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Es fährt ein Zug nach Budapest

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 1 der Beitragsserie "Eine Reise nach Budapest 2025"

Budapest – Großstadt. Hauptstadt. Weltstadt. Stadt meiner Kindheit.

Die an der – gar nicht so blauen – Donau inmitten des schönen Ungarlandes gelegene Stadt war und ist für viele stets ein beliebtes Ziel, sei es für einen Tagesausflug, wenn man irgendwo in der Nähe ist, oder auch für einen längeren Besuch. Und so mancher hat sie sich auch als Wohnort auserkoren. Nicht wenige sind dorthin ausgewandert.

Auch auf mich übt diese Stadt seit jeher einen Reiz, eine Anziehung aus, die ich verspüre, seit ich in den fernen Tagen meiner Kindheit für einige Jahre dort gelebt habe. Fünf, um genau zu sein. Und weil diese Zeit nicht nur der früheste Abschnitt meines Lebens ist, an den ich zusammenhängende Erinnerungen habe, sondern mich auch in vielerlei Hinsicht geprägt hat, liegt mir diese Stadt natürlich auf eine Weise am Herzen, wie es sonst nur meine Heimatstadt Berlin tut. So nimmt es auch nicht Wunder, daß ich, seit ich sie verlassen habe, stets ein Gefühl des Verlustes mit ihr verbinde und sie bis auf den heutigen Tag vermisse.

Und so ist eine Reise dorthin immer etwas Besonderes für mich – weniger ein Besuch, vielmehr eine Wiederkehr. Seit ich die Stadt damals verlassen habe, war ich bereits zweimal wieder dorthin gereist, um sie zu besuchen. Allerdings hatte mein letzter Aufenthalt dort mittlerweile mehr als zwanzig Jahre zurückgelegen, als ich im vergangenen Jahr während einer Reise die Donau entlang, die mich von Passau in Deutschland bis zum an der Grenze zwischen Serbien und Rumänien gelegenen Eisernen Tor den großen Fluß hinabgeführt hatte, die Stadt für einen Tag erneut besucht hatte.  Natürlich war ein solch kurzer Zeitraum dieser wunderbaren Stadt in keiner Weise angemessen, doch hatte er ausgereicht, die Sehnsucht, die ich eigentlich immer in mir verspürte, wieder aufleben zu lassen. Eine Sehnsucht, von der ich, wieder zu Hause, nicht genau zu sagen wußte, ob es sich bei ihr um Fernweh handelte, oder ob ich sie doch eher als Heimweh bezeichnen sollte. Letztlich spielte das aber auch keine große Rolle, denn mir wurde schnell klar, daß ich diesem stärker und stärker werdenden Gefühl eher früher als später würde nachgeben wollen.

Und weil es bei genauerem Besehen überhaupt keinen Grund gab, damit lange zu warten, beschloß ich kurzerhand, daß es schon in diesem Jahr soweit sein würde. Ich würde mich ein weiteres Mal aufmachen in die große Stadt an der Donau im Herzen des Ungarlandes.

Zwölf Tage hatte ich mir dafür Zeit genommen – die Hin- und die Rückreise eingeschlossen. Großer Vorbereitungen bedurfte es nicht – eine Übernachtungsmöglichkeit und eine Reisegelegenheit waren das Einzige, was ich vorab zu organisieren hatte. Der Rest würde sich vor Ort mehr oder weniger spontan ergeben. So war es mir am liebsten, blieb dadurch doch genug Raum für unerwartete und überraschende Erlebnisse. Natürlich hatte ich vorab ein paar Überlegungen darüber angestellt, was ich mir anschauen wollte, doch dafür mußte ich nichts planen oder buchen.

Und so begab ich mich am 1. Oktober dieses Jahres auf die Reise. Auf nach Budapest.

Doch wie kommt man am besten dorthin? Das Auto verbot sich von selbst. Sah ich einmal davon ab, daß ich den dafür erforderlichen Führerschein gar nicht besaß, konnte ich den Streß des Selberfahrens nun wirklich nicht brauchen. Das Flugzeug kam natürlich in Frage und hätte mich in Nullkommanichts dorthin gebracht. Doch war genau das der Grund, warum es ebenfalls ausschied. Ich will nicht einfach nur irgendwohin kommen. Ich möchte soweit wie möglich beim Reisen die zurückgelegte Entfernung hautnah erleben können. Denn was ist eine Reise denn bitte ohne den Weg?

Aus diesem Grund ist für mich die Eisenbahn stets das Verkehrsmittel der Wahl, wenn nicht Hindernisse wie Meere oder übergroße Entfernungen seine Nutzung unmöglich machen. Und da das bei einer Reise von Berlin nach Budapest nun einmal nicht der Fall ist, sondern man diese sogar ganz bequem, also in direkter Fahrt ganz ohne Umsteigen bewerkstelligen kann, war die Entscheidung schnell getroffen. Ich würde also den Hungaria nehmen. Dieser seit dem Jahre 1960 zwischen den beiden Städten einmal täglich – in beide Richtungen – verkehrende Zug hatte mich bisher immer in die Stadt an der Donau gebracht, und so würde er es wohl auch diesmal tun.

Und was ist das für eine ausgesprochen schöne Fahrt! Durch den Osten Deutschlands geht es südwärts nach Tschechien, wo man zunächst Böhmen und anschließend Mähren durchquert, bis man die Slowakei erreicht, an deren östlichem Rand es dann direkt nach Ungarn geht. Und das alles an nur einem Tag.

Die Reise begann im Herzen Berlins am neuen Hauptbahnhof. Von diesem im Zentrum der Stadt gelegenen Verkehrsknotenpunkt – zumindest, was die Eisenbahn betrifft – gelangt man an viele Ziele. So auch nach Budapest. Der Blick hinaus durch das Hauptportal des Bahnhofs offenbart dessen Umgebung, die auch nach all den Jahren, die er nun schon existiert, immer noch eine Ödnis ausstrahlt, als wolle sie es den potentiellen Reisenden besonders einfach machen, ein Reiseziel auszuwählen, zu dem sie schnellstmöglich verschwinden können. Auch der Bahnhof selbst bietet nicht wirklich etwas Anheimelndes oder gar Schönes, das dem wartenden Reisenden den Aufenthalt hier angenehmer macht. Genau genommen wirkt er eher wie ein zu groß geratenes Einkaufszentrum mit Gleisanschluß und viel innerer Leere. Und weil wegen eben dieser Gleise das Bauwerk auch nicht zur Gänze geschlossen sein kann, ist es hier überdies meist recht – zugig. Man sehe mir dieses Wortspiel nach, doch muß man ja froh sein, daß wenigstens die deutsche Sprache den Aufenthalt mit etwas Doppeldeutigkeitsglanz kurzzeitig angenehmer gestalten kann, wenn es schon der Bahnhof nicht tut. In der Tat ist außer Glas und Stahl und großen Hohlräumen im Inneren nicht wirklich viel zu entdecken. Das war beim Vorgänger des heutigen Hauptbahnhofs, dem einstigen Lehrter Bahnhof, noch anders. Der hinterließ historischen Quellen zufolge in seiner ansprechenden und ästhetisch schönen architektonischen Gestaltung so viel Eindruck, daß sich Architekten anderer Bahnhofsbauten davon inspirieren ließen. Und das nicht nur in Deutschland. Doch diese Zeiten sind lange vorbei.

Am Berliner Hauptbahnhof
Glas und Stahl und viel innere Leere. Der Berliner Hauptbahnhof der Moderne.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Am Morgen der Abreise mußte ich mich nicht allzu sehr beeilen, da der Hungaria seine Fahrt nach Budapest zu einer sehr moderaten Zeit startet. 8:56 Uhr stand als Abfahrtszeit auf meinem Ticket, das mir die freundliche Mitarbeiterin des im Hauptbahnhof befindlichen Reisezentrums der Deutschen Bahn einige Wochen zuvor verkauft hatte. Ich hatte es diesmal nicht, wie ich es sonst tue, online kaufen können, da mir das Buchungssystem jedesmal, wenn ich es versucht hatte, nur hatte mitteilen können, daß dies nicht möglich sei. Aus Gründen. Da es mir offenbar nicht zustand, diese zu erfahren, behielt es sie für sich. Natürlich erfuhr ich von der Unmöglichkeit des Online-Erwerbs auch erst, nachdem sämtliche für den Kauf erforderlichen Daten penibel und verteilt über mehrere Eingabemasken abgefragt und von mir sorgfältig eingegeben worden waren. Ordnung muß schließlich sein. Immerhin hatte ich im Reisezentrum feststellen können, daß das Scheitern der Transaktion nicht an mir und meinem eventuellen Unvermögen gelegen hatte. Denn auch der Servicemitarbeiterin, zu der ich nach dem Ziehen einer Wartenummer – die Deutsche Bahn sieht sich offenbar mittlerweile als Behörde – und einiger dementsprechend mit Warten verbrachter Zeit schließlich gebeten wurde, gelang es nicht, mir die gewünschte Reiseverbindung zu buchen. Und auch wenn es mir natürlich leid tat, daß ich ihr nun solch Kopfzerbrechen bereitete, konnte ich doch nicht umhin zu bemerken, wie sich mein leicht angeschlagenes Selbstwertgefühl wieder auf Normalniveau einpendelte. Wie sich schließlich nach Konsultation erst einer Kollegin und dann ihres Vorgesetzten herausstellte, lag die Ursache für die Schwierigkeiten darin begründet, daß der von mir für die Rückreise gewünschte Zug nicht buchbar war. Da mich die Bahnangestellte offenbar für qualifiziert genug hielt, dies wissen zu dürfen, teilte sie mir das auch mit. Über das dahinterliegende Warum war dann aber wieder nichts mehr zu erfahren, denn auch sie war dafür auf das Computersystem angewiesen. Und das verweigerte nicht nur mir, sondern auch den drei mittlerweile mit der Sache beschäftigten Bahnangestellten jegliche Auskunft darüber. Zwar versuchten sie noch, mehr herauszufinden, und ließen mich dafür eine ganze Weile warten, doch letztlich blieben auch sie erfolglos.

Das war natürlich insofern unerfreulich, weil ich – selbstverständlich aus Kostengründen – auf einem Sparticket bestanden hatte, das nur in Verbindung mit einer feststehenden Zugverbindung zu buchen war. Glücklicherweise hatte sich die Bahnangestellte aber durchaus zu helfen gewußt. Und so hatte ich nun ein Ticket in meiner Tasche, das hinsichtlich der Rückreise zwar für einen anderen Zug gebucht war als den, mit dem ich fahren wollte, doch hatte die freundliche Mitarbeiterin darauf einen längeren Hinweis notiert, daß dieses Ticket wegen eines technischen Systemfehlers nicht den korrekten Zug ausweise, aber dennoch gültig sei. Dies hatte sie mit Datum, Stempel und persönlicher Unterschrift versehen, ganz wie es sich für eine Behörde gehört.

Nun, für meine jetzige Fahrt war das alles unerheblich. Das Problem betraf ja nur die Rückreise, und an die dachte ich jetzt natürlich noch überhaupt nicht. Erst einmal wollte ich meine große Fahrt antreten. Überpünktlich fand ich mich auf dem Bahnsteig ein, doch wenn ich tatsächlich gedacht haben sollte, die Deutsche Bahn würde das honorieren, so hatte ich mich geirrt. Vielmehr wurde sie ihrem schlechten Ruf wieder einmal mehr als gerecht und brachte meinen Zug nicht nur erst nach der plangemäßen Abfahrtszeit zum Bahnsteig, sondern auch noch auf einem anderen Gleis. Immerhin befand es wenigstens am gleichen Bahnsteig, so daß ich nicht auch noch durch den ganzen Bahnhof hetzen mußte. Und die Wagenreihung stimmte sogar mit der an der Anzeigetafel angegebenen überein. Man muß sich ja auch über kleine Dinge freuen können…

Als der Zug einfuhr, bemerkte ich das Logo der Bahngesellschaft an den Waggons des Zuges: zwei waagerechte Linien, die einen Kreis durchqueren. Ich vermute, es soll ein stilisiertes Gleis darstellen, das eine Brücke passiert. Oder einen sehr kurzen Tunnel. Wie dem auch sei, ich erkannte es sofort aus meinen Kindertagen wieder, und noch ehe ich den (abgekürzten) Namenszug der Bahngesellschaft überhaupt gesehen hatte, wußte ich anhand des Logos, daß es sich um Waggons der Magyar Államvasutak, der Ungarischen Staatsbahnen handelte, kurz MÁV. Ist es nicht interessant, was der menschliche Geist alles über Jahrzehnte hinweg behalten und, auch wenn er in dieser Zeit nie wieder auch nur ein einziges Mal daran gedacht hat, bei passender Gelegenheit sofort wieder hervorholen kann?

Ich stieg ein, nahm meinen durchaus bequemen Platz ein und hatte es mir kaum einigermaßen bequem gemacht, als sich der Zug auch schon in Bewegung setzte. Es wurde aber auch höchste Eisenbahn – ja, es war Wortspieltag! -, denn noch bevor er den Bahnhof überhaupt verlassen hatte, betrug seine – und damit auch meine – Verspätung bereits gute zehn Minuten. Selbst bei internationalen Zügen schaffte es die Deutsche Bahn also nicht, für Pünktlichkeit zu sorgen. Kurz ging mir der Gedanke durch den Kopf, ob es die tschechische, slowakische und ungarische Bahngesellschaft wohl machen würden wie die schweizerische, die unpünktliche deutsche Züge einfach nicht mehr in ihr Land einfahren ließ, damit sie mit ihrer Verspätung nicht den ganzen Schweizer Eisenbahnverkehr durcheinanderbrachten. Dann würde ich heute nicht mehr in Budapest ankommen. Doch ich schob den Gedanken sofort beiseite und machte mir mit der Überlegung Mut, daß ich ja nicht in einem deutschen, sondern in einem ungarischen Zug saß.

Im Waggon war es einigermaßen kalt, da man die Klimaanlage auf Hochtouren laufen ließ, so daß sie beständig kalte Luft in das Großraumabteil blies. Offenbar hatten jedoch bereits einige Fahrgäste dagegen interveniert, denn als die Schaffnerin das erste Mal bei mir auftauchte, um die Fahrkarten zu kontrollieren, erklärte sie, noch ehe ich etwas diesbezüglich gesagt hatte, daß es in Kürze wärmer werden würde, sie hätte bereits die Heizung eingeschaltet. Und in der Tat dauerte es nicht lange, da konnte ich bemerken, daß die Klimaanlage nun warme statt kalte Luft in das Abteil pustete. Schon bald wurde es erst erträglicher, dann wärmer und schließlich regelrecht mollig, so daß ich bald schon meinen Pullover ausziehen mußte. Offenbar gab es nur zwei mögliche Einstellungen: zu kalt und zu warm. Letzteres war mir in diesem Fall allerdings lieber, da zu niedrige Temperaturen schnell sehr unangenehm werden können, wenn man sich wie ich hier im Zug nicht sonderlich viel bewegen kann.

Nun, da ich einmal unterwegs war, konnte ich entspannt dem entgegensehen, was vor mir lag. Der Zug rollte durch die Landschaft, die vor dem Fenster vorüberzog. Der Himmel war von Wolken bedeckt, durch die hier und da immer wieder einmal die Sonne brach. Als er schließlich Dresden-Neustadt erreichte, hatte der Zug seine Verspätung nicht nur nicht aufgeholt, sondern auf gute zwanzig Minuten ausgebaut. Der Aufenthalt war nur kurz, dann ging es auch schon weiter. Wenige Minuten später überquerten wir die Elbe, was mir einen schönen Panoramablick auf die Dresdner Innenstadt bescherte, deren Anblick als Dresdner Elbpanorama weltberühmt ist. Die Waldschlößchenbrücke, deretwegen die Stadt den Titel des UNESCO-Weltkulturerbes für ihr Elbtal 2009 verspielt hatte, bekam ich allerdings nicht zu sehen. Sie liegt zu weit weg auf der anderen Seite des großen Bogens, den die Elbe vor dem Stadtzentrum beschreibt.

Aus dem fahrenden Zug: Auf der Marienbrücke
Gerade noch geschafft: eine Aufnahme des malerischen Dresdner Stadtzentrums von der Marienbrücke, das allerdings ein bißchen weit weg ist.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Kurz darauf erreichte der Zug den Dresdner Hauptbahnhof. Dieser bietet einen gänzlich anderen Anblick als sein Berliner Pendant. Seine repräsentative Bahnhofsarchitektur des 19. Jahrhunderts dominiert auch heute noch sein Erscheinungsbild, woran auch verschiedene Modernisierungen der Neuzeit nicht wesentlich etwas zu ändern vermochten, sieht man einmal von den riesigen Glasfaser-Membranen ab, die heute das vormals mit Glas gedeckte Dach ersetzen. Einst hatte auch Berlin solch repräsentative Bahnhofsbauten, von denen heute jedoch keine mehr übrig sind – mit einer Ausnahme: dem Hamburger Bahnhof, der als einziger der Berliner Kopfbahnhöfe Krieg und Abrißwahn überstand. Doch auch er hat seine Funktion als Verkehrseinrichtung längst verloren und dient heute einer Kunstgalerie als Domizil.

Weiter ging die Fahrt auf einer Strecke, die sich zunächst immer mehr der Elbe annäherte, bis sie sie kurz vor Pirna erreichte, wo einer der schönsten Abschnitte der gesamten Strecke begann: das Elbtal im Elbsandsteingebirge. Die Eisenbahngleise verlaufen unmittelbar am linken Ufer des Flusses, dessen Lauf sie Windung für Windung, Kurve für Kurve stoisch folgen. Der Zug fuhr flußauf, und da ich das Glück hatte, auf seiner linken Seite zu sitzen, hatte ich vom Fenster einen wundervollen Blick auf den Fluß und die gegenüberliegende Uferseite. Als es kurz vor dem kleinen Ort Rathen in die große s-förmige Doppelschleife der Elbe hineinging, zog alsbald die vielberühmte Bastei an mir vorüber.

Im Elbtal: Bei Rathen
Achtung! Achtung! Eine Zugdurchfahrt.
Ein Halt im kleinen Kurort Rathen ist für einen EuroCity-Zug wie den Hungaria natürlich nicht vorgesehen. So läßt sich die am gegenüberliegenden Elbeufer aufragende Bastei nur in schneller Fahrt betrachten.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Wenig später konnte ich dann den mindestens ebenso bekannten Königstein mit seiner großen Festung sehen. Zwar befindet sich dieser auf derselben Flußseite wie die Eisenbahnstrecke, die unmittelbar an seinem Fuß vorüberführt, doch aufgrund der weitläufigen Schleife, die das Flußtal vor ihm beschreibt, war er für mich dennoch gut sichtbar. Erst recht keine Schwierigkeiten hatte ich, auch den markanten Lilienstein, der dem Königstein direkt gegenüber am rechten Flußufer aufragt, zu betrachten. Er ist insofern etwas Besonderes, als er der einzige Tafelberg des Elbsandsteingebirges ist, der sich auf dieser Seite des Flusses befindet. Aufgrund der weiten Schleife, die der Zug immer noch durchfuhr, konnte ich mir drei seiner Seiten in aller Ruhe ansehen. Unwillkürlich kam mir dabei die alte Geschichte in den Sinn, der zufolge einst der sächsische Kurfürst Friedrich August II. bei einem zur Feier der Beendigung des zweiten Schlesischen Krieges 1745 auf dem Königstein ausgerichteten Bankett dem preußischen Monarchen Friedrich II. den Lilienstein geschenkt haben soll. Als er diesen Akt der Großzügigkeit wenig später bereute, wußte nur der Festungskommandant Friedrich Wilhelm von Kyau Rat. Er ließ dem Preußenkönig mitteilen, Sachsen bitte ihn darum, sein neues Besitztum innerhalb von vier Wochen abzutransportieren, denn – um es im besten Sächsisch zu formulieren – „Mir brauchn de Platz“. Friedrich II., sowohl erstaunt als auch belustigt über diese Dreistigkeit, soll daraufhin auf den Lilienstein verzichtet haben. Ob diese Geschichte nun wahr ist oder in das Reich der Sagen gehört – lustig ist sie allemal.

Im Elbtal: Lilienstein
Auch heute noch ist der Lilienstein, dessen Gipfel aus dem Zugfenster am Grund des Elbtals gut zu sehen ist, fest in sächsischer Hand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Hinter dem Lilienstein verließen die Elbe und mit ihr mein Zug die große Doppelschleife des Flusses und erreichten nur wenig später das etwa fünf Kilometer davon entfernt gelegene Bad Schandau. Auch dieser berühmte Ort des Elbsandsteingebirges befindet sich – jedenfalls zu großen Teilen – auf dem jenseitigen Elbufer, was mir Gelegenheit gab, ihn in aller Ruhe an mir vorüberziehen zu sehen. Anstelle steiler Felswände ragten hinter ihm die sanft geschwungenen Gipfel bewaldeter Berge auf, und hinter der Ortsmitte war der Eingang in das Tal der Kirnitzsch, die hier in Bad Schandau in die Elbe mündet, gut zu erkennen. Bevor ich diesen Anblick jedoch genießen konnte, mußte ich die Haltezeit abwarten, die der Zug am Bahnhof des Ortes einlegte – doch nicht, weil jener so bedeutend und groß ist, sondern weil es sich um den letzten Halt auf deutschem Staatsgebiet handelt.

Im Elbtal: Bad Schandau
Wenn man den auf der gegenüberliegenden Seite der Elbe gelegenen Ortskern von Bad Schandau vom Zugfenster aus sieht, hat man den Bahnhof des Ortes längst verlassen, denn dieser befindet sich ein Stück flußab an der großen Brücke, auf der die das Elbtal entlangführende Bundesstraße den Fluß überquert.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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So passierte ich wenige Minuten später erst die Schrammsteine und dann Schmilka, den Grenzort zu Tschechien, der am gegenüberliegenden Ufer den wirklich letzten Ort auf deutschem Gebiet darstellt. Ein Stück hinter ihm konnte ich die Grenze deutlich ausmachen, denn noch immer steht dort das einstige, die Uferstraße überspannende Grenzübergangsgebäude. Lange Zeit war es praktisch funktionslos, da mit dem EU-Beitritt Tschechiens die Kontrollen eingestellt wurden. Seit diesem Jahr gibt es wieder welche, doch scheinen die, soweit ich das vom Fenster meines schnell fahrenden Zuges erkennen konnte, nicht an diesem Gebäude stattzufinden. Jedenfalls sah  es nach wie vor recht verlassen aus.

Im Elbtal: Am Grenzübergang Schmilka
Zweckbau am Ufer – der Grenzübergang Schmilka.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Das jenseitige Ufer der Elbe war nun also bereits tschechisches Gebiet. Mein Zug setzte seine Fahrt jedoch noch ein Stück in deutschen Landen fort, bis er schließlich am Gelobtbachtal ebenfalls ins Nachbarland überwechselte, was ich allerdings bei der schnellen Fahrt nicht mitbekam. Das gleiche widerfuhr dem kleinen Dorf Dolní Žleb, das am hiesigen Ufer der erste tschechische Ort nach der Grenze ist und heute zu Děčín gehört. Einst hieß es Dolní Grunt nad Labem, was auf deutsch Niedergrund an der Elbe bedeutet. Von ihm war für mich überhaupt nichts zu sehen, da die Eisenbahntrasse direkt am Ufer der Elbe verläuft und der Ort sich dahinter befindet.

Děčín – oder Tetschen, wie es früher hieß – erreichte der Zug wenig später. Sollten Grenzer im Zug gewesen sein, stiegen sie sicher hier aus. Bei mir waren allerdings keine vorübergekommen. Da hatte mein Zug – und mit ihm also ich – nun Deutschland verlassen und dabei mittlerweile eine gute halbe Stunde Verspätung angesammelt. Vor mir lagen noch reichlich fünfhundert Kilometer, reichlich zweihundert hatte ich hinter mich gebracht. Ich war gespannt, wann ich unter diesen Umständen wohl in Budapest eintreffen würde. Planmäßig wäre es gegen 20:30 Uhr gewesen. Doch das hielt ich nun schon für nicht mehr machbar.

Im weiteren Verlauf der Fahrt wich die Strecke der Elbe, die nun das Böhmische Mittelgebirge durchfloß, nicht von der Seite. Es ging also wie zuvor durch eine schöne Berglandschaft, die allerdings deutlich anders gestaltet war als das Elbsandsteingebirge. Anstelle markanter Sandsteinfelsen blickte ich nun auf schön geschwungene Bergketten, aus denen immer wieder markante Gipfel herausragten. Da diese vulkanischen Ursprungs sind und demzufolge aus Basalt bestehen, waren jetzt keine so markanten und verwitterten Felsen mehr zu sehen, wie sie in der Sächsischen und Böhmischen Schweiz so zahlreich an mir vorübergezogen waren. Felsen gab es allerdings hier und da trotzdem, wie ich in dem wenig später erreichten Ústí nad Labem unmittelbar am Elbufer sehen konnte, als wir erst am Fuße einer senkrechten Felswand entlangfuhren, die gerade noch genug Platz ließ, damit unsere Eisenbahnstrecke und eine Straße daran vorüberführen konnten, und bei der Ausfahrt aus der Stadt die Burg Střekov passierten, die eines ihrer Wahrzeichen ist. Sie ragt auf einem hohen Felsen unmittelbar über dem Fluß auf und ist weithin sichtbar. Ihr deutscher Name lautet übrigens Schreckenstein und sie besitzt für die deutsche Musikgeschichte einige Bedeutung, denn sie inspirierte den Komponisten Richard Wagner, nachdem er sie 1842 besucht hatte, für seine Oper Tannhäuser.  Und wenn ich schon bei deutschen Namen bin: Ústí nad Labem hat natürlich auch einen solchen: Außig. Doch eigentlich übersetzt das nur den Namensteil Ústí. Der Zusatz „nad Labem“ bedeutet allerdings nur „an der Elbe“, denn die tschechische Bezeichnung des Flusses ist „Labe“.

Burg Střekov in Ústí nad Labem
So schrecklich sieht sie eigentlich gar nicht aus, die Burg Schreckenstein am Ufer der Elbe, auf tschechisch Hrad Střekov.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Nachdem der Zug schließlich Ústí verlassen hatte, folgte er zunächst weiter dem Fluß. Da es nun in Richtung Prag ging, glaubte – und hoffte – ich zunächst, die Fahrt führe direkt zur Mündung der Moldau – dem Fluß, an dem Prag liegt – in die Elbe. Doch da hatte ich die Rechnung ohne die Erbauer der Strecke gemacht. Da das Land, durch das der Zug nun fuhr, zunehmend ebener und offener wurde, hatte es keine Notwendigkeit mehr gegeben, jeder weitläufigen Windung des Flusses zu folgen, um ans Ziel zu kommen. Und so verließ die Strecke, als sie endgültig in der nordböhmischen Ebene angekommen war, die Elbe und führte mitten ins Land abseits des Flusses hinein, um eine der besonders großen Flußschleifen abzukürzen. Zwar kehrten wir immer wieder einmal an den Fluß zurück, doch als dieser die schließlich von Westen heranströmende Moldau in sich aufnahm, waren wir gerade wieder inmitten weiter Felder unterwegs und bekamen davon nichts mit. So mußte mich erst ein Blick auf die Karte davon in Kenntnis setzen, daß ich bei der nächsten Sichtung eines Flusses nicht mehr die Elbe, sondern nunmehr die Moldau vor mir hatte. Nun dauerte es nicht mehr lange, da fuhr der Zug in den Hauptbahnhof von Prag ein.

Die berühmte Prager Burg – den Hradschin – hatte ich nur kurz und sehr von weitem zu sehen bekommen. Der Bahnhof lag ganz offensichtlich ein Stück von der Prager Innenstadt entfernt. So gestaltete sich mein Aufenthalt in der Stadt, auch wenn er etwas länger war als bei den bisherigen Stops – nur kurz. Als es nach einiger Zeit weiterging, fuhr ich plötzlich rückwärts. Bis Prag war mein Sitzplatz in Fahrtrichtung ausgerichtet gewesen. Das hatte sich jetzt geändert. Die Landschaft vor den Fenstern war nun Ostböhmen – großenteils hügelig, stellenweise auch eben. Weite Felder wechselten sich mit Wäldern ab, hier und da waren mal kleinere, mal größere Ortschaften eingestreut. Kolín und Pardubice blieben mir als Haltepunkte in Erinnerung.

Tschechische Landschaft bei Hradec nad Svitavou
Nach der bergigen Landschaft Böhmens geht es nahe Hradec nad Svitavou durch sanft geschwungene Hügel. Der Ort hieß einst Grándorf und gelangte als Greifendorf nach dem Münchener Abkommen an das Deutsche Reich, wo er zum Landkreis Zwittau gehörte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er wieder tschechisch und erhielt seinen heutigen Namen, der soviel wie Kleine Burg an der Zwitta bedeutet.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Kurz bevor der Zug Brno, das alte Brünn, erreichte, durchfuhr er ein wieder bergigeres Gebiet, das mir ein Blick auf die Karte als Böhmisch-Mährische Höhe identifizierte. Das kleine Flüßchen, an dem die Strecke zu diesem Zeitpunkt schon eine ganze lange Weile entlangführte und das sich nun kurvenreich durch diesen Höhenzug hindurchwand, trägt den Namen Svitava und wird im Deutschen Zwitta oder Zwittawa genannt. Die Strecke war ein wahrer Leckerbissen für Eisenbahnfans. Tunnel folgte auf Brücke folgte auf Tunnel, es ging mal nach links, mal nach rechts und immer ein Tal entlang, in dem es zu beiden Seiten der Strecke reichlich malerische Ortschaften und bunte Herbstwälder zu sehen gab.

Es war nach vier Uhr am Nachmittag, als der Zug den Bahnhof von Brno schließlich erreichte. Die Oktobersonne, die um diese Zeit bereits recht tief stand, tauchte die Stadt und insbesondere die sich auf einem Hügel über dieser erhebende Kathedrale St. Peter und Paul in leuchtende Farben, die einen starken Kontrast zu den teils düsteren, doch glücklicherweise lockeren Wolken am Firmament bildeten.

Die Kathedrale St. Peter und Paul in Brno
Die Kathedrale St. Peter und Paul steht nicht weit vom Hauptbahnhof in Brno entfernt. Da sie sich auf einem Hügel über die Stadt erhebt, hat man direkt aus dem Zug einen phantastischen Blick auf den Sitz des Bischofs des mährischen Bistums Brünn.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Von Brno, der großen Stadt in Mähren, begab sich der Zug dann auf eine wahrhaft historische Strecke, denn er befuhr nun die alte Kaiser-Ferdinands-Nordbahn, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebaut wurde. Auf ihr erreichte er nach nicht ganz einer Stunde Břeclav, dessen deutschen Namen Lundenburg ich zuvor noch nie gehört hatte. Dahinter wartete die Grenze zur Slowakei darauf, überquert zu werden. Ein Blick auf die Uhr und ein Abgleich mit dem Fahrplan offenbarte mir, daß die tschechische Bahn offenbar recht tüchtig war und einiges besser machte als die deutsche, denn sie hatte die halbstündige Verspätung, mit der sie meinen Zug übernommen hatte, vollständig aufgeholt. Hier in Břeclav war er pünktlich auf die Minute unterwegs.

Leider sollte es ihm nicht vergönnt sein, dies beizubehalten. Denn die Fahrt auf slowakischem Staatsgebiet, immer nahe dem Ostrand des Landes entlang, wurde von einigen Baustellen verzögert, auf denen die Strecke offenbar nur noch eingleisig war. Zwar kam es nur ein- oder zweimal zu Halten auf freier Strecke, doch insgesamt hatte ich den Eindruck, nun in einem Bummelzug zu sitzen und nicht in einem EuroCity. So kam es, wie es kommen mußte. Hatte mein Zug Kúty, den ersten Ort auf dem Gebiet der Slowakei, noch pünktlich erreicht, konnte ihm das in Bratislava – einst Preßburg – nicht mehr gelingen. Als er in den Hauptbahnhof der Stadt einfuhr, hatte er die halbe Stunde Verspätung nicht nur bereits wieder erlangt, sondern sogar leicht übertroffen. Vor den Fenstern ging derweil die Sonne unter, so daß sich, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, bereits die Nacht herniedersenkte und die Welt vor den Fenstern in absolute Schwärze hüllte. Nun war, wenn ich von der vielfachen Spiegelung des Großraumabteils absah, wirklich gar nichts mehr zu sehen.

Sonnenuntergang über tschechischen Feldern
Die Fahrt am Ostrand der Slowakei ging durch weite, ebene Felder – die optimale Landschaft für ein herrlich-herbstliches Sonnenuntergangsschauspiel – hier in der Nähe von Podivín (deutsch: Kostel).
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Vom weiteren Verlauf der Fahrt kann ich daher nichts Nennenswertes mehr berichten. Die Donau, die ich in Bratislava bereits erreicht hatte, war mir dort noch nicht vor die Augen gekommen, und wenn das jetzt der Fall sein sollte, konnte ich sie in der Dunkelheit nicht mehr sehen.

So schön ich das Reisen in der Eisenbahn auch finde, so muß ich doch feststellen, daß es kaum etwas Langweiligeres gibt als eine nächtliche Zugfahrt. Die Welt tauchte nur an den Bahnhöfen für kurze Zeit aus der den Zug umgebenden Schwärze auf. Nové Zámky und Štúrovo waren noch zwei Ortschaften auf slowakischem Gebiet, an denen dieser hielt. Als er schließlich Szob erreichte, befand ich mich schon in Ungarn. Diese Stadt und die, die nun folgten – Nagymaros-Visegrád und Vác -, kannte ich schon von meiner Donau-Kreuzfahrt, die ich im vorangegangenen Jahr unternommen hatte. So wußte ich, daß ich jetzt im wesentlichen dem Lauf dieses großen europäischen Flusses folgte, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. Und ich wußte auch, daß die Landschaft, wenn auch unsichtbar, so doch hügelig bis bergig war und später, vor Budapest in eine weite Ebene überging. Vom Flachland um Berlin war die Fahrt erst durch das Elbtal und dann durch das böhmische Bergland mit seinen Wäldern und Tälern gegangen, hatte das ebene Tiefland, die Felder und  Weinbaugebiete Mährens, die von viel Grün und prächtigen Flußlandschaften geprägten slowakischen Marchauen, das westungarische Tiefland und das sanfte Hügelland des Vértes-Gebirges passiert, bis sie schließlich die weite pannonische Tiefebene um Budapest erreicht hatte. Ich hatte sozusagen einen Querschnitt durch Mitteleuropas ganze Geologie in nur einem Tag live am Zugfenster miterleben können. Kann man da noch ernsthaft bestreiten, daß zu einer Reise auch der Weg gehört? Selbst der Umstand, daß dessen letzter Teil heute quasi in Dunkelheit versunken war, konnte nicht den Reiz, den diese Fahrt auf mich ausgeübt hatte, schmälern. Außerdem würde ich das Verpaßte sicherlich auf der Rückfahrt nachholen können. Doch soweit war es noch lange nicht.

Die Uhr zeigte etwa 21 Uhr an, als der Hungaria sein Ziel schließlich erreichte. „Budapest – Nyugati“ war auf einem der großen Schilder zu lesen, die auf dem Bahnsteig den Namen des Bahnhofs verkündeten. Nyugati – das stand für Nyugati pályaudvar und bedeutete Westbahnhof. Als Kind – noch ohne jedes Verständnis für Sprachen – hatte ich mich manchmal gefragt, was denn der Bahnhof wohl mit Nougat zu tun haben mochte. Und so hatte sich mir diese Assoziation ins Gedächtnis gegraben, das sie nun, da ich das Schild las, brav wieder hervorkramte und mich so zum Lächeln brachte.

Hatte ich, da mein Waggon nach der Umkehrung der Fahrtrichtung in Prag nun der letzte des Zuges war, bei einem letzten Blick aus dem Fenster noch auf einen Neubau geblickt, der derart auf nackten Betonpfeilern ruhte, daß ich durch sein Erdgeschoß glatt zur gegenüberliegenden Seite hindurchsehen konnte, so änderte sich der Eindruck gänzlich, als ich kurz darauf unter dem freien Nachthimmel auf dem Bahnsteig stand. Kaum hatte ich mich, der Ausschilderung folgend, in Richtung Ausgang in Bewegung gesetzt, fiel mein Blick auf die sich einige Meter voraus erhebende Bahnhofshalle, zu der mich der Bahnsteig zielstrebig hinführte. Ihr zu beiden Längsseiten auf rötlichen Ziegelwänden ruhendes Stahlgerüst, ihre mir zugewandte, aus vielen kleinen, rechteckigen Glasscheiben bestehende, wie das Dach nach oben hin spitz zulaufende Schmalseite sowie die zwei schlanken, ebenfalls aus Ziegeln gemauerten und oben von kleinen vierseitigen Kuppeln abgeschlossenen Türmchen, die sie flankierten, verrieten unmittelbar das stattliche Alter des Bahnhofs, der bereits aus dem Jahr 1877 stammt. Als ich genügend weit auf dem langen Bahnsteig vorangekommen war, um von diesem direkt in diese Bahnhofshalle hineingeleitet zu werden, fiel mir nicht nur auf, daß hier auch deren Dach – im Gegensatz zum Dresdener Hauptbahnhof – noch im originalen, glasgedeckten Zustand war, sondern auch, daß es in der Halle tatsächlich nur um eines ging: die Eisenbahn. Abgesehen von kleinen Imbiß- und Informationsständen und dem einen oder anderen Fahrkartenschalter gab es nichts, was auch nur entfernt an einen Laden erinnert hätte. Welch ein Kontrast zu dem riesigen Berliner Hauptbahnhof, von dem ich am Morgen abgefahren war. Dieser Bahnhof hielt sich nicht für ein Einkaufszentrum. Er gab sich  als das, was er war: eine Einrichtung für den Schienenverkehr. Und das hatte unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Atmosphäre. Hier stand niemand, der eigentlich nur Einkäufe erledigen oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollte, die nichts mit Personenverkehr zu tun hatten, den Reisenden im Weg oder blockierte Zugänge zu Bahnsteigen. Wer hier unterwegs war, wollte in den allermeisten Fällen entweder mit dem Zug irgendwohin fahren oder war, so wie ich, gerade mit einem angekommen. Dementsprechend herrschte hier praktisch keine Hektik und kein Gedränge. Zwar mochte das auch damit zu tun haben, daß die zehnte Stunde der zweiten Tageshälfte bereits angebrochen war, doch hatte ich irgendwie den Verdacht, daß sich daran auch tagsüber kaum etwas änderte. Vielleicht ergab sich in den nächsten Tagen ja eine Gelegenheit, das einmal zu überprüfen. Auf jeden Fall machte dieser im besten Sinne etwas altertümliche Bahnhof auf mich einen viel angenehmeren und heimeligeren Eindruck als der immer ein wenig seelenlos wirkende Zentralbahnhof meiner Heimatstadt. Hier waren die bald einhundertfünfzig Jahre Eisenbahngeschichte, die mit diesem Ort verbunden war, förmlich spürbar. Fast erwartete ich, irgendwo eine Dampflok fauchen zu hören…

Da der Tag bereits recht weit fortgeschritten war und ich nach der langen Reise dann doch endlich einmal ankommen wollte, nahm ich mir jetzt nicht die Zeit, den Bahnhof noch eingehender zu betrachten, sondern verschob das auf einen möglichen anderen Tag. Stattdessen machte ich mich auf den Weg ins Hotel. Da ich bei der Buchung nicht nur darauf geachtet hatte, daß es möglichst zentral und verkehrsgünstig gelegen, sondern auch vom Bahnhof meiner Ankunft leicht erreichbar war, hatte ich keinen allzu weiten Weg zurückzulegen. Und da ich den ganzen Tag über gesessen hatte, entschloß ich mich kurzerhand, diesen zu Fuß zurückzulegen.

Den Koffer hinter mir herziehend, trat ich durch das Portal des Bahnhofsgebäudes auf die Straße und fand mich unmittelbar im Trubel der Großstadt wieder. Vor mir kreuzten sich zwei breite Boulevards auf einem großen, Nyugati tér genannten Platz. Das ungarische Wort „tér“ war auch eines der Dinge, die mein Gedächtnis, obwohl sie lange Zeit ungenutzt darin verborgen gewesen waren, unmittelbar wieder hervorkramte. Und so wußte ich in dem Augenblick, als ich das Straßenschild, auf dem es stand, las, daß es „Platz“ bedeutete. Direkt vor dem Bahnhofsgebäude verlief der Teréz körút, der am Nyugati tér von einer Hochstraße überquert wurde, die man sicherlich zur Entlastung des Verkehrs über die große Kreuzung gespannt hatte. Genau wie sie kreuzte ich den großen Boulevard und machte mich auf den Weg in die Bajcsy-Zsilinszky út, zu der mein Gedächtnis die Feststellung beizutragen hatte, daß das Wörtchen „út“ dem deutschen Wort „Straße“ entsprach, wobei diese eine gewisse Größe erreichen mußte, um als „út“ bezeichnet zu werden. Ein „körút“ ist hingegen nicht nur eine noch größere Straße, sondern entweder eine, die einen – wenigstens halben – Ring beschreibt oder aber die Größe eines Boulevards erreicht. Auf den Teréz körút traf definitiv beides zu.

Bevor ich mich nun aber zu weit in diesen laienhaften sprachlichen Betrachtungen verlor, schritt ich, sobald ich in die Bajcsy-Zsilinszky út eingebogen war, kräftig aus. Nach etwa fünf Minuten wies mich mein Smartphone, dem ich die Wegführung anvertraut hatte, an, in eine Nebenstraße einzubiegen, um den Weg etwas abzukürzen. Ich war nämlich im Grunde unterwegs in Richtung der Budapester Staatsoper, in deren unmittelbarer Nähe sich mein Hotel befand. Das Opernhaus stand jedoch an einem weiteren der großen Budapester Boulevards, der den Namen Andrássy út trug – uneingeschränkt konsequent war man mit der Namensgebung dann auch wieder nicht – und die Bajcsy-Zsilinszky út zwar kreuzte, dies jedoch in einem derart spitzen Winkel tat, daß der Gang durch die Nebenstraßen meinen Weg bedeutend abkürzen würde.

So hatte ich zu guter Letzt nur knappe fünfzehn Minuten zu gehen, bis ich wohlbehalten an meinem links neben der Oper gelegenen Hotel ankam, das sich in der Révay utca befand. Ich konnte nicht umhin, ein weiteres Mal in die ungarische Straßennamenkunde einzutauchen und festzustellen, daß diese Straße in der Tat so klein und schmal war, wie es das Wort „utca“ vermuten ließ. Das Hotel, das den schönen Namen „K+K Hotel Opera Budapest“ trug und immerhin vier Sterne besaß, sah von außen wie ein ehrwürdiger bürgerlicher Altbau aus, der sich mit seinen sechs Stockwerken, über denen noch ein Dachgeschoß lag, in den Straßenzug einfügte, ohne daraus besonders hervorzustechen. Die Eingangsfront war mit fünf aufeinanderfolgenden, bogenförmigen Baldachinen versehen, von denen gleich der erste den Eingang überwölbte, zu dem sieben Stufen hinaufführten.

Die Lobby war etwas moderner gestaltet, als es der äußere Eindruck des Gebäudes vermuten ließ, ohne daß man dabei jedoch in langweiligen Modernismus verfallen wäre. Ganz im Gegenteil, man schien hier einen zwar schlichten, dennoch aber auf eine gewisse Gemütlichkeit bedachten Stil zu pflegen. Im Eingangsbereich standen einige Sessel und niedrige Tische, dahinter lag, der Tür genau gegenüber, die Rezeption, wo ich mich nun anmeldete. Die Rezeptionistin war überaus professionell, so daß alles schnell und problemlos vonstattenging. Lediglich die Bitte, meine Rechnung doch gleich jetzt zu bezahlen, erschien mir ein wenig merkwürdig, und auch die auf meine Nachfrage gegebene Begründung, das würde die Dinge bedeutend vereinfachen, leuchtete mir nicht ganz ein. Da ich jedoch wohlbehalten hier angekommen war und somit auch mein Zimmer beziehen würde, hatte ich nicht wirklich etwas dagegen einzuwenden, zumal mir der Gedanke durch den Kopf ging, daß ich auf diese Weise bei der Abreise alles schon erledigt haben würde. Wenn das mit der Vereinfachung der Dinge gemeint gewesen war, sollte es mir recht sein. Bei der Bezahlung konnte ich dann zum ersten Mal in meinem Leben die Erfahrung machen, wie es sich anfühlt, wenn man mal eben so eine Million für etwas bezahlt. Das hatte seine Ursache darin, daß der Kurs des ungarischen Forints zum Euro bei nicht ganz 1 : 390 lag.

Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, erhielt ich meine Schlüsselkarte und eine Beschreibung, wie ich zu meinem Zimmer käme, die sich als so genau erwies, daß ich trotz des langen Weges durch die Flure des Erdgeschosses keine Schwierigkeiten hatte, erst den Aufzug und dann mein Zimmer zu finden. Wie sich herausstellte, zog sich der Hotelkomplex durch den gesamten Gebäudeblock, von einer kleinen Straße zur anderen. Denn als ich schließlich in meinem Zimmer angekommen war und aus dem Fenster blickte, schaute ich nicht auf die Révay utca hinaus, sondern in ihre benachbarte Parallelstraße, die Lázár utca.

Das Zimmer war überaus komfortabel und ließ, was die Ausstattung anging, keine Wünsche offen. Ganz offensichtlich handelte es sich, obwohl ich ein Einzelzimmer gebucht hatte, um ein Doppelzimmer, so daß mir nun ausreichend Platz zur Verfügung stand – ein Umstand, der mir angesichts meines geplanten zehntägigen Aufenthaltes nur recht sein konnte.

Da es mittlerweile zehn Uhr abends geworden war und ich überdies auch keinen großen Hunger verspürte – für ein ausgiebiges Abendessen war es sowieso zu spät -, beschloß ich, sämtliche ersten Erkundungen des näheren Umfeldes des Hotels auf den morgigen Tag zu verschieben, mich stattdessen erst einmal häuslich einzurichten und anschließend von der langen Fahrt auszuruhen. Für heute würde es genügen, mich darüber zu freuen, daß ich wohlbehalten in dieser meiner zweiten Heimatstadt Budapest angekommen war.

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Deutsche Bahn – mehr von allem

Dieser Beitrag ist Teil 6 von 6 der Beitragsserie "Aus den Notizen eines Bahnfahrers"

Die Deutsche Bahn ist mittlerweile leider eher dafür bekannt, ihren Kunden eine Menge Unannehmlichkeiten zu bereiten und damit Ärger und Streß zu verursachen. Um so mehr ist es mir eine Freude, mitteilen zu können, daß es ihr nach all dem Chaos, das sie bereits im Vorfeld meiner Fahrt nach Bonn veranstaltet hatte, dann doch gelungen ist, mich ohne größere Pannen an mein Ziel zu bringen. Das heißt natürlich nicht, daß ich dort pünktlich angekommen bin, doch betrug die Verspätung nur reichlich zehn Minuten, was für deutsche Verhältnisse heutzutage als pünktlich gelten muß. So kam ich dann doch recht entspannt in Bonn an.

Wie bereits berichtet, hatten sich die Planer für meine Rückfahrt, nachdem sie meine direkte Verbindung Anfang April bereits gestrichen hatten, am Ende des Monats jedoch offenbar gedacht, daß selbst die semi-direkte Verbindung mit einem Umstieg am Kölner Hauptbahnhof doch noch viel zu langweilig sei, und mir mitgeteilt, daß ich stattdessen von Bonn nach Siegburg und von dort dann nach Köln fahren solle, wobei sie mir für den ersten Abschnitt dieser Strecke ihre eigenen Dienste nicht mehr würden anbieten können, so daß ich auf die der Straßenbahn des Köln-Bonner Verkehrsverbunds würde zurückgreifen müssen. Immerhin war mir bereits im Vorfeld eine Empfehlung für die entsprechende Verbindung übermittelt worden.

Doch gestählt durch eine große Menge an Erfahrung im Reisen mit der Deutschen Bahn, traute ich dieser Empfehlung nicht so ohne weiteres und entschloß mich, etwas früher loszufahren. Etwas zeitlichen Puffer zu haben, ist ja immer gut, und bei der Bahn weiß man ja nie…

Den ersten „Ich hab’s ja gewußt“-Moment hatte ich bereits am Bonner Hauptbahnhof. Und ausnahmsweise konnte die Deutsche Bahn gar nichts dafür. Am Anzeiger der Straßenbahnhaltestelle entdeckte ich eine Laufschrift, die mir verkündete, daß am Bonner Bertha-von-Suttner-Platz ein Polizeieinsatz im Gange sei, aufgrund dessen die Linie 66 erhebliche Verspätungen erleide. Während ich schon überlegte, ob es nicht besser wäre, sofort auf ein Taxi umzusteigen, da die Linie 66 eben jene war, die mich nach Siegburg bringen sollte, lief die Meldung weiter und verriet mir, daß die Verspätungen nur in der Fahrtrichtung Bad Honnef zu erwarten wären. Puh, Glück gehabt.

Tatsächlich fuhr meine Bahn erst pünktlich ein und ich dann mit ihr los. Gute vierzig Minuten war ich nun früher unterwegs als von der Deutschen Bahn empfohlen. Das sollte wohl genügen, um pünktlich nach Köln zu kommen und meinen Zug nach Berlin zu erreichen.

Einige Minuten später verkündete die vor jeder Station erklingende Durchsage die in Kürze bevorstehende Ankunft am Bertha-von-Suttner-Platz. Herrje! Stimmte denn hier gar nichts? Wenn der Platz auf meiner Strecke lag, mußte der Polizeieinsatz doch wohl auch mich betreffen. Würde ich nun etwa doch aufgehalten?

Ich wurde nicht. Die Bahn hielt, Leute stiegen aus, andere Leute stiegen ein, die Türen schlossen sich und weiter ging’s. Ob ich einfach Glück gehabt und der Einsatz kurz zuvor geendet hatte oder ob die Meldung veraltet gewesen war – ich weiß es nicht. Ohne jegliche Verzögerung setzte die Bahn die Fahrt fort, überquerte den Rhein und langte nach reichlich zwanzig Minuten Fahrt glücklich am Siegburger Bahnhof an.

Wie ich nach einer kurzen Prüfung möglicher Verbindungen am Abend zuvor erfahren hatte, standen mir nun wenigstens vier Züge zur Auswahl. Genug Optionen, um von hier aus nach Köln Messe/Deutz zu kommen, wo ich meinen Zug nach Berlin heute erreichen würde, der aus mir nach wie vor unbekannten Gründen nicht am Kölner Hauptbahnhof halten konnte.

Da ich aus dem mir von der Bahn empfohlenen Plan noch wußte, daß mein Anschlußzug hier vom Gleis 1 verkehren sollte, lenkte ich meine Schritte dorthin. Es war ja durchaus anzunehmen, daß auch andere Züge in Richtung Köln dort verkehren würden. Ein Fahrstuhl brachte mich zum Bahnsteig hinauf. Als sich dessen Türen oben öffneten, fand ich mich unmittelbar vor einem Anzeiger wieder. Das erste, was ich dort zu lesen bekam, war die Information über die nächsten beiden Züge. Und die war alles andere als erfreulich, denn für beide wurde der komplette Ausfall der Fahrt verkündet.

Großartig! Das lief ja super!

Da ich keine Lust verspürte, jetzt den Informationsschalter oder einen Fahrplanaushang zu suchen, holte ich mein Handy hervor und rief die App der Deutschen Bahn auf. Eine kurze Suche über die nächsten zur Verfügung stehenden Verbindungen brachte mir nicht nur umgehend die Information, daß ich in einer Minute einen ICE nach Köln nehmen könnte, sondern auch die Erkenntnis, daß ich dafür auf dem falschen Bahnsteig stand. Ich befand mich am Gleis 1, der ICE, den ich nur wenige Meter von mir entfernt stehen sah, am Gleis 3. Eine Minute! Ob ich das schaffen würde?

Die Antwort auf diese Frage war: Nein.

Als ich mich dem Strom der den Zug verlassenden Menschen entgegen die Treppe zum Bahnsteig hinaufgekämpft hatte, konnte ich nicht mehr tun, als dem bereits abfahrenden Zug hinterherzuwinken.

Nun gut, der war weg. Die beiden nächsten, das wußte ich vom Anzeiger am Gleis 1, fielen aus. Da jedoch alle drei nicht auf meinem mir von der Bahn empfohlenen Plan gestanden hatten, machte ich mir keine Sorgen. Denn ein kurzer Blick auf eben diesen Plan, den ich in der App einsehen konnte, zeigte mir, daß der dort angekündigte Zug nicht ausfallen sollte. Allerdings wurde bereits eine Verspätung angezeigt, die jedoch nur eine Minute betrug. Und solange sie kleiner blieb als jene meines Zuges nach Berlin, für den bereits eine aktuelle Verzögerung um zehn Minuten angegeben wurde, war alles gut. Lediglich meine frühere Abfahrt in Bonn wäre dann nutzlos gewesen.

Doch ich hatte noch eine andere Option. Knapp zehn Minuten vor meinem geplanten Zug sollte hier am Gleis 3 noch ein weiterer ICE halten. Eigentlich waren es zwanzig, doch auch dieser ICE sollte gute zehn Minuten verspätet sein. Ich beschloß, es mit ihm zu versuchen. Sollte sich seine Verspätung noch vergrößern, könnte ich immer noch zurück zum Gleis 1 wandern, wo mein eigentlich geplanter Zug abgehen sollte.

Es war jetzt kurz nach halb zehn Uhr morgens. Eine gute halbe Stunde hatte ich nun Zeit. Ich setzte mich auf eine Bank und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

Zunächst waren das jede Menge Durchsagen. Offenbar war der heutige Tag für die Bahn wieder einmal voller Probleme. Es vergingen kaum einmal fünf Minuten, ohne daß es in den Lautsprechern knackte und irgendeine Meldung durchgegeben wurde. Hier fiel ein Zug aus, weil es einen Notarzteinsatz gab, dort fuhr ein anderer gar nicht, weil am Zug technische Defekte aufgetreten waren. Hier am Bahnhof in Siegburg konnte man der Deutschen Bahn jedenfalls nicht vorwerfen, ihre Fahrgäste über das Geschehen im Dunkeln zu lassen. Dachte ich zunächst, daß es angesichts all dieser Durchsagen offenbar ganz schön viele Probleme gäbe, stellte ich bald fest, daß die hier betriebene Informationspolitik einigermaßen merkwürdig war. Nicht nur, daß man alle fünf Minuten den Ausfall derselben Züge verkündete – das könnte man ja durchaus als beflissenen Informationsdienst am Kunden betrachten. Nein, man gab auch Meldungen durch, über deren Sinnlosigkeit sich kaum streiten lassen dürfte. So hörte ich um 9:53 Uhr bereits zum zweiten Mal die Durchsage, die mich davon in Kenntnis setzte, daß der Zug nach Au am Sieg heute nicht wie geplant um 7:32 Uhr fahren, sondern stattdessen wegen eines Notarzteinsatzes ausfallen würde. Selbiges verkündete man für den Zug um 8:32 Uhr. Wozu? Die Abfahrtszeiten waren doch lange vorbei! Und so brachten mich diese Durchsagen lediglich zu der Frage, was das wohl für ein Einsatz sein mußte, der wenigstens drei Stunden lang reihenweise Züge ausfallen ließ, denn auch für das Ausbleiben eines eigentlich um kurz nach halb zehn Uhr verkehrenden Zuges gab er den Grund ab.

Da ich keine Antwort auf diese Frage finden würde, freute ich mich stattdessen wenig später über das Eintreffen des ICEs, der seine zehnminütige Verspätung immerhin nicht vergrößert hatte. Als Grund für die Verzögerung verriet mir eine weitere Durchsage am Bahnsteig die Verspätung eines vorausfahrenden Zuges. Der mußte aber irgendwo abgebogen sein, denn solange ich mich an dem Bahnsteig aufhielt, kam nur einer hier vorbei, und der fuhr gute fünfzehn Minuten vorher durch.

Dieselbe Zeitspanne später langte ich glücklich in Köln an. Noch viel glücklicher war ich, als ich feststellte, daß sich die zehnminütige Verspätung meines Zuges nach Berlin bisher nicht nur nicht vergrößert hatte, sondern daß er auch noch von eben dem Gleis abfahren würde, an dem ich gerade angekommen war.

Die zehn Minuten blieben auch die ganze halbe Stunde lang erhalten, die ich wartend auf dem Bahnhof Köln Messe/Deutz verbrachte. Als der Zug dann kurz vor elf Uhr den Bahnhof verließ, schien die Welt also noch in Ordnung. Mehr oder weniger jedenfalls. Für Bahnverhältnisse. Wenn ich aber gedacht hatte, daß das so bliebe, sollte ich bald eines Besseren belehrt werden.

Keine Stunde später – es war 11:44 Uhr und der Zug hatte Wuppertal passiert – knackte es im Lautsprecher des Waggons, in dem ich saß, und eine weitere der an diesem Tag so reichlichen Durchsagen brachte uns Fahrgästen die frohe Kunde, daß wir Bielefeld heute nicht sehen würden. Ein Halt sei dort nicht möglich. Kurz dachte ich an die Sperrung des Bahnhofs, doch erfuhr ich gleich darauf, daß es nicht der Bahnhof war, den man gesperrt hatte. Es war die Strecke.

Ich muß gestehen, ich konnte ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken. Hatte ich etwas anderes erwartet?

Immerhin, so teilte man mit, würden wir nicht irgendwo herumstehen müssen, sondern stattdessen über eine andere Strecke umgeleitet werden. Leider würde das bedeuten, daß wir von Hagen aus ohne weiteren Halt bis Hannover durchfahren müßten. Alles in allem brächte uns das leider eine Verlängerung der Fahrt um hundert bis hundertzwanzig Minuten ein. Doch das, so beeilte man sich hinzuzufügen, sei nur eine Prognose.

Man ist offenbar vorsichtig geworden bei der Deutschen Bahn. Feste Zusagen macht niemand mehr, seit die Fahrpläne auch keine mehr darstellen. So war es auch nicht sonderlich verwunderlich, daß das Geschehen nicht nur von mir mit einem gewissen Galgenhumor quittiert wurde. Und das betraf nicht nur die Fahrgäste! Als ein Kellner durch den Waggon ging, um die zuvor bestellten Getränke auszuliefern, entspann sich zwischen ihm und dem hinter mir sitzenden Fahrgast folgender Dialog:

Kellner: „Wie möchten sie zahlen? Bar, mit Karte oder mit Gutschein?“
Fahrgast: „Ach, Gutschein geht auch? Stellen Sie mir einen aus?“
Kellner: „Haben sie keinen? Na, kriegen sie wahrscheinlich heute, wir werden ja zwei Stunden Verspätung haben…“

Inzwischen war es 11:55 Uhr geworden und wir hatten Hagen erreicht.

Da man sich über den Grund der Streckensperrung zunächst nicht weiter geäußert hatte, schaute ich ein weiteres Mal in die Handy-App der Deutschen Bahn, ob es irgendwelche diesbezüglichen Mitteilungen gäbe. Und tatsächlich wurde ich nicht nur fündig, sondern erhielt mehr Informationen, als mir lieb waren.

Die erste Meldung verkündete lapidar einen „Notarzteinsatz auf der Strecke“ und wurde unmittelbar gefolgt von einer zweiten, die die „Verspätung eines vorausfahrenden Zuges“ zum Besten gab. Na, Mensch, da war ja heute ganz schön was los bei der Bahn.

Doch damit nicht genug. Eine dritte Meldung griff den Notarzteinsatz der ersten auf und konkretisierte den Ort: es sei die Strecke zwischen Hamm und Bielefeld betroffen, irgendwo zwischen Rheda-Wiedenbrück und Oelde[1]Hier der etwas konfuse Originaltext der Meldung: „Notarzteinsatz auf der Strecke: Auf der Strecke Hamm (Westf) Hbf – Bielefeld Hbf zwischen Rheda-Wiedenbrück und Oelde. Es kommt zu … [Weiterlesen].

Für alle diese Meldungen war kein Zeitpunkt angegeben. Das änderte sich bei der vierten. Sie behauptete, von „Jetzt“ zu sein und lieferte einen dritten Grund:

Zwischen Hamm (Westf) Hbf und Bielefeld Hbf befinden sich Gegenstände in der Oberleitung. Die Züge halten am nächsten Bahnhof und warten dort die Dauer der Streckensperrung ab oder werden nach Möglichkeit umgeleitet.

Eine fünfte Meldung schließlich kam wieder auf den Notarzteinsatz zurück, verlegte aber dessen Ort:

Aufgrund eines Notarzteinsatzes zwischen Gütersloh Hbf und Hamm (Westf) Hbf ist die Strecke in beide Richtungen gesperrt. Die Streckensperrung dauert voraussichtlich bis 13:15 Uhr. Weitere Informationen folgen.

Tja. Da konnte ich mir jetzt wohl etwas aussuchen. Verwirrt studierte ich die fünf Meldungen und entdeckte dabei noch eine sechste, die als einzige einen konkreten Zeitpunkt nannte: 1. März 2024, 1:28 Uhr. Sie lautete: „Bauarbeiten. Der Zug hält ersatzweise in Köln Messe/Deutz Gl. 11-12. Bitte prüfen Sie Ihre Reiseverbindung kurz vor der Abfahrt des Zuges.“

Mal davon abgesehen, daß ich die Empfehlung im letzten Satz wenig hilfreich fand – das muß man meiner Erfahrung nach mittlerweile bei jeder Fahrt mit der Deutschen Bahn tun, egal, ob sie etwas meldet oder nicht -, wußte ich nun immerhin, warum ich so umständlich von Bonn nach Köln hatte fahren müssen.

Einer kurz nach dem Verlassen des Bahnhofs in Hagen durchgegebenen Meldung zufolge war unsere Verspätung nun bereits auf einundzwanzig Minuten angewachsen. Dabei hatten wir die Umleitung noch gar nicht erreicht. Immerhin wurde nun auch der Grund für die Streckensperrung durchgegeben. Es sei ein Personenunfall zwischen Rheda-Wiedenbrück und Oelde gewesen, der einen Notarzteinsatz erforderlich gemacht habe. Offenbar war Meldung Nummer Drei aus der Handy-App die richtige.

Reichlich zwanzig Minuten später – es war nun 12:20 Uhr – hielt der Zug überraschend in einem Bahnhof an. Sollten wir nicht bis Hannover durchfahren? Ich schaute aus dem Fenster und entdeckte ein Bahnhofsschild: Hamm. Das lag immer noch auf unserer Stammstrecke. Und eigentlich sollten wir laut den Informationen über die Fahrt des Zuges, die ich in der Handy-App gefunden hatte, heute hier gar nicht halten! Was war denn nun schon wieder los?

Wenn ich mich auf dieser heutigen Reise auch über vieles beschweren konnte – die Durchsagen in diesem Zug nach Berlin gehörten erfreulicherweise nicht dazu. Die Erklärung folgte prompt. Der Zugführer habe noch keinen Fahrplan für die Umleitungsstrecke erhalten. Da der aber erforderlich sei, müßten wir darauf jetzt warten. Nur auf die Frage, wie lange das dauern würde, schien auch der Schaffner keine Antwort zu haben. Jedenfalls äußerte er sich nicht dazu.

Sieben Minuten später folgte bereits die nächste Durchsage. Der Fahrplan sei jetzt eingetroffen, in Kürze gehe es weiter. Offenbar legte man sich mächtig ins Zeug.

Und tatsächlich: drei Minuten später waren wir wieder unterwegs und begaben uns auf die angekündigte Umleitung. Hatte ich angesichts der gegebenen Prognose eine Bummeltour durch die Lande erwartet, ging die Fahrt zu meiner Überraschung flott voran.

Als nach einer Weile – es war inzwischen 13:49 Uhr  – wieder eine Durchsage durch den Waggon schallte, gab es – zumindest unter den gegebenen Umständen – endlich einmal gute Nachrichten. Wir kämen, hieß es, sehr gut durch die Umleitung und bräuchten wohl noch etwa fünfundvierzig Minuten bis Hannover.

Als ich eine knappe Viertelstunde später aus dem Fenster blickte, bemerkte ich überrascht, daß hinter uns die Porta Westfalica dem Horizont entgegenrückte. Ganz offensichtlich befanden wir uns bereits wieder auf der Stammstrecke unseres Zuges. Na, das ging ja fix.

Auch das Zugpersonal hatte ganz offensichtlich diesen Eindruck und wollte nicht versäumen, die Fahrgäste daran teilhaben zu lassen. Die Prognose sei angepaßt worden, hieß es in einer entsprechenden Durchsage, wir würden Hannover bereits um 14:34 Uhr erreichen. Gegen 16 Uhr seien wir dann Berlin. Nun, wenn sich das tatsächlich bestätigte, wäre das eine knappe Stunde früher als ursprünglich vorhergesagt.

Als wir um 14:38 Uhr Hannover verließen, betrug unsere Verspätung gute siebzig Minuten. Wahrlich kein Grund zur Freude, doch angesichts der ursprünglich prognostizierten Ankunft war, wie mir schien, trotzdem niemand ernsthaft verärgert. Auch meine Verstimmung hielt sich in Grenzen. Zum einen lag die Ursache heute tatsächlich nicht in der Verantwortung der Bahn, zum anderen hatte man alles in allem die Situation gut gehandhabt. Die nötigen Informationen waren prompt durchgegeben worden und hatten stets über die Lage informiert. Und ganz offensichtlich hatte man auch alles Menschenmögliche dafür getan, die Auswirkungen so gut wie möglich zu minimieren. Lediglich die Handy-App hatte mit ihrem Verwirrspiel hinsichtlich der einander widersprechenden Meldungen das Bild etwas getrübt.

So kam ich trotz des holprigen ersten Teils der heutigen Fahrt zu guter Letzt doch noch gut und einigermaßen streßfrei in Berlin an. Dennoch muß ich, wenn ich rückblickend alle Umstände dieser Reise nach Bonn und zurück, von der Buchung bis zu den Fahrten, zusammen betrachte, wieder einmal feststellen, daß bei der Deutschen Bahn derzeit einiges im Argen liegt. Entspanntes Reisen sieht anders aus. Doch anstatt mich aufzuregen, nehme ich es lieber mit Humor. Schließlich habe ich heute von allem ein wenig mehr bekommen, als zu erwarten gewesen wäre: mehr Umstiege, mehr – teils verwirrende – Meldungen in der App, mehr – teils ebenso verwirrende – Durchsagen, mehr Strecke und schließlich mehr Zeit im Zug. Und das am Ende sogar noch für weniger Geld. Denn wegen der Verspätung darf ich mich auf eine teilweise Rückerstattung freuen. Und dann habe ich vielleicht auch einen Gutschein…

Referenzen

Referenzen
1 Hier der etwas konfuse Originaltext der Meldung: „Notarzteinsatz auf der Strecke: Auf der Strecke Hamm (Westf) Hbf – Bielefeld Hbf zwischen Rheda-Wiedenbrück und Oelde. Es kommt zu Verspätungen in beide Richtungen im Fernverkehr der Deutschen Bahn.“

Vorfreude à la Deutsche Bahn

Dieser Beitrag ist Teil 5 von 6 der Beitragsserie "Aus den Notizen eines Bahnfahrers"

Wer nicht nur gelegentlich mit der Deutschen Bahn durch die Lande fährt, ist Kummer gewöhnt. Doch immer wenn man denkt, nun habe man wirklich alles erlebt, schlimmer könne es nun wirklich nicht mehr werden, sorgt die Bahn umgehend dafür, daß man seinen Irrtum erkennt. Denn schlimmer geht immer!

Wieder einmal ist es Mai. Wieder einmal ist es Zeit für die jährliche FedCon – das große Treffen der Fans und Stars der Science-Fiction-Szene in Deutschland, an dem ich nun schon das zweiundzwanzigste Mal teilnehme. Und wie jedes Mal fahre ich mit der Bahn zum Ort der Veranstaltung, der, wie in den letzten Jahren auch, das Maritim-Hotel in Bonn ist. Jedes Jahr bin ich auf’s neue gespannt, was die Freunde des Schienenstrangs diesmal für mich bereithalten. Denn eines ist sicher: Langweilig wird es garantiert nie. Doch was sie sich dieses Mal ausgedacht hatten, hatte ich wirklich noch nie erlebt. Denn dieses Mal begann das Chaos bereits weit vor der Fahrt…

Doch der Reihe nach.

In diesem Jahr hatte ich mich entschlossen, mit dem Kauf meines Tickets für die Convention auch gleich Hotel und Fahrkarte zu buchen. Das gestaltete sich via Internet recht unkompliziert und ermöglichte mir den Erwerb eines Spartickets, dessen Preisnachlaß so groß war, daß das Budget sogar eine Fahrt in der ersten Klasse hergab. Dafür mußte ich lediglich eine Einschränkung meiner Flexibilität in Form einer Zugbindung in Kauf nehmen, doch das war alles in allem akzeptabel. Und wenn es, wie sie behauptet, der Bahn half, besser zu planen, sollte es mir recht sein, auch wenn ich das Modell der Preisgestaltung, das die Bahn ihren Ticketverkäufen zugrundelegt, ja nie so recht verstanden habe. Insbesondere leuchtete mir nie richtig ein, inwiefern es bei der Planung hilft, wenn ich einen Zug früher buche, dessen Fahrt im Fahrplan doch bereits festgelegt ist, fährt er doch damit so oder so. Was sich allerdings in der Folge ereignete, zeigte mir, daß ich diese meine Grundannahme vielleicht doch noch einmal überdenken sollte.

So hatte ich also bereits am 22. Januar sämtliche Buchungen abgeschlossen – Veranstaltung, Hotel und Bahn – und blickte dem Termin der Convention entspannt und mit Vorfreude entgegen. Zumindest mit der Entspannung war es jedoch am Morgen des 2. April erst einmal vorbei. Um 9:02 Uhr nämlich schickte mir die Bahn eine Email mit dem Titel:

Fahrplanänderung auf Ihrer Reise nach Bonn Hbf am […]: Fahrt nicht wie geplant möglich

Als Grund wurde recht lapidar „eine Fahrplanänderung“ angegeben. Dachte ich zunächst an einen Fahrplanwechsel vom Winter- zum Sommerfahrplan, so wurde ich durch eine kurze Suche eines Besseren belehrt: der aktuelle Fahrplan der Bahn war noch bis zum 8. Juni 2024 gültig. War er etwa doch nicht so in Stein gemeißelt, wie ich bisher immer angenommen hatte? Wurden Züge, für die bis zu einem Stichtag ungenügend viele Buchungen eingegangen waren, etwa einfach aus dem Programm genommen? Oder gab es vielleicht einen anderen Grund? Ich konnte nur rätseln, denn weitere Auskünfte über die Hintergründe besagter Fahrplanänderung waren nirgendwo zu finden – weder in der Email noch auf der Website, auf der ich dem in ihr enthaltenen Link zufolge aktuelle Informationen abrufen können sollte.

Nun, es war kurz nach neun Uhr morgens, ich hatte zu arbeiten und zunächst keine Zeit, mich um das Problem zu kümmern. So hatte ich noch nichts unternommen, als mir die Bahn am Abend desselben Tages, genauer um 22:28 Uhr eine weitere Mail schickte, um mir folgendes mitzuteilen:

Fahrplanänderung auf Ihrer Reise nach Berlin Hbf am […]: Fahrt nicht wie geplant möglich

Das nenne ich mal konsequent! Nicht nur meine Hinfahrt, nein, auch meine Rückfahrt sollte es nun also nicht mehr geben. Der Grund für die zweite Absage, war derselbe wie für die erste: Fahrplanänderung. Welchen Grund allerdings diese hatte, mußte mich nach Meinung der Bahn offenbar nicht interessieren.

Immerhin teilte man mir erfreulicherweise mit, daß ich kein neues Ticket erwerben mußte. Man habe die Zugbindung, der ich bisher unterlegen hatte, aufgehoben. Ich könne also nun auch andere Fernverkehrszüge der Deutschen Bahn sowie Nahverkehrszüge und S-Bahnen nutzen. Lediglich eine neue Sitzplatzreservierung müsse ich vornehmen, da die alte natürlich nicht mehr aufrechtzuerhalten sei. Und auch zu der Frage, wie mit dieser zu verfahren sei, hielt man einige Hinweise bereit:

Sie können sich – soweit verfügbar – einen Sitzplatz für Ihre neue Verbindung buchen. Die Kosten für die nicht in Anspruch genommene, ursprüngliche Reservierung können Sie zur Erstattung einreichen. Dazu können Sie den digitalen Fahrgastrechte-Antrag Digitale Fahrgastrechte nutzen.

Auf die Idee, die Kosten für eine per Internet gebuchte und per Paypal oder Kreditkarte bezahlte, aber nun hinfällige Reservierung von allein und automatisch zu erstatten, kommt man bei der Bahn ganz offensichtlich nicht. Böswillige würden jetzt wohl unterstellen, man spekuliere dort darauf, daß die Leute das vergessen. Ich würde das natürlich nie denken!

Ich brauchte nun einige Tage, bis ich die Zeit fand, mich um die Buchung einer neuen Reservierung und die Erstattung der alten zu kümmern. Daß sich das nämlich nicht ganz so einfach gestalten würde, hatte ich recht schnell herausgefunden. Zwar versprach die Mail, daß mir der Klick auf den Link zu den aktuellen Informationen dabei helfen würde, eine alternative Zugverbindung zu finden, und tatsächlich war eine entsprechende Suchmöglichkeit auf der Website, zu der ich dann geleitet wurde, auch vorhanden, doch diese lieferte bei jedem meiner Versuche immer wieder nur ein und dasselbe Ergebnis: eine alternative Verbindung konnte nicht gefunden werden. Ich würde wohl oder übel das reguläre Buchungssystem mit seinem langwierigen Buchungsprozeß nutzen müssen.

So machte ich mich also am Abend des 17. April daran, neue Sitzplatzreservierungen vorzunehmen. Da sich die Bahn nach wie vor nicht in der Lage sah, mir die angekündigten alternativen Verbindungen zu meinen abgesagten Zügen herauszusuchen, mußte ich das wohl selbst tun. Also rief ich das Buchungssystem auf und nahm meine Einstellungen vor: Ausgangsbahnhof Berlin, Zielbahnhof Bonn, Datum, gewünschte Ankunftszeit, 1. Klasse, mit Rückfahrt, noch einmal Datum und gewünschte Ankunftszeit und zu guter Letzt noch auswählen, daß bitte nur Sitzplätze reserviert werden sollen. Klick auf „Suchen“. Los ging’s. Als nächstes mußte ich meinen Zug auswählen und erfuhr endlich, worin eigentlich die ominöse Fahrplanänderung bestand: zu dem von mir gewünschten Fahrtzeitpunkt gab es nun keine durchgehende Verbindung von Berlin nach Bonn mehr. Ich würde also in Köln umsteigen müssen.

Nun gut, ich wählte eine Verbindung und anschließend einen Sitzplatz aus. Seit ich von der automatischen Platzauswahl einmal einen Fensterplatz zugewiesen bekommen hatte, der gar keiner war, weil sich lediglich die Lehne des Sitzes am Fenster befand, mache ich das immer selbst. Ein Klick auf „Weiter“ und – nanu? Müßte jetzt nicht eigentlich die Auswahl der Rückreiseverbindung folgen? Stattdessen trat ich bereits in den Zahlungsprozeß ein. Da stimmte doch was nicht!

Also wieder zurück auf Anfang. Ich stellte alles nochmal ein, Hinreise, Rückreise, 1. Klasse und zu guter Letzt noch „Nur Sitzplatzreservierung“ auswählen. Und diesmal fiel es mir auf! Kaum aktivierte ich die Option, daß ich nur Sitzplätze reservieren möchte, wurden die für die Rückreise ausgewählten Daten kommentarlos gelöscht. Die Bahn ermöglichte es mir also, ein Ticket für Hin- und Rückreise zusammen zu buchen und dafür auch Plätze zu reservieren, wollte ich aber ausschließlich Platzkarten kaufen, dann ging das nur einzeln. Inklusive Kaufprozeß. Service vom Feinsten!

Nun gut. Es war ja nicht anders möglich. Ich klickte mich also zweimal durch den gesamten Buchungsvorgang, der nicht gerade kurz war, veranlaßte damit zwei getrennte Abbuchungen von meinem Konto und hatte am Ende glücklich zwei neue Platzkartenreservierungen erstanden. Uff! Es ist schon fast müßig zu erwähnen, daß natürlich auch für die Rückfahrt keine durchgehende Verbindung zum von mir gewünschten Zeitpunkt mehr existierte.

Nun noch die Rückerstattung. In den beiden Emails hatte man mir versprochen, daß ich das digital erledigen könne. Ich war gespannt und klickte erwartungsvoll den Link an, der mit „digitale Fahrgastrechte“ benannt war. Ich landete auf einer Seite, die mir detailliert die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten beschrieb, meine digitalen Fahrgastrechte – wie können Rechte eigentlich digital sein? – geltend zu machen. Neben dem Einsenden eines entsprechend ausgefüllten Formulars per Post standen mir zwei Wege offen, das online zu erledigen: auf der Website über mein Kundenkonto oder in der Handy-App der deutschen Bahn. Da ich nun schon mal am Computer saß und die Website vor mir hatte, wählte ich diese Option.

Als erstes sollte ich mich erstmal einloggen. Man wollte ja schließlich wissen, mit wem man es zu tun hatte. Nachdem ich mich der Bahn zu erkennen gegeben hatte, versuchte ich, der zuvor erhaltenen Anweisung zu folgen:

Wählen Sie in Ihrer Buchungsübersicht die entsprechende Reise oder Streckenzeitkarte aus, für die Sie Entschädigung beantragen wollen. Klicken Sie innerhalb des Reiters „Fahrgastrechte“ den Button „Entschädigung beantragen“ an.

Ich war absolut bereit, das zu tun, nur konnte ich nach der Auswahl der entsprechenden Reise den angesprochenen Reiter „Fahrgastrechte“ leider nirgendwo entdecken. Eigentlich gab es auf der Seite überhaupt keine Reiter. Das wäre ja auch zu einfach gewesen.

Ich fing nochmal von vorne an. Das Ergebnis blieb dasselbe. Wenn der Button da irgendwo war, schien er nicht so einfach zu finden zu sein[1]Hier muß ich fairerweise anmerken, daß ich heute, als ich den Artikel schreibe, die Seite noch einmal aufgerufen habe. Zwar sind dort immer noch keine Reiter zu finden, doch ganz unten, fast am … [Weiterlesen]. Aber es gab ja noch eine andere Option.

Ich griff zu meinem Handy, rief die als „DB Navigator“ bezeichnete App der Deutschen Bahn auf und wählte meine Reise aus. Unter „Weitere Aktionen“ wurde ich sofort fündig: Entschädigung beantragen. Klick! Und schon war ich wieder raus aus der App. Mein Webbrowser startete. Da hatte jemand Entwicklungskosten gespart. Wozu die Funktion in der App noch einmal realisieren, wenn man sie schon auf der Website hat? Aber wenn es funktionierte, sollte es mir egal sein.

Tat es natürlich nicht. Stattdessen wurde mir eine Seite angezeigt, auf der lediglich stand, daß ich die Erstattung erst beantragen könne, wenn der Zeitraum meiner Reise in der Vergangenheit läge. Bitte was? Es war bereits jetzt klar, daß ich die Reservierung nicht würde wahrnehmen können, weil es die Fahrt, für die der Platz reserviert wurde, nicht mehr geben würde. Ich mußte jetzt aber trotzdem warten, bis der Termin der abgesagten Fahrt verstrichen war, bevor ich die Erstattung beantragen konnte? Warum genau? Weil der Fahrplan bis dahin vielleicht nochmal geändert werden und es die Fahrt dann plötzlich doch wieder geben könnte, oder was? Kann ich die böswillige Unterstellung von vorhin bitte nochmal sehen?

Da ich der Bahn das Geld für die obsoleten Reservierungen keinesfalls zu schenken gedachte, ich die Rückerstattung aber derzeit auch nicht beantragen konnte, blieb mir nichts anderes übrig als in meinem Kalender eine entsprechende Erinnerung zu hinterlegen.

Wenn ich nun allerdings dachte, daß die Bahn sich mit diesem Chaos zufriedengeben würde, so hatte ich mich geirrt. Obwohl ich jetzt neue Reservierungen vorgenommen hatte, schickte sie mir von nun an in unregelmäßigen Abständen immer wieder einmal eine Information, daß meine Zugverbindung nicht wie geplant fahrbar sei und ich mich doch bitte um alternative Reisemöglichkeiten bemühen solle. Diese Informationen trudelten mal per Email und mal über die Handy-App ein, manchmal auch in beiden Medien gleichzeitig, und jedesmal mußte ich genauestens prüfen, was genau nicht mehr funktionieren würde. Es war ja schließlich möglich, daß auch meine neu gebuchten Verbindungen plötzlich nicht mehr fahrbar waren. Bei der Bahn weiß man ja nie…

Wie recht ich mit dieser Befürchtung hatte, erwies sich einige Tage später. Der Monat April sollte wohl nicht vorübergehen, ohne daß die Bahn noch etwas mehr Chaos produzierte. Am 30. April trudelte nach 22 Uhr wieder eine Email ein, die ich fast schon geneigt war zu ignorieren, dann aber glücklicherweise doch noch einmal genauer in Augenschein nahm. Diesmal teilte man mir mit, daß es weitere Fahrplanänderungen gäbe, die eine meiner neuen Reiseverbindungen beträfen. Der Link zu den aktuellen Informationen half genauso wenig weiter wie beim letzten Mal und einen Grund für die Änderung suchte ich erneut vergeblich. Diesmal hatte man mir aber immerhin bereits in der Email einen alternativen Reiseplan mitgeliefert. Diesem konnte ich entnehmen, daß nun die Zugverbindung von Bonn nach Köln gestrichen worden war, und zwar offenbar so gründlich, daß die Alternative darin bestand, von Bonn nach Siegburg die Straßen- beziehungsweise U-Bahn[2]Im Verkehrsverbund von Köln und Bonn sind Straßen- und U-Bahn gewissermaßen dasselbe. Insbesondere an den unterirdischen Streckenabschnitten als U-Bahn bezeichnet, fahren die Züge aber an anderen … [Weiterlesen] zu nehmen, um von dort dann mit der Regionalbahn nach Köln zu gelangen. Davon waren nun immerhin meine Sitzplatzreservierungen nicht betroffen, so daß keine weiteren Aktivitäten meinerseits mehr erforderlich waren. Immerhin. Bei der Bahn muß man sich ja mittlerweile auch über die kleinen Dinge freuen…

Noch immer steht die Reise erst bevor. Ich darf also weiterhin gespannt darauf sein, was die Deutsche Bahn bis dahin noch für mich bereit hält.

Referenzen

Referenzen
1 Hier muß ich fairerweise anmerken, daß ich heute, als ich den Artikel schreibe, die Seite noch einmal aufgerufen habe. Zwar sind dort immer noch keine Reiter zu finden, doch ganz unten, fast am Ende der Seite, entdecke ich dann doch noch den mit „Entschädigung beantragen“ beschrifteten Button. Ob er bei meinem ersten Versuch noch nicht da war oder ob ich ihn aufgrund der irreführenden Beschreibung des Vorgehens schlicht übersehen hatte – was ich durchaus bereit bin einzuräumen -, kann ich heute nicht mehr sagen.
2 Im Verkehrsverbund von Köln und Bonn sind Straßen- und U-Bahn gewissermaßen dasselbe. Insbesondere an den unterirdischen Streckenabschnitten als U-Bahn bezeichnet, fahren die Züge aber an anderen Stellen wie anderswo Straßenbahnen.

Bei uns läuft alles…

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 6 der Beitragsserie "Aus den Notizen eines Bahnfahrers"
Aus den Notizen eines Bahnfahrers (I)

Bahn fahren. Die Fortbewegungsart für den aufgeklärten Menschen von heute.

Bahn fahren. Das sollen wir. Denn Bahnfahren ist grün, weil gut für die Umwelt. Und das Klima. Und sowieso. Und überhaupt.

Nun, dagegen hab‘ ich gar nichts. Nicht das geringste. Ich fahre eigentlich sogar sehr gerne Bahn. So sehr, daß ich, wenn ich bisher in der Welt unterwegs war, stets einen nicht geringen Teil der Reise mit der Eisenbahn bestritten habe. Mit dem Canadian war ich von Vancouver nach Toronto quer durch Kanada unterwegs. Von dort nach Montreal und Quebec ging es auch mit der Eisenbahn. In Australien hat mich der Ghan von Alice Springs nach Darwin befördert. Und das war nicht die einzige Eisenbahnfahrt auf diesem Kontinent. Eine Ganztagesbahnfahrt von Brisbane nach Sydney ist auch ein großartiges Erlebnis, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Und in Neuseeland habe ich mit dem TranzAlpine die Neuseeländischen Alpen überquert – von Greymouth nach Christchurch. Na gut, von Greymouth zum Arthur’s Pass war ich mit dem Bus unterwegs. Aber nur, weil auf der Strecke gerade Schienenersatzverkehr war. Dafür hat mich die Bahn aber von Picton, wo ein Schiff mich beim Eintreffen auf der Südinsel abgeladen hatte, nach Christchurch bringen dürfen. Was im übrigen eine großartige, ausgesprochen schöne Fahrt war. Und nahezu alle waren sie pünktlich. Und wo sie es nicht waren, gab es immerhin erstklassigen Service.

Kurz gesagt: ich liebe die Eisenbahn. Anders käme ich auch kaum durch die Lande. Ich hab‘ schließlich kein Auto. Nicht mal eine Fahrerlaubnis. (Ja, so hieß das damals bei uns in der DDR. Führerschein sagte man nicht. Wird wohl Gründe gehabt haben…)

Und so lag es natürlich nahe, daß meine erste Fahrt quer durch’s Land nach zweieinhalb Jahren Corona-Wahnsinn wieder mit der Eisenbahn vonstattengehen sollte. Für diesen großartigen Anlaß hatte ich mir sogar eine Fahrt in der ersten Klasse geleistet! An den in dieser Zeit nicht durchgeführten Fahrten hatte ich ja schließlich genug zusammensparen können…

Von meinem schönen Berlin sollte es nun also nach Bonn gehen. Früher bin ich da stets einmal im Jahr hingefahren, immer irgendwann zwischen Ende April und Anfang Juni, wenn die FedCon stattfand – DIE deutsche Convention für Science-Fiction-Fans jeden Alters. Und die war nun auch dieses Jahr endlich wieder einmal mein Ziel.

Ach ja, ich freute mich auf diese Reise. Endlich mal wieder rauskommen. Was anderes sehen. Na klar, ich liebe Berlin, aber manchmal tut etwas Abwechslung einfach gut. Und die Fahrt würde ja auch ganz bequem vonstatten gehen. Dachte ich. Am Hauptbahnhof in den ICE steigen, in der ersten Klasse – etwas ganz Besonderes für mich – gemütlich und bequem nach Köln gefahren werden, dort noch auf einen kurzen Sprung in die Regionalbahn hüpfen – und schon wäre ich da. Was könnte einfacher sein?

Wie sich herausstellte: vieles. Nahezu alles. Denn schließlich fuhr ich ja nicht mit irgendeiner Eisenbahn irgendwo in der Welt. Nein, ich fuhr mit Der Bahn. Die Bahn. Warum die beiden Buchstaben DB nicht mehr für Deutsche Bahn stehen dürfen, konnte mir bisher auch noch keiner schlüssig erklären. Jedenfalls heißt es seit geraumer Zeit nun Die Bahn. Und ich frage mich seitdem immer, ob denen eigentlich klar ist, daß sie damit ganz schön große Erwartungen wecken. Die Bahn. Nicht die deutsche Bahn, nicht die französische, nicht die indische. Nein, Die Bahn. Also wenn ich das lese, höre ich innerlich immer eine deutliche Betonung auf Die. Wie denn auch nicht? Ohne diese Betonung ergäbe dieser Eigenname ja überhaupt keinen Sinn. Oder würden Sie annehmen, daß ein Autohersteller, der in Konkurrenz zu Mercedes, BMW, Opel, Ford und all den anderen Marken tritt und sein Produkt einfach nur Das Auto nennt, damit wirklich nur sagen möchte, daß das eben ein Auto sei? Irgendeins? Wohl kaum.

Na, wie auch immer. Da stand ich nun also auf dem Berliner Hauptbahnhof und erwartete meinen InterCity Expreß, den mir Die Bahn hoffentlich pünktlich vorbeischicken würde. Nun, das tat sie. Und das war dann auch schon das Einzige, was auf dieser Fahrt wie erwartet funktionieren sollte. Aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.

Frohgemut stieg ich also ein, suchte und fand meinen Sitz, verstaute meinen Koffer und nahm, wie es im Jargon Der Bahn heißt, meinen Platz ein. Und weil ich in diesem wunderbaren Land zwar sinnvollerweise ohne jegliche Beschränkung drei Tage auf einer Convention unter Tausenden von Leuten verbringen kann, aber nicht fünf Stunden Eisenbahn fahren darf, ohne wenigstens eine medizinische Maske zu tragen, setzte ich mir eine auf. Man muß es nicht verstehen, aber sich dran halten. Andernfalls wird es nicht nur teuer, sondern man auch vor die Zugtür gesetzt. Und damit ich das auch ja nicht vergaß, verkündete mir das eine Zugdurchsage auch gern und hinreichend oft. Inklusive der Konsequenzandrohung.

Derart konsequent war Die Bahn leider nicht, was ihren eigentlichen Zweck anging: die möglichst reibungslose und bequeme Beförderung der Fahrgäste, für die sie ja nicht unbedingt wenig Geld verlangt. Gut, die Preisgestaltung vermittelt oft den Eindruck, es handle sich um reine Fantasie, kann doch ein Zugticket für dieselbe Strecke preisliche Unterschiede von mehr als einhundert Euro aufweisen, je nachdem, ob man es Wochen im Voraus oder kurzfristig bucht, ob man sich auf den Zug festlegt oder nicht, ob man zu einer Veranstaltung fährt oder einfach nur so unterwegs ist, ob man… ach, der Gründe für derlei Flexibilität bei den Preisen gibt es viele bei Der Bahn. Und jedesmal, wenn ich die verschiedenen Kostenangaben sehe, frage ich mich, ob Die Bahn wirklich Züge ausfallen läßt, wenn auf diese Weise nicht genug Buchungen frühzeitig eintrudeln, spricht sie doch davon, daß Frühbucher bedeutende Rabatte bekämen, weil sie ihr aufgrund der früheren Kenntnis über die Ticketbuchung eine bessere Planung ermöglichten. Also Zugstreichung wegen zu wenig verkaufter Fahrkarten? Ich glaube, nicht. Oder? Hm. Andererseits würde das einiges erklären…

Nun saß ich also auf meinem Platz und der Zug fuhr pünktlich los. Weil ich mich noch einmal meiner Ankunftszeit vergewissern wollte, zog ich mein Mobiltelefon aus der Tasche und öffnete die App, die Die Bahn ihren Fahrgästen eigens bereitstellt: den DB Navigator. Und wer hätte es ahnen können – bei meinem Zug gab es zwei Hinweise. Der erste bedeutete mir, mich darauf einzustellen, daß die Auslastung des Zuges außerordentlich hoch sei. Danke, das hatte ich beim Einsteigen bereits selbst festgestellt, als ich mich langsam in der Menschenschlange durch den Mittelgang des Waggons vorwärts und auf meinen Platz zubewegte. Im ganzen Wagen war kein Sitzplatz mehr frei. Und das in der ersten Klasse! Da war es natürlich von Vorteil, daß ich beim Hereinkommen hatte bemerken können, daß es in meinem Waggon zwei Toiletten gab. Was uns Fahrgästen allerdings nicht das Geringste nützte, denn sie waren beide verschlossen. An den Türen prangte dafür jeweils ein Zettel, der verkündete, daß die Toiletten, zu denen sie Zugang hätten gewähren sollen, defekt seien. Nun gut, dann würde der Weg zum stillen Örtchen gegebenenfalls eben etwas weiter und die Wartezeit vor der Toilettentür etwas länger sein.

Der zweite Hinweis war dagegen von anderem Kaliber. Er teilte mir mit, daß aufgrund irgendeines Schadens an der Strecke unser Zug nicht in Bielefeld halten könne. Gleichzeitig sei für die Ankunft am Zielort Köln eine Verspätung von 75 Minuten zu erwarten.

Respekt! Kaum losgefahren und schon steht eine Verspätung von weit mehr als einer Stunde fest! Das war selbst für Die Bahn rekordverdächtig. Doch es sollte noch besser kommen… Zunächst einmal mochte sich so mancher Fahrgast ob solch einer Aussage wundern. Wieso sollte der Ausfall eines Haltes zu einer solch drastischen Verspätung führen? Nicht so ich. Mir war Derartiges bereits bei einer meiner früheren Fahrten nach Bonn einmal untergekommen. Von daher wußte ich angesichts der angegebenen Zeiten, daß der Halt in Bielefeld nicht einfach so ausfallen würde, sondern daß die Strecke wegen des Schadens wohl irgendwo gesperrt sein mußte, der Zug deswegen auf eine andere Route ausweichen und sich so die Verspätung einhandeln würde. Großartig. Na, wenigstens würde ich aber durchfahren können. Und weil ich in Köln keinen speziellen Anschlußzug erreichen, sondern nur in die Regionalbahn umsteigen mußte, die jedoch recht häufig fuhr, machte ich mir keine Sorgen. Gut, ich würde deutlich später als geplant ankommen, aber das machte nichts. Ich hatte für den Nachmittag sowieso nichts Besonders vor, und die Convention ging erst am nächsten Tag los.

Inzwischen hatte mein Zug das Einzugsgebiet von Berlin verlassen und war recht flott unterwegs. Die Elbe näherte sich, wurde erreicht und überquert. Ein interessantes Phänomen ist, daß dieser Fluß mich jedesmal, wenn ich nach Westen fahre, auf sich aufmerksam macht, und zwar unabhängig davon, ob ich die ganze Zeit aus dem Fenster sehe oder nicht. Selbst wenn ich lese, gedankenverloren Musik höre oder einen Laptop dabeihabe, auf dem ich gerade herumtippe – oft genug habe ich beobachten können, daß ich irgendwie immer hoch- und aus dem Fenster schaue, wenn mein Zug auf die Brücke fährt, die die Elbe überquert. Und zwar nicht erst, wenn ich auf der Brücke bin. Nein, kurz davor. Nahezu jedesmal. Irgendwie faszinierend. Auf der Rückfahrt klappt das merkwürdigerweise weniger zuverlässig…

Wie auch immer. Wenig später erreichte der Zug Wolfsburg, das er kurz darauf schon wieder verließ. Irgendwie habe ich jedesmal, wenn ich hier durchfahre, den Eindruck, die Stadt verpaßt zu haben. Am Bahnhof sind auf der einen Seite nur große Betonklötze zu sehen und auf der anderen hinter einem Kanal der ewig lange Fabrikbau des Volkswagenwerks.

Mein Zug hatte Wolfsburg bereits ein ganzes Stück hinter sich gelassen, da bemerkte ich bei einem Blick auf den nächsten Monitor, der sich über dem Mittelgang an der Waggondecke befand und wissenswerte Informationen zur Fahrt verbreitete, daß sich die Anzeige des Fahrtziels klammheimlich geändert hatte. Hatte dort bisher neben „Hamm Hbf.“ als finales Ziel der Reise „Köln Hbf.“ gestanden, so prangte letztere Angabe nun in knalligem Rot und war – durchgestrichen. Was zur Hölle…?

Ich wartete auf eine Durchsage. Es kam keine. Ein Blick in die App brachte mir die gleiche Information. „Fahrtziel entfällt“ stand dort noch. Na großartig! Von den übrigen Fahrgästen hatten offenbar bisher nur wenige bereits auch etwas von der Änderung bemerkt. Und noch immer keine offiziellen Informationen per Durchsage. Nach und nach sprach sich die neue Entwicklung nun aber im Waggon herum, denn zuerst langsam, dann immer schneller machte sich Hektik breit. Was zunächst mit einem Murmeln hier und da begann, schwoll schließlich an und wurde zu einem ausgeprägten Stimmengewirr. Es wurde gerätselt, was wohl los war, überlegt, wie man reagieren sollte, und gefragt, was wohl besser war: weiterfahren oder umsteigen? Und warum, zum Henker, gab es immer noch keine Informationen vom Zugpersonal?

Schließlich tauchte doch noch ein Schaffner auf. Zugbegleiter heißen die ja heutzutage. Naturgemäß hatte er es sehr schwer, durch den Waggon zu kommen, wurde er doch auf Schritt und Tritt von allen Seiten mit Fragen bestürmt.

„Ich will nach Köln! Fährt der Zug noch dorthin?“
„Nein!“
„Aber ich muß doch nach…“
„Dann steigen Sie in Hannover aus, fahren mit dem nächsten ICE nach Frankfurt und von dort über die Rennstrecke nach Köln. Von dort kommen sie dann wie gewohnt weiter.“

So ging das in einer Tour. Ich nutzte inzwischen die Zeit, bis der Schaffner bei mir ankommen würde, mit der Navigator-App zu recherchieren, was wohl die günstigste Verbindung sei, bekam aber nur heraus, daß ich bis Hamm fahren sollte, um mich dann mit zwei weiteren Regionalbahnen nacheinander bis Bonn durchzuschlagen. Das würde mir eine Ankunftszeit bescheren, die zweieinhalb Stunden nach der ursprünglich geplanten lag. Weil mir das wenig verlockend erschien, reihte auch ich mich kurzerhand unter die Fragesteller ein.

„Entschuldigen Sie bitte! Ich will nach Bonn. Wie fahre ich da am besten?“
„Da steigen Sie auch in Hannover aus, fahren von da nach Frankfurt und dann nach Siegburg/Bonn. Das geht am schnellsten!“

Immerhin, der Mann hatte Ahnung. Und ich nach dieser Auskunft nur noch wenig Zeit, denn Hannover war gleich erreicht, wie uns Fahrgästen eine Durchsage aus den Lautsprechern nun verkündete. Diese nahm sich alle Zeit der Welt, um uns in aller Ruhe zunächst die geplante Ankunftszeit und dann alle Anschlüsse und Umsteigemöglichkeiten  mitzuteilen, anschließend dasselbe nochmal auf Englisch. Und dann – endlich – wurde nun auch offiziell die Information über das entfallende Fahrtziel Köln durchgegeben. Wer es jetzt erst erfuhr, hatte praktisch keine Zeit mehr für eine ausreichende Planung seiner alternativen Route. Jedenfalls nicht vor Hannover.

Während ich meine Sachen zusammenpackte, lauschte ich den Gesprächen der Fahrgäste um mich herum. Einige wollten erfahren haben, daß eine Zugentgleisung in oder hinter Hamm die Ursache des ganzen Aufstands war. Jemand meinte sogar zu wissen, daß diese beim Rangieren stattgefunden habe und dabei irgendwie auch noch die Oberleitung beschädigt worden sei. Was davon stimmte – keine Ahnung. Eigentlich war’s mir auch egal. Ich kam nicht wie geplant weiter. Das war alles, was ich wissen mußte. Jetzt ging es darum, die alternativen Anschlüsse zu erreichen.

Der Umstieg in Hannover gestaltete sich dank der Informationen, die ich noch im Zug aus der Navigator-App gezogen hatte, einigermaßen unkompliziert. Treppe runter, rüber zum nächsten Bahnsteig, Treppe rauf. Reichlich zehn Minuten hatte ich nun Zeit, herauszubekommen, wo in dem neuen Zug die Abteile der ersten Klasse sein würden, und dann zum entsprechenden Bereich des Bahnsteigs zu gelangen. Angesichts der Länge eines ICEs ist eine entsprechende Vorbereitung durchaus sinnvoll, will man nicht – im schlimmsten Fall – den gesamten Bahnsteig entlanghetzen, wenn der Zug schon angekommen ist. Ich begab mich also zum Wagenstandsanzeiger und anschließend, als ich die nötige Information hatte, zum einen Ende des Bahnsteigs. Die erste Klasse sollte – wie gewöhnlich – am dortigen Ende des Zuges zu finden sein. Eine Platzkarte hatte ich nun natürlich nicht mehr, daher war es durchaus wichtig, bereits vor Ort zu sein, wenn der Zug einfuhr, wollte ich mir auch nur die geringste Chance auf einen Sitzplatz erhalten.

Gute fünf Minuten stand ich dann auf dem Bahnsteig herum und erwartete den Zug, als mein Blick auf den Anzeiger fiel, der den Zug ankündigte. Das Fahrtziel war Chur. Lag das nicht in der Schweiz? Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, erregte eine Laufschrift meine Aufmerksamkeit. „Bitte beachten Sie die geänderte Wagenreihung…“ entzifferte ich und war mit einem Mal hellwach. Geänderte Wagenreihung? Wie geändert? Stand ich hier etwa falsch? Oh Mann…

Während eine Durchsage bereits die baldige Einfahrt meines Zuges verkündete, suchte ich das kleine Zug-Piktogramm, mit dem auf den Zielanzeigern üblicherweise die Wagenreihung grob vereinfacht dargestellt wird. Die genaue Position eines bestimmten Wagens ist darauf zwar nicht erkennbar, doch immerhin der ungefähre Ort der Wagenklassen in Bezug auf den Bahnsteig. Da! Ich hatte es gefunden! Erste Klasse – am Ende des Bahnsteigs. Natürlich am jenseitigen! Ich war also tatsächlich hier völlig falsch und hatte nun nur noch höchstens eine Minute Zeit, dorthin zu gelangen, bevor der Zug einfuhr. Großartig…

Während ich nun in genau der Hektik, die ich hatte vermeiden wollen, den gesamten Bahnsteig entlangtobte – was wegen der diesen inzwischen sehr zahlreich bevölkernden zukünftigen Mitreisenden alles andere als einfach war und eher einem Slalom als einem schnellen Lauf ähnelte -, fragte ich mich wieder einmal, ob die das bei Der Bahn eigentlich absichtlich machen. Immerhin kommt das, wenn ich Zug fahre, überdurchschnittlich häufig vor. Wieder einmal ging mir die Vorstellung durch den Kopf, wie zwei Planer, die den Zug zusammenstellen, einander angrinsen und gemeinschaftlich beschließen, heute einfach mal die Wagenreihung umzudrehen. „Weißt Du“, sagt der eine zum anderen, „das wird wieder lustig. Die rennen dann immer so schön!“

Genau das tat ich nun auch. Rennen. Von einem Ende des Bahnsteigs zum anderen. In Gedanken wünschte ich den beiden Planern in meiner Vorstellung allerlei unerfreuliche Dinge an den Hals. Nicht, daß es mir etwas geholfen hätte, aber immerhin konnte ich so meinen Ärger etwas kanalisieren.

Ich traf etwa zeitgleich mit dem Zug an meinem Zielort ein. Da die Wartenden auf dem Bahnsteig kaum einmal bereit waren, den diesen entlang eilenden Mitreisenden freiwillig auch nur einen Zentimeter Platz zu machen, hatte ich mich in der Regel vor ihnen vorbeidrängen müssen, was zur Folge hatte, daß ich nun unverhofft einer der ersten an der Tür war. So gelang es mir erfreulicherweise, einen Sitzplatz an einem Tisch in der ersten Klasse zu ergattern – praktisch denselben, den ich auch in meinem ursprünglichen Zug innegehabt hatte. Kurz darauf war der Waggon bis auf den letzten Sitz mit Fahrgästen gefüllt. Für die übrigen blieben nur noch Stehplätze.

Uff. Glück gehabt. Das war knapp. So konnte ich die nächsten zwei Stunden Fahrt nun wenigstens im Sitzen verbringen und hatte nichts auszustehen. Die damit verbundene Ruhe nach der Hektik am Bahnhof von Hannover war sehr angenehm. Hätte ich allerdings gewußt, was Die Bahn noch für mich in petto hatte, ich wäre dafür in diesem Moment noch viel dankbarer gewesen…

In Frankfurt, das hatte ich bereits den Informationen in der App entnommen, standen mir nur wenige Minuten Zeit für den Umstieg in den nächsten ICE, der nach Essen fahren und mich nach Siegburg/Bonn bringen sollte, zur Verfügung. Glücklicherweise würde ich wenigstens nicht den Bahnsteig wechseln müssen, denn der Abfahrtsort würde das gegenüberliegende Gleis sein. Dachte ich jedenfalls.

Kaum war ich jedoch ausgestiegen, vernahm ich auch schon eine Durchsage, die mir verkündete, daß der ICE Nummer Sowieso in Richtung Essen etwa fünf Minuten Verspätung haben und heute vom Gleis Acht fahren werde. Gleis Acht! Das war ganz sicher nicht an meinem Bahnsteig. Ich war begeistert, bedeutete das doch, daß ich die nächste Rennerei vor mir hatte. Vom Ende des Bahnsteigs, an dem ich mich aufhielt und das weit außerhalb der großen Bahnhofshalle gelegen war, mußte ich nun zunächst zu einer Treppe gelangen. Das erwies sich schon bald als außerordentlich weiter Weg, da sich der nächste Abgang erst irgendwo innerhalb der Halle befand. Dort angekommen, mußte ich feststellen, daß sich aufgrund der engen Treppe die Reisenden an ihrem oberen Ende massiv stauten – ein Traum, wenn man es eilig hat. So blieb mir genug Zeit, eine nebenan angebrachte Anzeigetafel zu überfliegen und herauszufinden, daß neben dem von mir anvisierten Zug nach Essen tatsächlich nun Gleis Acht als Abfahrtsort angegeben war. Ich hatte mich also nicht verhört.

Schließlich war auch ich an der Reihe, die Treppe benutzen zu können. So schnell es angesichts der vielen Menschen eben ging, eilte ich hinab, der Ausschilderung folgend durch den engen Tunnel hinüber zum Nachbarbahnsteig und die dortige Treppe wieder hinauf, dabei immer darauf achtend, weder mit meinem Rucksack noch mit meinem Koffer meine Mitmenschen mehr als unbedingt nötig zu belästigen. Oben angekommen, gewahrte ich einen ICE, der an Gleis Acht bereitstand, und direkt vor mir eine weit offen stehende Tür. Eins, zwei, fix war ich drin und atmete tief durch. Geschafft.

Ich weiß nicht, was mich mißtrauischer machte – die Tatsache, daß der Zug trotz der angekündigten Verspätung bereits da war, oder die, daß ich mich bei dieser aufs Geratewohl ausgewählten Tür tatsächlich in der ersten Klasse befand. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen!

Ging es auch nicht. Ein Blick auf den kleinen Monitor neben der Tür belehrte mich, daß ich mich im falschen Zug befand. Dort stand nicht Essen, sondern, soweit ich mich angesichts der Hektik, in die ich gleich darauf erneut ausbrach, korrekt erinnere, Hamburg. Auch das noch! Samt Koffer und Rucksack machte ich kehrt und stand kurz darauf wieder auf dem Bahnsteig. Aber wenn das hier auf Gleis Acht der Zug nach Hamburg war, überlegte ich, wie sollte dann der Zug nach Essen mit nur fünf Minuten Verspätung ebenfalls von hier abfahren, war doch seine eigentliche Abfahrtszeit bereits heran? Da stimmte doch was nicht!

Ich schaute auf den Anzeiger, der sich auch hier neben der Treppe befand, und glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können. Essen, Gleis Sieben, stand dort. Gleis Sieben? Da kam ich doch gerade her! Wollen die mich foppen? Während ich mich ein weiteres Mal fragte, ob die bei Der Bahn sowas eigentlich absichtlich machen, bahnte ich mir bereits hektisch den Weg zurück. Treppe runter, durch den Tunnel, Treppe rauf! Diesmal brauchte ich keine Beschilderung, um den Weg zu finden. Oben angekommen, stellte ich fest, daß tatsächlich ein ICE auf Gleis Sieben bereitstand. Und obwohl ich immer noch in Eile war, nahm ich mir diesmal die Zeit, auf den Zielanzeiger zu schauen. Essen Hbf. Na immerhin. Und wo ist die erste Klasse? Na wo wohl. Am Ende des Bahnsteigs. Immerhin an dem, der sich in der Bahnhofshalle befand. Da war der Weg wenigstens nicht ganz so weit.

Eine offene Tür mit der nebenstehenden großen Eins empfing mich am letzten Wagen des Zuges. Ich stieg ein und begab mich auf Platzsuche. Als ich schließlich an der nächsten Tür und gleichzeitig am Ende des Zuges angekommen war, mußte ich wohl oder übel einsehen, daß kein einziger Sitz mehr frei war und ich die weitere Fahrt über würde stehen müssen. Na gut. Mittlerweile konnte mich das auch nicht mehr wirklich erschüttern. In einem Anflug von Galgenhumor fiel mir der gute alte Spruch wieder ein, den wir in den Zeiten der DDR bereits auf die Deutsche Reichsbahn angewandt hatten, der nun aber auch perfekt auf Die Bahn zu passen schien:

Die Bahn – Genießen Sie die Fahrt in vollen Zügen!

Glücklicherweise würde diese Fahrt nur runde fünfundvierzig Minuten dauern. Das könnte ich wohl aushalten.

Doch noch fuhr der Zug nicht. Ich verstaute meinen Koffer und meinen Rucksack, so gut es ging, damit sie sich nicht im Weg befanden, und stand dann im Türraum des Waggons. Auf dem Boden neben mir hatte sich eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoß niedergelassen, die in kurzen Abständen auf den Schaffner, der draußen auf dem Bahnsteig neben der Tür stand, einredete. Aus dem, was sie sagte, konnte ich entnehmen, daß ihr auf dem Weg zum Zug der Wind die Fahrkarte aus der Hand gerissen und auf ein Gleis geweht hatte, so daß sie sie nicht wiederbekommen konnte. Nun sei ihre Freundin unterwegs, eine neue zu kaufen. Ob wir denn warten könnten? Der Schaffner war die Ruhe selbst. So sehr, daß er überhaupt nicht reagierte. Die gute Frau erhielt keinerlei Antwort und wurde von ihm komplett ignoriert. Unbeeindruckt von ihren ständigen Fragen machte er sich gerade bereit, mit seiner Kelle Abfahrtbereitschaft zu signalisieren, als in letzter Minute eine weitere Frau zur Tür gerannt kam, eine Fahrkarte hereinreichte und die Reisende auf dem Boden damit zur in diesem Moment erleichtertsten Frau der Welt machte. Dann schloß sich auch schon die Tür hinter dem inzwischen eingestiegenen Schaffner und der Zug setzte sich in Bewegung.

Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, denn der nächste Halt war der Flughafen Frankfurt. Zu meiner übergroßen Freude erhoben sich kurz vor Erreichen des Bahnhofs mehrere Fahrgäste von ihren Plätzen und begaben sich in Richtung Türen, was mir Gelegenheit gab, doch noch einen Sitzplatz zu ergattern. Erfreulicherweise fand ich einen, der erst ab Siegburg wieder reserviert war, was mir vollkommen ausreichte, denn weiter wollte ich nicht mitfahren. Ich holte meinen Koffer und meinen Rucksack aus der Nische, in die ich sie verfrachtet hatte, und setzte mich – dankbar, meinen Stehplatz im Türraum aufgeben zu können, hatte doch das bisher Erlebte das Kind der Frau offenbar so aufgewühlt, daß es die nächste Zeit im wesentlichen aus voller Kehle schreiend verbrachte. Ein Umstand, den ich nicht unbedingt aus nächster Nähe hätte miterleben wollen, was ich ohne den Sitzplatz aber wohl gemußt hätte, denn die Mutter hatte es vorgezogen, auf dem Boden des Türraums sitzen zu bleiben.

Während ich nun auf meinem Platz saß und versuchte, mich von der Hektik des Umstiegs in Frankfurt, die mich einiges an Schweiß gekostet hatte, zu erholen, konnte ich schräg über mir auf dem Monitor unter der Waggondecke die angezeigten Texte und Bilder studieren. Neben Uhrzeit, Zugnummer und aktueller Geschwindigkeit – phasenweise erreichte der Zug tatsächlich 300 km/h, so daß sich der Begriff Rennstrecke für diesen Teil der Fahrt als durchaus zutreffend erwies – zeigte mir Die Bahn auch jede Menge Werbung – für sich und ihre angebotenen Dienste.

DB Navigator:
Schneller den richtigen Platz finden
Mit der aktuellen Wagenreihung in der App.

Offenbar, so ging es mir durch den Kopf, ist die Änderung der Wagenreihung für Die Bahn mittlerweile ein Normalzustand. Warum sonst sollte sie ihrer App eine Funktion spendieren, die die – wohlgemerkt – aktuelle Wagenreihung präsentiert und diese auch noch bewerben? Und nützlich wäre eine solche Funktion ja auch nur dann, wenn man überhaupt einen Platz hat, den man finden möchte. Das war, was mich betraf, bei dem heutigen Chaos, das Die Bahn veranstaltet hatte, ja nur bei einem von drei Zügen der Fall.

Während ich noch darüber nachdachte, zeigte der Monitor bereits die nächste Werbung:

Jetzt mehr veganer & vegetarischer Genuss an Bord.
Schauen Sie gerne in der Bordgastronomie vorbei.

Nun, das reizte mich nicht so sehr. Ich fragte mich nur, warum da eigentlich nicht stand, daß durchaus nicht jeder in der so gepriesenen Bordgastronomie willkommen war, galt doch diese Aufforderung nur Leuten, die der 3G-Regel genügten. Man müßte also bereits vor Antritt der Fahrt wissen, daß einen später im Zug der Hunger ereilte. Zumindest, wenn man zu jenen gehörte, die einen Test benötigten. Was eigentlich, wenn man das ernst nehmen wollte, nach aktueller Erkenntnislage alle sein müßten. Aber lassen wir das.

Mittlerweile war wieder etwas anderes zu lesen:

Von Amsterdam über Frankfurt bis Zürich.
Geschäftsreisen macht man mit der Bahn.

Ein bitteres Lachen bahnte sich unwillkürlich seinen Weg durch meine Kehle. Also wenn Die Bahn Geschäftsreisenden denselben Service angedeihen ließ, den ich heute auf meiner Fahrt erleben durfte, dann würde sie sich unter diesen sicher kaum viele Freunde machen.

Als ich in Siegburg/Bonn den Zug schließlich verließ, war ich froh, daß meine von Der Bahn veranstaltete Odyssee nun ihr Ende gefunden hatte. Das war selbst dann noch der Fall, als mir klar wurde, daß sie mich, wenn man es genau nimmt, gar nicht dorthin gebracht hatte, wofür ich bezahlt hatte. Gebucht hatte ich eine Fahrt bis zum Bonner Hauptbahnhof. Nun aber stand ich in Siegburg, das zwar zum Einzugsgebiet von Bonn gehört, von dem aus es aber noch einer guten dreiviertelstündigen Fahrt mit der städtischen Straßenbahn bedurfte, um zum Bonner Hauptbahnhof zu kommen – einem Verkehrsmittel, das mit Der Bahn nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Immerhin war ich all dem Streß, dem ich ausgesetzt war, zum Trotz nur wenig später als ursprünglich geplant am Ziel meiner Fahrt angekommen.

Ob dieser mein Bericht über meine heutige Fahrt mit Der Bahn dazu beitragen wird, ihre Etablierung als verkehrstechnische Alternative zum Auto zugunsten von Mitwelt und Klima zu befördern? Ich bezweifle es. Was man ihm jedoch ohne weiteres entnehmen kann, ist ein Eindruck, was dabei herauskommt, wenn man für das Gemeinwohl notwendige Unternehmen wie Die Bahn auf Gedeih und Verderb auf Profit trimmt oder gar gänzlich privatisiert.

Nachtrag

Die von mir mit Spannung erwartete Rückfahrt vier Tage später – was würde da wohl passieren? – verlief zu meinem Glück deutlich entspannter. Von einem guten Rundum-Service kann jedoch auch dabei keine Rede sein.

Den Anfang machte die von einem Privatunternehmen betriebene Bahnhofstoilette am Hauptbahnhof von Köln. Abgesehen davon, daß der gesamte riesige Bahnhof offenbar nur über ein einziges Etablissement dieser Art verfügt – ich konnte jedenfalls kein zweites finden -, erwies sich dieses als unbenutzbar. Der Bereich für die männlichen Vertreter der Schöpfung war komplett gesperrt, so daß die Damen gezwungen waren, den ihren zu teilen. Das wiederum hatte aber zur Folge, daß – der blödsinnigen Idee eines zeitweiligen Neun-Euro-Tickets für einen darauf überhaupt nicht vorbereiteten öffentlichen Nahverkehr sei Dank – der Andrang derart groß war, daß die Schlangen an der Toilette endlos waren. Dort konnte sich gelassen nur anstellen, wer bis zur Abfahrt seines Zuges wenigstens noch eine Stunde Zeit und es überdies hinsichtlich der Verrichtung seines Bedürfnisses nicht übermäßig eilig hatte. Das Personal schien in der Zeit, in der ich mir das Drama vor dem Zugang zu der Anstalt anschaute, mehr damit beschäftigt sein, die Wartenden zu kanalisieren, zu betreuen und bei der Bedienung der Zugangsautomaten zu unterstützen, als daß es Zeit für die Reinigung der Anlage hätte aufbringen können.

Daß die Wagenreihung auch bei dieser Fahrt wieder einmal umgekehrt zu der eigentlich am Wagenstandsanzeiger angegebenen war, ist fast nicht notwendig zu erwähnen. Das scheint bei Der Bahn  sowieso schon der Normalzustand zu sein.

Für die Fahrgäste der ersten Klasse hatte sich Die Bahn dieses Mal etwas Besonderes ausgedacht, damit sie ihren Platz auch ausreichend würdigten, wenn sie ihn denn erreicht hatten. Für eineinhalb Waggons der ersten Klasse  – einen mußte sie sich mit dem Bordbistro teilen – gab es so statt zwei lediglich eine einzige funktionierende Tür, die sich ganz am Ende des Zuges befand. Wie einer der Fahrgäste treffend bemerkte: „Wir können froh sein, wenn nur die Tür kaputt ist.“

Immerhin waren diesmal die Toiletten funktionsfähig. Als der Zug in Hamm eintraf, stiegen plötzlich jede Menge Fahrgäste zu. Wie ich ihren Unterhaltungen entnehmen konnte, hatte man sie eine Stunde zuvor aus ihrem Zug gescheucht, der seine Fahrt aus irgendwelchen Gründen nicht mehr fortsetzte. Das kam mir bekannt vor. Mir blieb in diesem Augenblick nur, mit ihnen Mitleid zu haben und gleichzeitig froh zu sein, daß dieses Mal nicht mir dies Ungemach widerfuhr.

Die trotz pünktlicher Abfahrt am Ende zu Buche schlagende Verspätung von etwas mehr als einer halben Stunde muß bei Der Bahn in heutiger Zeit wohl schon als pünktliche Ankunft gelten, auch wenn gegen Ende der Fahrt die per Durchsage bekanntgegebenen Informationen über nicht mehr erreichbare Anschlußzüge lang und länger wurden.

Zu guter Letzt kam ich dann wohlbehalten wieder zu Hause an. Als Fazit dieser meiner Wochenendreise mit Der Bahn bleibt jedoch am Ende leider nur ein weiterer ironischer Werbespruch aus den Zeiten der guten alten Deutschen Reichsbahn:

Die Bahn – Bei uns läuft alles, bald laufen auch Sie!