwanenpaars, das sich hier, unzugänglich für jede Art von Landtier und damit insbesondere für räuberische Wesen, sein Nest gebaut hat, in dem es nun seine Jungen ausbrütet. Bald schon werden sie schlüpfen und von ihren Eltern liebevoll aufgezogen werden. Es wird eine ganze Zeit dauern, bis sie ihr anfänglich graues Gefieder gegen das strahlende Weiß erwachsener Schwäne werden tauschen können.

Schwanennest am Prerower Strom
Schwanensee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Bei dem Gedanken daran fällt mir unweigerlich Hans Christian Andersens Märchen vom häßlichen jungen Entlein ein, das als Außenseiter bei einer Schar Enten aufwächst, die es wegen seiner vermeintlichen Häßlichkeit verachten und hänseln, bis es vor ihnen in die Einsamkeit flieht. Nach einigen Abenteuern und dem Beinahe-Tod im eisigen Winter, den es nur durch die Hilfe eines Bauern übersteht, erkennt es sich eines Tages im Spiegel des Wassers als strahlend schöner Schwan. Ich habe die Geschichte schon als Kind gelesen und gemocht. Doch erst in späteren Jahren habe ich sie – auch durch eigene Erlebnisse – als Sinnbild auf die menschliche Gesellschaft begriffen, in der Außenseiter so oft von der Gemeinschaft verachtet und ausgeschlossen werden, einfach nur, weil sie auf die eine oder andere Weise anders sind. Und oft gibt es nur sehr wenige Menschen, die ihnen offen und unvoreingenommen begegnen und ihnen auf ihrem Weg helfen. Daran hat sich seit der Zeit, in der Andersen dieses Märchen schrieb, wie es scheint, nur wenig geändert.

Während ich noch meinen diesbezüglichen Gedanken nachhänge, dringt plötzlich lautes Geschnatter an mein Ohr, das, wie ich unschwer erkennen kann, nicht vom Schiff, sondern eindeutig von oben kommt. Ich hebe meinen Blick und entdecke ein Paar Graugänse, das in diesem Augenblick, die Hälse lang vorgereckt und die Flügel weit ausgebreitet und heftig schlagend, über das Schiff hinwegfliegt. Dabei stoßen die beiden Vögel unablässig schnatternde Geräusche aus – ein Verhalten, das ich in den vergangenen Tagen stets beobachtet habe, wenn ich die Gelegenheit hatte, Vögel wie diese an mir vorüberfliegen zu sehen. Und immer habe ich mich dabei gefragt, was diese Tiere wohl dazu veranlassen mag, ihre Flüge mit diesem ständigen Geschnatter zu begleiten. Ob sie sich wohl über die Richtung verständigten? War es ein Streit oder eine Unterhaltung? Wollten sie ihr Kommen ankündigen? Oder schnatterten sie einfach nur gerne? Ich weiß es nicht. Doch irgendwie mag ich diese kleinen Gesellen und finde sie witzig.

Die Fahrt zurück ist alles andere als langweilig. Normalerweise schätze ich es nicht sonderlich, wenn eine Wanderung, ein Ausflug oder gar eine Reise denselben Weg zurückführt, den ich gekommen bin. Es kommt mir dabei oftmals so vor, als würde ich Zeit verschwenden. Schließlich bin ich doch auf dem Weg, den ich dabei wiederholt nehmen muß, schon einmal unterwegs gewesen. Was soll denn daran interessant sein? Viel lieber möchte ich während der gesamten Unternehmung etwas Neues entdecken, mir Unbekanntes sehen. Jetzt jedoch, da ich den Weg, den wir nehmen, nun einmal nicht beeinflussen kann, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dreinzufinden und das Beste daraus zu machen. Und das tue ich! Hatte ich auf der Hinfahrt meist den Erklärungen des Kapitäns gelauscht und war mit dem, worauf ich mein Augenmerk richtete, seinen Hinweisen gefolgt – warum auch hätte ich sie ignorieren sollen? -, so habe ich nun reichlich Gelegenheit, mir den jeweiligen Gegenstand meines Interesses selbst auszusuchen, denn da wir auf diesem Abschnitt des Prerower Stroms ja bereits unterwegs gewesen waren, beschränkt sich unser Schiffsführer nun im wesentlichen darauf, uns auf zu beobachtende Tiere hinzuweisen. Ich richte daher meine Aufmerksamkeit auf die zu beiden Seiten des Schiffes an uns vorüberziehende Landschaft. Und die erweist sich auf der Zingster, nun an Steuerbord gelegenen Seite oftmals als interessanter. Im Hintergrund der grüne, von Kiefern dominierte Wald, davor die noch nicht zu neuem Leben erwachten und daher vorwiegend braunen Felder, hier und da von kleinen und größeren Tümpeln durchzogen und im Vordergrund der mal mehr, mal weniger breite Schilfstreifen am Ufer – das ist gewissermaßen die Leinwand, auf der sich immer wieder wechselnde Bilder abzeichnen.

Am Prerower Strom
Toter Baum am Strom.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Das erste besteht in einem einzeln stehenden Baum, der sein Leben, wie es scheint, schon lange beendet hat. Übrig blieb davon nur das knorrige Gerippe toter Äste, die in alle Richtungen in die Gegend ragen. Anhand der sich bereits ablösenden weißen Rinde sind die Überreste unschwer als die einer Birke zu erkennen, deren Holz bereits Moos angesetzt hat. Einer der dickeren Hauptäste ist abgeknickt. Traurig hängt er zu Boden. Und obwohl klar ist, daß der Frühling noch nicht weit genug fortgeschritten ist, um die Birken bereits wieder ihr grünes Kleid überstreifen zu lassen, kann ich auf den ersten Blick erkennen, daß dieses Exemplar hier dieses nie wieder anziehen wird. Doch so ist der Kreislauf des Lebens. Und selbst im Tode noch erfüllt der alte Baum in der Natur seinen Zweck – als Lebensraum und Nahrung für die ihn zersetzenden Lebewesen, angefangen von dem auf ihm wachsenden Moos bis zu den sich meinen Blicken entziehenden Kleinstorganismen, die ganz sicher in seinem Holz Quartier bezogen haben.

Ein Stück weiter zeichnet die Natur, obwohl die Protagonisten dieselben sind, ein ganz anderes Bild. Wald, Feld, Schilf und Birken. Doch diesmal ist es nicht ein einzelner Baum, sondern es haben sich gleich mehrere am Ufer aufgereiht. Und obwohl auch sie keinerlei Blätter tragen, ist ihnen die innewohnende Lebenskraft schon von weitem anzusehen. Ihre weiße Rinde verleiht ihnen einen Schimmer, der aus der Ferne wirkt, als seien sie von Rauhreif überzogen. Es ist ein seltsamer Anblick, der mich mit seinem Kontrast beeindruckt. Das sich fröhliche wiegende Schilf mit dem sich sacht kräuselnden blauen Wasser davor, im Hintergrund das gelbbraune Feld mit dem sattgrünen Waldstreifen dahinter – und mittendrin diese wie vom Frost erstarrt wirkenden weißen Bäume, die aussehen, als hätte der Winter sie noch nicht freigeben wollen, wohl wissend, daß er es bald schon wird müssen. Die warmen Strahlen der Frühlingssonne lassen das mehr als deutlich spüren.

Am Prerower Strom
Winterbäume.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Kaum sind wir an den Birken vorüber und haben die nächste Biegung des Stroms hinter uns gelassen, malt die Natur auch schon das nächste Bild. Diesmal ist es jedoch kein Stilleben, das sich meinem Auge bietet, denn im Zentrum der Darstellung stehen drei niedliche Gesellen, die urplötzlich hinter dem dichten Schilfstreifen auftauchen, als unser Schiff sich ihnen nähert, und erschreckt in das sich anschließende Feld hineinlaufen. Doch so ganz entschieden, die Gegend am Strom zu verlassen, sind die drei Rehe, von denen die Rede ist, nicht, wie es scheint, denn schon nach wenigen Metern bleiben sie stehen, als seien sie unentschlossen, was sie nun tun sollen. Als ich genauer hinsehe, stelle ich fest, daß eines ein kleines Geweih auf dem Kopf trägt. Offensichtlich handelt es sich um einen Rehbock. Ob die drei vielleicht eine Familie sind? Oder Geschwister? Ich weiß es nicht, finde den Gedanken aber irgendwie sympathisch, so daß ich mir die drei fortan in eine solchen Beziehung zueinander vorstellen möchte.

Inzwischen hat auch unser Kapitän die drei Tiere am Ufer entdeckt und weist die Passagiere mit einer Durchsage darauf hin. Wieder stürmen alle unverzüglich auf die Steuerbordseite. Da die Rehe jedoch schnell hinter uns zurückbleiben und schließlich aus unserem Blickfeld verschwinden, verlieren die meisten Teilnehmer schon bald das Interesse an der Aussicht und zerstreuen sich wieder über das Deck. Ein Umstand, der mir sehr willkommen ist.

Ich verbringe die Zeit unserer weiteren Fahrt an der Reling, wobei ich hin und wieder einmal die Seiten wechsle, um auch einen Blick auf das andere Ufer und die dortige Landschaft werfen zu können. Ich beobachte weitere Schwäne, betrachte den Lauf des Stroms, wie er sowohl voraus als auch hinter uns liegt, schaue erneut über uns hinweg ziehenden Graugänsen hinterher und genieße einfach die Ruhe und Schönheit des Landes um mich herum. Schließlich durchmißt unser Schaufelraddampfer noch einmal den großen Bogen des Prerower Stroms, der ihn auf einhundert Meter an die hinter den Dünen liegende Ostsee heranbringt, die sich allerdings meinen Blicken entzieht. Und dann haben wir auch schon wieder den alten Bootshafen erreicht. Wir ziehen daran vorbei, der alte Bahnhof grüßt zu mir herüber, und kurze Zeit später legen wir auch schon am Kai des Prerower Hafens an. Langsam steige ich die Stufen der Treppe zum Unterdeck hinunter und begebe mich zum Ausgang, wo ich beobachten kann, wie die Leinen festgemacht werden und man den Landungssteg auslegt, über den ich, als der Weg vom Schiffspersonal schließlich freigegeben wird, das Schiff verlasse. Ein letzter Blick vom Kai zurück zum Schiff – mach’s gut, Baltic Star! – und das Land hat mich wieder.

Was nun? Der Tag ist noch relativ jung, zwei Uhr nachmittags ist noch nicht einmal erreicht. Nach der langen Zeit der Untätigkeit an Deck des Schiffes, in der ich nichts anderes zu tun hatte, als zu sitzen oder zu stehen und mir die an uns vorüberziehende Landschaft anzusehen, habe ich jetzt doch noch etwas Lust, mir ein wenig die Beine zu vertreten. Und bereits nach kurzem Überlegen habe ich auch eine Idee. Wenn ich schon einmal in dieser Gegend bin, dann kann ich mir doch die Hohe Düne und den Zingster Isthmus, also die Engstelle zwischen Prerower Strom und Ostsee, einmal aus der Nähe ansehen.

Gedacht, getan. Ich schlage den Weg entlang der Landstraße, die Prerow mit Zingst verbindet, ein und habe nach wenigen Minuten wieder den Alten Bahnhof erreicht, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet. Da ich ihn heute morgen bereits eingehend betrachtet habe und die Ankunft eines Zuges noch in weiter Ferne liegt, halte ich mich hier nicht weiter auf, sondern wandere weiter die Straße entlang. Gleich hinter dem Bahnhofsgebäude, an das sich ein kleiner Parkplatz anschließt, muß ich eine einmündende Straße überqueren, die die zweite Zufahrt zu dem mir bereits bekannten und als Kirchenort bezeichneten Teil Prerows bildet. Gleichzeitig läßt sich über sie aber auch die in Prerow ansässige Ostseeklinik erreichen, eine im Jahre 1998 hier eröffnete medizinische Rehabilitationseinrichtung, in der sowohl orthopädische als auch Atemwegs- und Hauterkrankungen behandelt werden. Ihr Haupteingang befindet sich unmittelbar am Beginn der abzweigenden Straße.

Mein Weg führt mich weiter die Landstraße entlang, verläuft hinter dem Abzweig jedoch erfreulicherweise ein Stück von dieser entfernt im Wald. Der Waldboden macht das Laufen angenehm. Auf der anderen Seite der Straße kann ich nun zwischen den Bäumen immer wieder das Glitzern einer Wasseroberfläche durchscheinen sehen. Dort hat sich der Prerower Strom bis auf wenige Meter der Straße angenähert. Der alte Bootshafen bleibt zurück, und kurz darauf mündet von links ein Weg, an dem einer der charakteristischen Prerower Wegweiser die Richtungen anzeigt. Da Prerow hier definitiv zu Ende ist, dürfte es der letzte seiner Art auf dieser Seite des Ortes sein. Bedauerlicherweise ist er nicht von einer bunten Schnitzerei gekrönt, wie sie andernorts in Prerow seine zahlreichen Geschwister zieren. Ob sie abhanden gekommen ist oder man ihm nie eine spendiert hat, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis. Aufgrund seiner etwas abgeschiedenen Lage scheint mir seine Aufgabe vordergründig darin zu bestehen, auf die benachbarten Orte Prerows hinzuweisen. Sowohl Zingst und Wieck als auch das weiter entfernt liegende Born finden sich auf seinen Richtungsanzeigern. Doch auch der nahegelegene Hafen und die Seemannskirche sind natürlich verzeichnet.

Um die Hohe Düne zu finden, brauche ich allerdings die Hilfe eines Wegweisers nicht. Ich folge einfach weiter dem Weg entlang der Straße. Und da dieser nun bereits mit einem kleinen Anstieg aufwartet, weiß ich, daß ich nicht fehlgehe. Ich bin bereits auf der Hohen Düne unterwegs. Den Ausführungen des Kapitäns während der Fahrt hatte ich entnehmen können, daß es hier einen Aussichtspunkt geben mußte, den zu suchen ich mir nun zum Ziel gesetzt habe. Das erweist sich als leichtes Unterfangen, denn ich habe gerade einmal fünfzig weitere Meter zurückgelegt – der Anstieg liegt inzwischen hinter mir -, da erreiche ich einen weiteren Abzweig, der nach links in den Wald und weiter auf den Hügel, an dem ich unterwegs bin, hinaufführt. Und richtig – kaum bin ich diesem Weg, dessen sandigen Untergrund man mit einer Art grobmaschigem Seilnetz befestigt hat, um die Düne davor zu schützen, förmlich zertreten zu werden, ein paar Meter gefolgt, da sehe ich ihn nach einer Biegung auch schon vor mir: den Aussichtspunkt. Es handelt sich um eine einfache, erhöhte, hölzerne Plattform, wie ich sie auch schon auf meiner Wanderung am Darßer Ort zu sehen bekommen hatte. Es führt eine steile Treppe hinauf, die zu beiden Seiten mit Geländern versehen ist, die den Aufstieg für jene erleichtern, die nicht mehr ganz so sicher und gut zu Fuß unterwegs sind.

Auf der Prerower Hohen Düne
Auch Aussichtspunkte sind nun in Plattformen organisiert.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Oben angekommen, blicke ich in die Runde. Wenn ich eine phänomenale Aussicht erwartet hatte, so werde ich etwas enttäuscht. Das liegt allerdings nicht an der falschen Wahl des Aussichtspunktes, denn dieser ist durchaus auf dem höchsten Punkt der Hohen Düne errichtet worden. Die Bäume des umliegenden Kiefernwaldes, die zwar alle keine Riesen sind, haben es jedoch mit der Zeit zu einer Höhe gebracht, die es schwer macht, über sie hinwegzublicken. Eigentlich gelingt das nur noch in zwei Richtungen. In der einen, der südöstlichen, kann ich die Windungen des Prerower Stroms erkennen, die dieser nach seinem Vorbeifluß am Zingster Isthmus in Richtung des Bodstedter Boddens vollführt und auf denen gerade wieder ein Schiff seine Bahn zieht. Es ist das modernere der beiden Ausflugsschiffe, das ich am Morgen hatte abfahren lassen, ohne an Bord zu gehen. Es ist offensichtlich zu seiner zweiten Tour an diesem Tag aufgebrochen. In der Ferne kann ich über einem dunklen Streifen, der den Horizont bedeckt, bei genauem Hinschauen wieder die Silhouette der Barther Sankt-Marien-Kirche erkennen. Sie ist wahrlich von weither zu sehen. Der ganz in der Nähe, sozusagen zu meinen Füßen gelegene große Bogen des Prerower Stroms entzieht sich hingegen aufgrund der Bäume rings um mich herum meinen Blicken. Wie so oft im Leben ist das Naheliegende wieder einmal nicht ohne weiteres zu sehen.

Auf der Prerower Hohen Düne
Von Prerow nach Barth – der Blick von der Hohen Düne reicht weit.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Die andere Richtung, die mir etwas offenbart, ist die nördliche. Dort kann ich über den Baumwipfeln die gerade Linie des Horizonts verfolgen, vor der das tiefblaue Meer seine leicht gekräuselten Fluten ausbreitet. In wenigen Jahren wird aber wohl auch das nicht mehr möglich sein, denn bereits jetzt verschwindet der Horizont hier und da hinter einzelnen, hoch aufragenden Wipfeln.

Nachdem ich mich ausgiebig umgeschaut habe, steige ich die Treppe schließlich wieder hinab und gehe den Weg, der lediglich bis hierher führt und dann endet, zurück zur Straße. Ich folge ihr noch ein Stück in Richtung Zingst. Der Weg, der immer noch ein wenig abseits durch den Wald verläuft, senkt sich bereits langsam wieder ab. Hin und wieder verbreitert er sich ein Stück bis zum Rand der der Straße zuwandten Seite der Düne. An diesen Stellen hat man ein hölzernes Geländer angebracht und ein paar Bänke aufgestellt, von denen aus man wie von einem zwischen den Bäumen gelegenen Balkon über den Strom und das dahinterliegende Land schauen kann. Hier ist von der näheren Umgebung sogar etwas mehr zu sehen als von der höhergelegenen Aussichtsplattform auf der Hohen Düne, da sich vor mir nur noch die Straße und ein zwei bis drei Meter breiter Streifen bis zum Strom befinden. Ich setze mich kurz auf eine der Bänke, halte es jedoch angesichts des beständigen Verkehrs auf der Straße nicht allzu lange hier aus.

So folge ich dem Weg weiter, bis ich schließlich die Landenge erreicht habe. Leider bin ich hier bereits wieder so weit von der Düne herabgestiegen, daß ich Strom und See nicht gleichzeitig sehen kann. Genau an dieser Stelle befindet sich jedoch ein Dünenübergang, der zum Strand führt. Dahinter setzt sich der Weg direkt auf einem Deich fort, welcher von hier aus die Straße nach Zingst begleitet.

In der Hoffnung, vielleicht vom Kamm der Düne beide den Isthmus begrenzenden Gewässer noch einmal gleichzeitig sehen zu können, wende ich mich nach links und stapfe durch den Sand. Ich werde nicht enttäuscht. Oben angekommen erblicke ich vor mir die Weite des Meeres, während ich hinter mir auf den großen Bogen des Prerower Stroms hinunterschaue, von dem sich mir allerdings nur ein kleiner Ausschnitt zeigt. Dennoch bin ich zufrieden und begebe mich, da ich nicht denselben Weg zurücklaufen möchte, nun hinunter auf den Strand.

Auf den ersten Blick unterscheidet er sich nicht sehr von jenem, den ich angetroffen habe, als ich am Hauptübergang zur Ostsee hinuntergegangen bin. Hinter mir die Düne, unter meinen Füßen der breite Sandstreifen und vor mir das sacht ans Ufer plätschernde Meer. Noch immer ist nur wenig Wind zu spüren, so daß es wie in den Tagen zuvor keine hohen Wellen gibt. Menschen laufen nahe am Wasser den Strand entlang, andere sitzen weiter oben im Sand und genießen die Sonne, die aus dem strahlend blauen Himmel auf uns herablächelt und durchaus schon angenehme Wärme verbreitet. Was hier allerdings fehlt, sind die Strandkörbe. Und natürlich gibt es hier auch keine Baustelle.

Am Nordstrand der Halbinsel Zingst
Alles voller Pfosten – Buhnen am Strand zwischen Prerow und Zingst.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

In den Meeresboden hineingerammte Pfosten sind allerdings auch hier zu sehen. Im Gegensatz zu denen der gerade im Bau befindlichen Seebrücke bestehen diese hier jedoch aus Holz und ragen nur wenige Zentimeter über die Wasseroberfläche. Dafür stehen sie dicht an dicht und bilden eine lange Reihe, in der sie weit ins Meer hinausragen, wo sie dann allerdings abrupt enden. Als ich den Strand hinauf- und hinunterblicke, stelle ich fest, daß sich derartige Reihen hölzerner Pfosten in regelmäßigen Abständen wiederholen. Während es in westlicher Richtung vielleicht noch fünf dieser Reihen sind, hören sie gen Osten hingegen nicht auf, sondern verlieren sich in der Ferne, wo ein Ende nicht abzusehen ist. Ganz offensichtlich hielt man es für notwendig, den Strand zwischen Prerow und Zingst mit diesen Buhnen vor Erosion zu schützen. Als ich mich der direkt vor dem Strandzugang liegenden Buhne nähere, bemerke ich in einiger Entfernung vom Ufer eine Möwe, die sich dort auf einem der Holzpfähle niedergelassen hat. Sie rührt sich auch nicht, als ich mich nähere, sondern schaut mir nur interessiert entgegen. Vermutlich weiß sie aus Erfahrung, daß die meisten dieser Zweibeiner, die Tag für Tag den Strand aufsuchen, es nicht wagen, so wie sie auf den Pfosten entlang hinaus auf’s Meer zu laufen. Und wenn ich einer von denen sein sollte, die es wagemutig doch versuchen, dann bliebe ihr immer noch genug Zeit, um die Flügel auszubreiten und davonzufliegen. Das würde ich ihr auf keinen Fall nachmachen können.

Nun, das habe ich auch nicht vor. An der Wasserlinie angekommen, entledige ich mich kurzerhand meiner Schuhe und Strümpfe, um an diesem schönen warmen Frühlingstag wenigstens einmal mit den Füßen ins Wasser zu kommen. Zur Sicherheit kremple ich meine Hosenbeine ein Stück hoch. Die Socken stecke ich in die Schuhe, die ich in der Hand behalte. Tatsächlich ist das Wasser gar nicht mal so kalt, wie ich befürchtet hatte. Bereits nach wenigen Minuten ist es ganz angenehm, mit den nackten Füßen auf dem Sand zu laufen und sie hin und wieder von einer besonders kecken Welle umspülen zu lassen. Die Möwe schaut meinem Treiben eine Weile von weitem zu, verliert jedoch schließlich das Interesse und blickt in eine andere Richtung. Sie unterscheidet sich ein wenig von den Exemplaren, die mir bisher so begegnet waren. Besonders fällt mir ihr schwarzer Kopf auf, der sie stark von jenen anderen Möwenarten abhebt. Ich erweise ihr die Ehre, ein Foto von ihr zu machen, das ich ihr allerdings nicht zeigen kann, da sie nicht geruht, sich mir einmal zu nähern. Dafür gelingt es mir später anhand dieser Aufnahme, sie als Lachmöwe zu identifizieren.

Jede Buhne endet, wie ich bei genauerer Betrachtung sehen kann, mit einem letzten Holzpfosten, der ein wenig weiter aus dem Wasser ragt als die anderen. Als ich auf meinem Weg den Strand entlang zur nächsten Pfostenreihe gelange, bemerke ich eine schwarze Silhouette an deren Ende. Mit bloßem Auge kann ich lediglich erkennen, daß es sich um einen schwarz gefiederten Vogel handelt, der sich dort niedergelassen hat. Erst mit der Hilfe meines Teleobjektivs – es ersetzt mir bei solchen Gelegenheiten stets das Fernglas, das ich so nicht zusätzlich noch mit mir herumtragen muß – kann ich ihn schließlich als Kormoran identifizieren. Ich muß gestehen, daß mir diese Vogelart, bevor sie mir hier an der Ostsee nun bereits zum zweiten Male begegnete, gar nicht so bekannt war. Natürlich hatte ich den Namen bereits gelesen, nicht zuletzt in Geschichten und Romanen, in denen er erwähnt wurde, doch wo Kormorane eigentlich lebten, entzog sich bisher meinem Wissen. So finde ich durch eigenes Erleben wieder einmal die alte Erkenntnis bestätigt, daß Reisen, bei denen man sich aufmerksam und interessiert in der Welt umschaut, eben doch bildet – oftmals mehr und nachhaltiger, als es jede Schule könnte.

Kormoran an der Ostsee
Ein Rabe am Meer.
Was zunächst ein Irrtum zu sein scheint, ist so falsch gar nicht, denn der Name Kormoran stammt aus dem Altfranzösischen und bedeutet Meer- oder Wasserrabe.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Ein Stück weiter westwärts – ich habe mich entschlossen, am Strand zurück in Richtung Prerow zu laufen – steigen die Dünen hinter dem Strand zu bedeutender Höhe an. Ich befinde mich jetzt etwa gleichauf mit der Hohen Düne. Und dort, am hinteren Ende des Strandes, entdecke ich etwas, das mein Interesse weckt. Und so wende ich mich für einen kurzen Abstecher vom Wasser ab und stapfe den Strand hinauf. Normalerweise geht dieser hier am Nordstrand an seinem hinteren Ende mit sanftem Anstieg langsam in die Düne über. Dünengras nimmt die Gelegenheit wahr, sich anzusiedeln, erst vereinzelt, dann dichter, bis der Strand schließlich in der grasbewachsenen Düne aufgegangen ist. Wenn der Wind sacht über die Halme streicht, beugen sich diese bereitwillig, richten sich dann aber wieder auf. Sie machen so die Luftbewegungen sichtbar, was, wenn man Gelegenheit hat, einen längeren Dünenabschnitt im Blick zu behalten, den Eindruck vermitteln kann, die Wellen des Meeres setzten sich auf der Düne fort. War ich diesen Anblick vom Prerower Nordstrand bereits von verschiedenen Stellen, an denen ich ihn aufgesucht hatte, gewohnt, bin ich nun einigermaßen überrascht, daß sich mir bei meinem Blick zur Düne ein völlig anderes Bild bietet. Hier, am östlichen Ende Prerows, nahe der Hohen Düne, bildet der Sand eine regelrechte Wand. Doch ist diese keineswegs glatt und lotrecht. Vielmehr bricht sie in mehreren Stufen ab, tritt hier hervor und dort zurück, bildet Vorsprünge, auf denen sich Muschelschalen abgelagert haben – wie sind die wohl dahin gekommen? – und zeigt eine Gliederung in feine und feinste Schichten, als bestünde die Düne aus unzähligen riesigen, doch hauchdünnen, übereinandergelegten Platten.

Sandkunstwerk an der Düne am Nordstrand der Halbinsel Zingst
Die Natur als Baumeister – eine Sandwand an der Düne.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Man könnte sagen, diese Sandwand zeigt im Kleinen durch die Witterung hervorgerufene Gestaltungsformen, die denen ähneln, die man im Großen in Sandsteingebirgen beobachten kann. Doch während sie dort infolge der steinernen Verfestigung eine große Stabilität erreicht haben, sind diese hier äußerst fragil. Unwillkürlich bin ich versucht, mit dem Finger die Festigkeit der Wand zu prüfen, doch als ich gewahr werde, daß ich gewissermaßen dabei zusehen kann, wie sich die Wand stetig verändert, lasse ich es bleiben. Bereits ein sacht auffrischender Wind wirbelt nämlich an ihrer Oberfläche Sandkörner auf und bringt kleine Abschnitte erst in Unordnung und dann ins Rutschen. Eine Berührung auch nur mit meinem kleinen Finger würde dieses von der Natur geschaffene Sandkunstwerk augenblicklich schwer beschädigen.

Fasziniert von diesen Beobachtungen kehre ich schließlich wieder ans Wasser zurück, wo ich meinen Weg in Richtung Prerow fortsetze. Dabei genieße ich noch einmal die Berührung des Wassers sowie das angenehme Gefühl, wenn meine nackten Sohlen den feuchten Sand berühren. Sie hinterlassen darin Abdrücke, die von der nächsten Welle bereits wieder ausgelöscht werden, so als sei ich nie hier gewesen. Und ein bißchen ist das ja auch so, denn für die Natur spielt meine Anwesenheit schließlich keine Rolle. Doch auch wenn ich hier an diesem Strand heute keine immerwährenden Spuren hinterlasse, in meinem Geist, meiner Erinnerung bleibt dieser Nachmittag erhalten. Jedesmal, wenn ich an ihn denke, spüre ich wieder den Sand zwischen den Zehen, wie sie sich mit jedem Schritt ein Stück hineingraben, fühle ich das Naß, wie es sanft meine Füße umspült, und vermeine ich wieder die salzige Meeresluft zu atmen, die tief in meine Lungen strömt. Ich spüre wieder die warme Sonne und den sanften Wind auf meiner Haut und fühle mich allein durch diese Erinnerung angenehm berührt und erfrischt. Und irgendwie ist es, als sei ein Teil von mir an diesem Strand geblieben, denn ich sehe mich dort selbst, blicke mir versonnen nach, schaue zu, wie ich mich weiter und weiter entferne, bis ich schließlich nicht mehr zu erkennen bin. Dann richtet sich mein Blick auf’s Meer hinaus und ich schaue versonnen in die Ferne…

Sie können alle Fotos auch direkt auf Flickr anschauen.
Für alle Fotos gilt die folgende Lizenz:

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

Referenzen

Referenzen
1 Zehn Jahre für den Bau einer Brücke! Was unglaublich klingt, ist leider Realität, wie die in diesem Jahr (2023) fertiggestellte Schiersteiner Straßenbrücke beweist.