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Es fährt ein Zug nach Budapest

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 1 der Beitragsserie "Eine Reise nach Budapest 2025"

Budapest – Großstadt. Hauptstadt. Weltstadt. Stadt meiner Kindheit.

Die an der – gar nicht so blauen – Donau inmitten des schönen Ungarlandes gelegene Stadt war und ist für viele stets ein beliebtes Ziel, sei es für einen Tagesausflug, wenn man irgendwo in der Nähe ist, oder auch für einen längeren Besuch. Und so mancher hat sie sich auch als Wohnort auserkoren. Nicht wenige sind dorthin ausgewandert.

Auch auf mich übt diese Stadt seit jeher einen Reiz, eine Anziehung aus, die ich verspüre, seit ich in den fernen Tagen meiner Kindheit für einige Jahre dort gelebt habe. Fünf, um genau zu sein. Und weil diese Zeit nicht nur der früheste Abschnitt meines Lebens ist, an den ich zusammenhängende Erinnerungen habe, sondern mich auch in vielerlei Hinsicht geprägt hat, liegt mir diese Stadt natürlich auf eine Weise am Herzen, wie es sonst nur meine Heimatstadt Berlin tut. So nimmt es auch nicht Wunder, daß ich, seit ich sie verlassen habe, stets ein Gefühl des Verlustes mit ihr verbinde und sie bis auf den heutigen Tag vermisse.

Und so ist eine Reise dorthin immer etwas Besonderes für mich – weniger ein Besuch, vielmehr eine Wiederkehr. Seit ich die Stadt damals verlassen habe, war ich bereits zweimal wieder dorthin gereist, um sie zu besuchen. Allerdings hatte mein letzter Aufenthalt dort mittlerweile mehr als zwanzig Jahre zurückgelegen, als ich im vergangenen Jahr während einer Reise die Donau entlang, die mich von Passau in Deutschland bis zum an der Grenze zwischen Serbien und Rumänien gelegenen Eisernen Tor den großen Fluß hinabgeführt hatte, die Stadt für einen Tag erneut besucht hatte.  Natürlich war ein solch kurzer Zeitraum dieser wunderbaren Stadt in keiner Weise angemessen, doch hatte er ausgereicht, die Sehnsucht, die ich eigentlich immer in mir verspürte, wieder aufleben zu lassen. Eine Sehnsucht, von der ich, wieder zu Hause, nicht genau zu sagen wußte, ob es sich bei ihr um Fernweh handelte, oder ob ich sie doch eher als Heimweh bezeichnen sollte. Letztlich spielte das aber auch keine große Rolle, denn mir wurde schnell klar, daß ich diesem stärker und stärker werdenden Gefühl eher früher als später würde nachgeben wollen.

Und weil es bei genauerem Besehen überhaupt keinen Grund gab, damit lange zu warten, beschloß ich kurzerhand, daß es schon in diesem Jahr soweit sein würde. Ich würde mich ein weiteres Mal aufmachen in die große Stadt an der Donau im Herzen des Ungarlandes.

Zwölf Tage hatte ich mir dafür Zeit genommen – die Hin- und die Rückreise eingeschlossen. Großer Vorbereitungen bedurfte es nicht – eine Übernachtungsmöglichkeit und eine Reisegelegenheit waren das Einzige, was ich vorab zu organisieren hatte. Der Rest würde sich vor Ort mehr oder weniger spontan ergeben. So war es mir liebsten, blieb dadurch doch genug Raum für unerwartete und überraschende Erlebnisse. Natürlich hatte ich vorab ein paar Überlegungen darüber angestellt, was ich mir anschauen wollte, doch dafür mußte ich nichts planen oder buchen.

Und so begab ich mich am 1. Oktober dieses Jahres auf die Reise. Auf nach Budapest.

Doch wie kommt man am besten dorthin? Das Auto verbot sich von selbst. Sah ich einmal davon ab, daß ich den dafür erforderlichen Führerschein gar nicht besaß, konnte ich den Streß des Selberfahrens nun wirklich nicht brauchen. Das Flugzeug kam natürlich in Frage und hätte mich sich in Nullkommanichts dorthin gebracht. Doch war genau das der Grund, warum es ebenfalls ausschied. Ich will nicht einfach nur irgendwohin kommen. Ich möchte soweit wie möglich beim Reisen die zurückgelegte Entfernung hautnah erleben können. Denn was ist eine Reise denn bitte ohne den Weg?

Aus diesem Grund ist für mich die Eisenbahn stets das Verkehrsmittel der Wahl, wenn nicht Hindernisse wie Meere oder übergroße Entfernungen seine Nutzung unmöglich machen. Und da das bei einer Reise von Berlin nach Budapest nun einmal nicht der Fall ist, sondern man diese sogar ganz bequem, also in direkter Fahrt ganz ohne Umsteigen bewerkstelligen kann, war die Entscheidung schnell getroffen. Ich würde also den Hungaria nehmen. Dieser seit dem Jahre 1960 zwischen den beiden Städten einmal täglich – in beide Richtungen – verkehrende Zug hatte mich bisher immer in die Stadt an der Donau gebracht, und so würde er es wohl auch diesmal tun.

Und was ist das für eine ausgesprochen schöne Fahrt! Durch den Osten Deutschlands geht es südwärts nach Tschechien, wo man zunächst Böhmen und anschließend Mähren durchquert, bis man die Slowakei erreicht, an deren östlichem Rand es dann direkt nach Ungarn geht. Und das alles an nur einem Tag.

Die Reise begann im Herzen Berlins am neuen Hauptbahnhof. Von diesem im Zentrum der Stadt gelegenen Verkehrsknotenpunkt – zumindest, was die Eisenbahn betrifft – gelangt man an viele Ziele. So auch nach Budapest. Der Blick hinaus durch das Hauptportal des Bahnhofs offenbart dessen Umgebung, die auch nach all den Jahren, die er nun schon existiert, immer noch eine Ödnis ausstrahlt, als wolle sie es den potentiellen Reisenden besonders einfach machen, ein Reiseziel auszuwählen, zu dem sie schnellstmöglich verschwinden können. Auch der Bahnhof selbst bietet nicht wirklich etwas Anheimelndes oder gar Schönes, das dem wartenden Reisenden den Aufenthalt hier angenehmer macht. Genau genommen wirkt er eher wie ein zu groß geratenes Einkaufszentrum mit Gleisanschluß und viel innerer Leere. Und weil wegen eben dieser Gleise das Bauwerk auch nicht zur Gänze geschlossen sein kann, ist es hier überdies meist recht – zugig. Man sehe mir dieses Wortspiel nach, doch muß man ja froh sein, daß wenigstens die deutsche Sprache den Aufenthalt mit etwas Doppeldeutigkeitsglanz kurzzeitig angenehmer gestalten kann, wenn es schon der Bahnhof nicht tut. In der Tat ist außer Glas und Stahl und großen Hohlräumen im Inneren nicht wirklich viel zu entdecken. Das war beim Vorgänger des heutigen Hauptbahnhofs, dem einstigen Lehrter Bahnhof, noch anders. Der hinterließ historischen Quellen zufolge in seiner ansprechenden und ästhetisch schönen architektonischen Gestaltung so viel Eindruck, daß sich Architekten anderer Bahnhofsbauten davon inspirieren ließen. Und das nicht nur in Deutschland. Doch diese Zeiten sind lange vorbei.

Am Berliner Hauptbahnhof
Glas und Stahl und viel innere Leere. Der Berliner Hauptbahnhof der Moderne.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Am Morgen der Abreise mußte ich mich nicht allzu sehr beeilen, da der Hungaria seine Fahrt nach Budapest zu einer sehr moderaten Zeit startet. 8:56 Uhr stand als Abfahrtszeit auf meinem Ticket, das mir die freundliche Mitarbeiterin des im Hauptbahnhof befindlichen Reisezentrums der Deutschen Bahn einige Wochen zuvor verkauft hatte. Ich hatte es diesmal nicht, wie ich es sonst tue, online kaufen können, da mir das Buchungssystem jedesmal, wenn ich es versucht hatte, nur hatte mitteilen können, daß dies nicht möglich sei. Aus Gründen. Da es mir offenbar nicht zustand, diese zu erfahren, behielt es sie für sich. Natürlich erfuhr ich von der Unmöglichkeit des Online-Erwerbs auch erst, nachdem sämtliche für den Kauf erforderlichen Daten penibel und verteilt über mehrere Eingabemasken abgefragt und von mir sorgfältig eingegeben worden waren. Ordnung muß schließlich sein. Immerhin hatte ich im Reisezentrum feststellen können, daß das Scheitern der Transaktion nicht an mir und meinem eventuellen Unvermögen gelegen hatte. Denn auch der Servicemitarbeiterin, zu der ich nach dem Ziehen einer Wartenummer – die Deutsche Bahn sieht sich offenbar mittlerweile als Behörde – und einiger dementsprechend mit Warten verbrachter Zeit schließlich gebeten wurde, gelang es nicht, mir die gewünschte Reiseverbindung zu buchen. Und auch wenn es mir natürlich leid tat, daß ich ihr nun solch Kopfzerbrechen bereitete, konnte ich doch nicht umhin zu bemerken, wie sich mein leicht angeschlagenes Selbstwertgefühl wieder auf Normalniveau einpendelte. Wie sich schließlich nach Konsultation erst einer Kollegin und dann ihres Vorgesetzten herausstellte, lag die Ursache für die Schwierigkeiten darin begründet, daß der von mir für die Rückreise gewünschte Zug nicht buchbar war. Da mich die Bahnangestellte offenbar für qualifiziert genug hielt, dies wissen zu dürfen, teilte sie mir das auch mit. Über das dahinterliegende Warum war dann aber wieder nichts mehr zu erfahren, denn auch sie war dafür auf das Computersystem angewiesen. Und das verweigerte nicht nur mir, sondern auch den drei mittlerweile mit der Sache beschäftigten Bahnangestellten jegliche Auskunft darüber. Zwar versuchten sie noch, mehr herauszufinden, und ließen mich dafür eine ganze Weile warten, doch letztlich blieben auch sie erfolglos.

Das war natürlich insofern unerfreulich, weil ich – selbstverständlich aus Kostengründen – auf einem Sparticket bestanden hatte, das nur in Verbindung mit einer feststehenden Zugverbindung zu buchen war. Glücklicherweise hatte sich die Bahnangestellte aber durchaus zu helfen gewußt. Und so hatte ich nun ein Ticket in meiner Tasche, das hinsichtlich der Rückreise zwar für einen anderen Zug gebucht war als den, mit dem ich fahren wollte, doch hatte die freundliche Mitarbeiterin darauf einen längeren Hinweis notiert, daß dieses Ticket wegen eines technischen Systemfehlers nicht den korrekten Zug ausweise, aber dennoch gültig sei. Dies hatte sie mit Datum, Stempel und persönlicher Unterschrift versehen, ganz wie es sich für eine Behörde gehört.

Nun, für meine jetzige Fahrt war das alles unerheblich. Das Problem betraf ja nur die Rückreise, und an die dachte ich jetzt natürlich noch überhaupt nicht. Erst einmal wollte ich meine große Fahrt antreten. Überpünktlich fand ich mich auf dem Bahnsteig ein, doch wenn ich tatsächlich gedacht haben sollte, die Deutsche Bahn würde das honorieren, so hatte ich mich geirrt. Vielmehr wurde sie ihrem schlechten Ruf wieder einmal mehr als gerecht und brachte meinen Zug nicht nur erst nach der plangemäßen Abfahrtszeit zum Bahnsteig, sondern auch noch auf einem anderen Gleis. Immerhin befand es wenigstens am gleichen Bahnsteig, so daß ich nicht auch noch durch den ganzen Bahnhof hetzen mußte. Und die Wagenreihung stimmte sogar mit der an der Anzeigetafel angegebenen überein. Man muß sich ja auch über kleine Dinge freuen können…

Als der Zug einfuhr, bemerkte ich das Logo der Bahngesellschaft an den Waggons des Zuges: zwei waagerechte Linien, die einen Kreis durchqueren. Ich vermute, es soll ein stilisiertes Gleis darstellen, das eine Brücke passiert. Oder einen sehr kurzen Tunnel. Wie dem auch sei, ich erkannte es sofort aus meinen Kindertagen wieder, und noch ehe ich den (abgekürzten) Namenszug der Bahngesellschaft überhaupt gesehen hatte, wußte ich anhand des Logos, daß es sich um Waggons der Magyar Államvasutak, der Ungarischen Staatsbahnen handelte, kurz MÁV. Ist es nicht interessant, was der menschliche Geist alles über Jahrzehnte hinweg behalten und, auch wenn er in dieser Zeit nie wieder auch nur ein einziges Mal daran gedacht hat, bei passender Gelegenheit sofort wieder hervorholen kann?

Ich stieg ein, nahm meinen durchaus bequemen Platz ein und hatte es mir kaum einigermaßen bequem gemacht, als sich der Zug auch schon in Bewegung setzte. Es wurde aber auch höchste Eisenbahn – ja, es war Wortspieltag! -, denn noch bevor er den Bahnhof überhaupt verlassen hatte, betrug seine – und damit auch meine – Verspätung bereits gute zehn Minuten. Selbst bei internationalen Zügen schaffte es die Deutsche Bahn also nicht, für Pünktlichkeit zu sorgen. Kurz ging mir der Gedanke durch den Kopf, ob es die tschechische, slowakische und ungarische Bahngesellschaft wohl machen würden wie die schweizerische, die unpünktliche deutsche Züge einfach nicht mehr in ihr Land einfahren ließ, damit sie mit ihrer Verspätung nicht den ganzen Schweizer Eisenbahnverkehr durcheinanderbrachten. Dann würde ich heute nicht mehr in Budapest ankommen. Doch ich schob den Gedanken sofort beiseite und machte mir mit der Überlegung Mut, daß ich ja nicht in einem deutschen, sondern in einem ungarischen Zug saß.

Im Waggon war es einigermaßen kalt, da man die Klimaanlage auf Hochtouren laufen ließ, so daß sie beständig kalte Luft in das Großraumabteil blies. Offenbar hatten jedoch bereits einige Fahrgäste dagegen interveniert, denn als die Schaffnerin das erste Mal bei mir auftauchte, um die Fahrkarten zu kontrollieren, erklärte sie, noch ehe ich etwas diesbezüglich gesagt hatte, daß es in Kürze wärmer werden würde, sie hätte bereits die Heizung eingeschaltet. Und in der Tat dauerte es nicht lange, da konnte ich bemerken, daß die Klimaanlage nun warme statt kalte Luft in das Abteil pustete. Schon bald wurde es erst erträglicher, dann wärmer und schließlich regelrecht mollig, so daß ich bald schon meinen Pullover ausziehen mußte. Offenbar gab es nur zwei mögliche Einstellungen: zu kalt und zu warm. Letzteres war mir in diesem Fall allerdings lieber, da zu niedrige Temperaturen schnell sehr unangenehm werden können, wenn man sich wie ich hier im Zug nicht sonderlich viel bewegen kann.

Nun, da ich einmal unterwegs war, konnte ich entspannt dem entgegensehen, was vor mir lag. Der Zug rollte durch die Landschaft, die vor dem Fenster vorüberzog. Der Himmel war von Wolken bedeckt, durch die hier und da immer wieder einmal die Sonne brach. Als er schließlich Dresden-Neustadt erreichte, hatte der Zug seine Verspätung nicht nur nicht aufgeholt, sondern auf gute zwanzig Minuten ausgebaut. Der Aufenthalt war nur kurz, dann ging es auch schon weiter. Wenige Minuten später überquerten wir die Elbe, was mir einen schönen Panoramablick auf die Dresdner Innenstadt bescherte, deren Anblick als Dresdner Elbpanorama weltberühmt ist. Die Waldschlößchenbrücke, deretwegen die Stadt den Titel des UNESCO-Weltkulturerbes für ihr Elbtal 2009 verspielt hatte, bekam ich allerdings nicht zu sehen. Sie liegt zu weit weg auf der anderen Seite des großen Bogens, den die Elbe vor dem Stadtzentrum beschreibt.

Aus dem fahrenden Zug: Auf der Marienbrücke
Gerade noch geschafft: eine Aufnahme des malerischen Dresdner Stadtzentrums von der Marienbrücke, das allerdings ein bißchen weit weg ist.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Kurz darauf erreichte der Zug den Dresdner Hauptbahnhof. Dieser bietet einen gänzlich anderen Anblick als sein Berliner Pendant. Seine repräsentative Bahnhofsarchitektur des 19. Jahrhunderts dominiert auch heute noch sein Erscheinungsbild, woran auch verschiedene Modernisierungen der Neuzeit nicht wesentlich etwas zu ändern vermochten, sieht man einmal von den riesigen Glasfaser-Membranen ab, die heute das vormals mit Glas gedeckte Dach ersetzen. Einst hatte auch Berlin solch repräsentative Bahnhofsbauten, von denen heute jedoch keine mehr übrig sind – mit einer Ausnahme: dem Hamburger Bahnhof, der als einziger der Berliner Kopfbahnhöfe Krieg und Abrißwahn überstand. Doch auch er hat seine Funktion als Verkehrseinrichtung längst verloren und dient heute einer Kunstgalerie als Domizil.

Weiter ging die Fahrt auf einer Strecke, die sich zunächst immer mehr der Elbe annäherte, bis sie sie kurz vor Pirna erreichte, wo einer der schönsten Abschnitte der gesamten Strecke begann: das Elbtal im Elbsandsteingebirge. Die Eisenbahngleise verlaufen unmittelbar am linken Ufer des Flusses, dessen Lauf sie Windung für Windung, Kurve für Kurve stoisch folgen. Der Zug fuhr flußauf, und da ich das Glück hatte, auf seiner linken Seite zu sitzen, hatte ich vom Fenster einen wundervollen Blick auf den Fluß und die gegenüberliegende Uferseite. Als es kurz vor dem kleinen Ort Rathen in die große s-förmige Doppelschleife der Elbe hineinging, zog alsbald die vielberühmte Bastei an mir vorüber.

Im Elbtal: Bei Rathen
Achtung! Achtung! Eine Zugdurchfahrt.
Ein Halt im kleinen Kurort Rathen ist für einen EuroCity-Zug wie den Hungaria natürlich nicht vorgesehen. So läßt sich die am gegenüberliegenden Elbeufer aufragende Bastei nur in schneller Fahrt betrachten.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Wenig später konnte ich dann den mindestens ebenso bekannten Königstein mit seiner großen Festung sehen. Zwar befindet sich dieser auf derselben Flußseite wie die Eisenbahnstrecke, die unmittelbar an seinem Fuß vorüberführt, doch aufgrund der weitläufigen Schleife, die das Flußtal vor ihm beschreibt, war er für mich dennoch gut sichtbar. Erst recht keine Schwierigkeiten hatte ich, auch den markanten Lilienstein, der dem Königstein direkt gegenüber am rechten Flußufer aufragt, zu betrachten. Er ist insofern etwas Besonderes, als er der einzige Tafelberg des Elbsandsteingebirges ist, der sich auf dieser Seite des Flusses befindet. Aufgrund der weiten Schleife, die der Zug immer noch durchfuhr, konnte ich mir drei seiner Seiten in aller Ruhe ansehen. Unwillkürlich kam mir dabei die alte Geschichte in den Sinn, der zufolge einst der sächsische Kurfürst Friedrich August II. bei einem zur Feier der Beendigung des zweiten Schlesischen Krieges 1745 auf dem Königstein ausgerichteten Bankett dem preußischen Monarchen Friedrich II. den Lilienstein geschenkt haben soll. Als er diesen Akt der Großzügigkeit wenig später bereute, wußte nur der Festungskommandant Friedrich Wilhelm von Kyau Rat. Er ließ dem Preußenkönig mitteilen, Sachsen bitte ihn darum, sein neues Besitztum innerhalb von vier Wochen abzutransportieren, denn – um es im besten Sächsisch zu formulieren – „Mir brauchn de Platz“. Friedrich II., sowohl erstaunt als auch belustigt über diese Dreistigkeit, soll daraufhin auf den Lilienstein verzichtet haben. Ob diese Geschichte nun wahr ist oder in das Reich der Sagen gehört – lustig ist sie allemal.

Im Elbtal: Lilienstein
Auch heute noch ist der Lilienstein, dessen Gipfel aus dem Zugfenster am Grund des Elbtals gut zu sehen ist, fest in sächsischer Hand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Hinter dem Lilienstein verließen die Elbe und mit ihr mein Zug die große Doppelschleife des Flusses und erreichten nur wenig später das etwa fünf Kilometer davon entfernt gelegene Bad Schandau. Auch dieser berühmte Ort des Elbsandsteingebirges befindet sich – jedenfalls zu großen Teilen – auf dem jenseitigen Elbufer, was mir Gelegenheit gab, ihn in aller Ruhe an mir vorüberziehen zu sehen. Anstelle steiler Felswände ragten hinter ihm die sanft geschwungenen Gipfel bewaldeter Berge auf, und hinter der Ortsmitte war der Eingang in das Tal der Kirnitzsch, die hier in Bad Schandau in die Elbe mündet, gut zu erkennen. Bevor ich diesen Anblick jedoch genießen konnte, mußte ich die Haltezeit abwarten, die der Zug am Bahnhof des Ortes einlegte – doch nicht, weil jener so bedeutend und groß ist, sondern weil es sich um den letzten Halt auf deutschem Staatsgebiet handelt.

Im Elbtal: Bad Schandau
Wenn man den auf der gegenüberliegenden Seite der Elbe gelegenen Ortskern von Bad Schandau vom Zugfenster aus sieht, hat man den Bahnhof des Ortes längst verlassen, denn dieser befindet sich ein Stück flußab an der großen Brücke, auf der die das Elbtal entlangführende Bundesstraße den Fluß überquert.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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So passierte ich wenige Minuten später erst die Schrammsteine und dann Schmilka, den Grenzort zu Tschechien, der am gegenüberliegenden Ufer den wirklich letzten Ort auf deutschem Gebiet darstellt. Ein Stück hinter ihm konnte ich die Grenze deutlich ausmachen, denn noch immer steht dort das einstige, die Uferstraße überspannende Grenzübergangsgebäude. Lange Zeit war es praktisch funktionslos, da mit dem EU-Beitritt Tschechiens die Kontrollen eingestellt wurden. Seit diesem Jahr gibt es wieder welche, doch scheinen die, soweit ich das vom Fenster meines schnell fahrenden Zuges erkennen konnte, nicht an diesem Gebäude stattzufinden. Jedenfalls sah  es nach wie vor recht verlassen aus.

Im Elbtal: Am Grenzübergang Schmilka
Zweckbau am Ufer – der Grenzübergang Schmilka.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Das jenseitige Ufer der Elbe war nun also bereits tschechisches Gebiet. Mein Zug setzte seine Fahrt jedoch noch ein Stück in deutschen Landen fort, bis er schließlich am Gelobtbachtal ebenfalls ins Nachbarland überwechselte, was ich allerdings bei der schnellen Fahrt nicht mitbekam. Das gleiche widerfuhr dem kleinen Dorf Dolní Žleb, das am hiesigen Ufer der erste tschechische Ort nach der Grenze ist und heute zu Děčín gehört. Einst hieß es Dolní Grunt nad Labem, was auf deutsch Niedergrund an der Elbe bedeutet. Von ihm war für mich überhaupt nichts zu sehen, da die Eisenbahntrasse direkt am Ufer der Elbe verläuft und der Ort sich dahinter befindet.

Děčín – oder Tetschen, wie es früher hieß – erreichte der Zug wenig später. Sollten Grenzer im Zug gewesen sein, stiegen sie sicher hier aus. Bei mir waren allerdings keine vorübergekommen. Da hatte mein Zug – und mit ihm also ich – nun Deutschland verlassen und dabei mittlerweile eine gute halbe Stunde Verspätung angesammelt. Vor mir lagen noch reichlich fünfhundert Kilometer, reichlich zweihundert hatte ich hinter mich gebracht. Ich war gespannt, wann ich unter diesen Umständen wohl in Budapest eintreffen würde. Planmäßig wäre es gegen 20:30 Uhr gewesen. Doch das hielt ich nun schon für nicht mehr machbar.

Im weiteren Verlauf der Fahrt wich die Strecke der Elbe, die nun das Böhmische Mittelgebirge durchfloß, nicht von der Seite. Es ging also wie zuvor durch eine schöne Berglandschaft, die allerdings deutlich anders gestaltet war als das Elbsandsteingebirge. Anstelle markanter Sandsteinfelsen blickte ich nun auf schön geschwungene Bergketten, aus denen immer wieder markante Gipfel herausragten. Da diese vulkanischen Ursprungs sind und demzufolge aus Basalt bestehen, waren jetzt keine so markanten und verwitterten Felsen mehr zu sehen, wie sie in der Sächsischen und Böhmischen Schweiz so zahlreich an mir vorübergezogen waren. Felsen gab es allerdings hier und da trotzdem, wie ich in dem wenig später erreichten Ústí nad Labem unmittelbar am Elbufer sehen konnte, als wir erst am Fuße einer senkrechten Felswand entlangfuhren, die gerade noch genug Platz ließ, damit unsere Eisenbahnstrecke und eine Straße daran vorüberführen konnten, und bei der Ausfahrt aus der Stadt die Burg Střekov passierten, die eines ihrer Wahrzeichen ist. Sie ragt auf einem hohen Felsen unmittelbar über dem Fluß auf und ist weithin sichtbar. Ihr deutscher Name lautet übrigens Schreckenstein und sie besitzt für die deutsche Musikgeschichte einige Bedeutung, denn sie inspirierte den Komponisten Richard Wagner, nachdem er sie 1842 besucht hatte, für seine Oper Tannhäuser.  Und wenn ich schon bei deutschen Namen bin: Ústí nad Labem hat natürlich auch einen solchen: Außig. Doch eigentlich übersetzt das nur den Namensteil Ústí. Der Zusatz „nad Labem“ bedeutet allerdings nur „an der Elbe“, denn die tschechische Bezeichnung des Flusses ist „Labe“.

Burg Střekov in Ústí nad Labem
So schrecklich sieht sie eigentlich gar nicht aus, die Burg Schreckenstein am Ufer der Elbe, auf tschechisch Hrad Střekov.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Nachdem der Zug schließlich Ústí verlassen hatte, folgte er zunächst weiter dem Fluß. Da es nun in Richtung Prag ging, glaubte – und hoffte – ich zunächst, die Fahrt führe direkt zur Mündung der Moldau – dem Fluß, an dem Prag liegt – in die Elbe. Doch da hatte ich die Rechnung ohne die Erbauer der Strecke gemacht. Da das Land, durch das der Zug nun fuhr, zunehmend ebener und offener wurde, hatte es keine Notwendigkeit mehr gegeben, jeder weitläufigen Windung des Flusses zu folgen, um ans Ziel zu kommen. Und so verließ die Strecke, als sie endgültig in der nordböhmischen Ebene angekommen war, die Elbe und führte mitten ins Land abseits des Flusses hinein, um eine der besonders großen Flußschleifen abzukürzen. Zwar kehrten wir immer wieder einmal an den Fluß zurück, doch als dieser die schließlich von Westen heranströmende Moldau in sich aufnahm, waren wir gerade wieder inmitten weiter Felder unterwegs und bekamen davon nichts mit. So mußte mich erst ein Blick auf die Karte davon in Kenntnis setzen, daß ich bei der nächsten Sichtung eines Flusses nicht mehr die Elbe, sondern nunmehr die Moldau vor mir hatte. Nun dauerte es nicht mehr lange, da fuhr der Zug in den Hauptbahnhof von Prag ein.

Die berühmte Prager Burg – den Hradschin – hatte ich nur kurz und sehr von weitem zu sehen bekommen. Der Bahnhof lag ganz offensichtlich ein Stück von der Prager Innenstadt entfernt. So gestaltete sich mein Aufenthalt in der Stadt, auch wenn er etwas länger war als bei den bisherigen Stops – nur kurz. Als es nach einiger Zeit weiterging, fuhr ich plötzlich rückwärts. Bis Prag war mein Sitzplatz in Fahrtrichtung ausgerichtet gewesen. Das hatte sich jetzt geändert. Die Landschaft vor den Fenstern war nun Ostböhmen – großenteils hügelig, stellenweise auch eben. Weite Felder wechselten sich mit Wäldern ab, hier und da waren mal kleinere, mal größere Ortschaften eingestreut. Kolín und Pardubice blieben mir als Haltepunkte in Erinnerung.

Tschechische Landschaft bei Hradec nad Svitavou
Nach der bergigen Landschaft Böhmens geht es nahe Hradec nad Svitavou durch sanft geschwungene Hügel. Der Ort hieß einst Grándorf und gelangte als Greifendorf nach dem Münchener Abkommen an das Deutsche Reich, wo er zum Landkreis Zwittau gehörte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er wieder tschechisch und erhielt seinen heutigen Namen, der soviel wie Kleine Burg an der Zwitta bedeutet.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Kurz bevor der Zug Brno, das alte Brünn, erreichte, durchfuhr er ein wieder bergigeres Gebiet, das mir ein Blick auf die Karte als Böhmisch-Mährische Höhe identifizierte. Das kleine Flüßchen, an dem die Strecke zu diesem Zeitpunkt schon eine ganze lange Weile entlangführte und das sich nun kurvenreich durch diesen Höhenzug hindurchwand, trägt den Namen Svitava und wird im Deutschen Zwitta oder Zwittawa genannt. Die Strecke war ein wahrer Leckerbissen für Eisenbahnfans. Tunnel folgte auf Brücke folgte auf Tunnel, es ging mal nach links, mal nach rechts und immer ein Tal entlang, in dem es zu beiden Seiten der Strecke reichlich malerische Ortschaften und bunte Herbstwälder zu sehen gab.

Es war nach vier Uhr am Nachmittag, als der Zug den Bahnhof von Brno schließlich erreichte. Die Oktobersonne, die um diese Zeit bereits recht tief stand, tauchte die Stadt und insbesondere die sich auf einem Hügel über dieser erhebende Kathedrale St. Peter und Paul in leuchtende Farben, die einen starken Kontrast zu den teils düsteren, doch glücklicherweise lockeren Wolken am Firmament bildeten.

Die Kathedrale St. Peter und Paul in Brno
Die Kathedrale St. Peter und Paul steht nicht weit vom Hauptbahnhof in Brno entfernt. Da sie sich auf einem Hügel über die Stadt erhebt, hat man direkt aus dem Zug einen phantastischen Blick auf den Sitz des Bischofs des mährischen Bistums Brünn.
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Von Brno, der großen Stadt in Mähren, begab sich der Zug dann auf eine wahrhaft historische Strecke, denn er befuhr nun die alte Kaiser-Ferdinands-Nordbahn, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebaut wurde. Auf ihr erreichte er nach nicht ganz einer Stunde Břeclav, dessen deutschen Namen Lundenburg ich zuvor noch nie gehört hatte. Dahinter wartete die Grenze zur Slowakei darauf, überquert zu werden. Ein Blick auf die Uhr und ein Abgleich mit dem Fahrplan offenbarte mir, daß die tschechische Bahn offenbar recht tüchtig war und einiges besser machte als die deutsche, denn sie hatte die halbstündige Verspätung, mit der sie meinen Zug übernommen hatte, vollständig aufgeholt. Hier in Břeclav war er pünktlich auf die Minute unterwegs.

Leider sollte es ihm nicht vergönnt sein, dies beizubehalten. Denn die Fahrt auf slowakischem Staatsgebiet, immer nahe dem Ostrand des Landes entlang, wurde von einigen Baustellen verzögert, auf denen die Strecke offenbar nur noch eingleisig war. Zwar kam es nur ein- oder zweimal zu Halten auf freier Strecke, doch insgesamt hatte ich den Eindruck, nun in einem Bummelzug zu sitzen und nicht in einem EuroCity. So kam es, wie es kommen mußte. Hatte mein Zug Kúty, den ersten Ort auf dem Gebiet der Slowakei, noch pünktlich erreicht, konnte ihm das in Bratislava – einst Preßburg – nicht mehr gelingen. Als er in den Hauptbahnhof der Stadt einfuhr, hatte er die halbe Stunde Verspätung nicht nur bereits wieder erlangt, sondern sogar leicht übertroffen. Vor den Fenstern ging derweil die Sonne unter, so daß sich, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, bereits die Nacht herniedersenkte und die Welt vor den Fenstern in absolute Schwärze hüllte. Nun war, wenn ich von der vielfachen Spiegelung des Großraumabteils absah, wirklich gar nichts mehr zu sehen.

Sonnenuntergang über tschechischen Feldern
Die Fahrt am Ostrand der Slowakei ging durch weite, ebene Felder – die optimale Landschaft für ein herrlich-herbstliches Sonnenuntergangsschauspiel – hier in der Nähe von Podivín (deutsch: Kostel).
Fotograf: Alexander Glintschert (2025)
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Vom weiteren Verlauf der Fahrt kann ich daher nichts Nennenswertes mehr berichten. Die Donau, die ich in Bratislava bereits erreicht hatte, war mir dort noch nicht vor die Augen gekommen, und wenn das jetzt der Fall sein sollte, konnte ich sie in der Dunkelheit nicht mehr sehen.

So schön ich das Reisen in der Eisenbahn auch finde, so muß ich doch feststellen, daß es kaum etwas Langweiligeres gibt als eine nächtliche Zugfahrt. Die Welt tauchte nur an den Bahnhöfen für kurze Zeit aus der den Zug umgebenden Schwärze auf. Nové Zámky und Štúrovo waren noch zwei Ortschaften auf slowakischem Gebiet, an denen dieser hielt. Als er schließlich Szob erreichte, befand ich mich schon in Ungarn. Diese Stadt und die, die nun folgten – Nagymaros-Visegrád und Vác -, kannte ich schon von meiner Donau-Kreuzfahrt, die ich im vorangegangenen Jahr unternommen hatte. So wußte ich, daß ich jetzt im wesentlichen dem Lauf dieses großen europäischen Flusses folgte, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. Und ich wußte auch, daß die Landschaft, wenn auch unsichtbar, so doch hügelig bis bergig war und später, vor Budapest in eine weite Ebene überging. Vom Flachland um Berlin war die Fahrt erst durch das Elbtal und dann durch das böhmische Bergland mit seinen Wäldern und Tälern gegangen, hatte das ebene Tiefland, die Felder und  Weinbaugebiete Mährens, die von viel Grün und prächtigen Flußlandschaften geprägten slowakischen Marchauen, das westungarische Tiefland und das sanfte Hügelland des Vértes-Gebirges passiert, bis sie schließlich die weite pannonische Tiefebene um Budapest erreicht hatte. Ich hatte sozusagen einen Querschnitt durch Mitteleuropas ganze Geologie in nur einem Tag live am Zugfenster miterleben können. Kann man da noch ernsthaft bestreiten, daß zu einer Reise auch der Weg gehört? Selbst der Umstand, daß dessen letzter Teil heute quasi in Dunkelheit versunken war, konnte nicht den Reiz, den diese Fahrt auf mich ausgeübt hatte, schmälern. Außerdem würde ich das Verpaßte sicherlich auf der Rückfahrt nachholen können. Doch soweit war es noch lange nicht.

Die Uhr zeigte etwa 21 Uhr an, als der Hungaria sein Ziel schließlich erreichte. „Budapest – Nyugati“ war auf einem der großen Schilder zu lesen, die auf dem Bahnsteig den Namen des Bahnhofs verkündeten. Nyugati – das stand für Nyugati pályaudvar und bedeutete Westbahnhof. Als Kind – noch ohne jedes Verständnis für Sprachen – hatte ich mich manchmal gefragt, was denn der Bahnhof wohl mit Nougat zu tun haben mochte. Und so hatte sich mir diese Assoziation ins Gedächtnis gegraben, das sie nun, da ich das Schild las, brav wieder hervorkramte und mich so zum Lächeln brachte.

Hatte ich, da mein Waggon nach der Umkehrung der Fahrtrichtung in Prag nun der letzte des Zuges war, bei einem letzten Blick aus dem Fenster noch auf einen Neubau geblickt, der derart auf nackten Betonpfeilern ruhte, daß ich durch sein Erdgeschoß glatt zur gegenüberliegenden Seite hindurchsehen konnte, so änderte sich der Eindruck gänzlich, als ich kurz darauf unter dem freien Nachthimmel auf dem Bahnsteig stand. Kaum hatte ich mich, der Ausschilderung folgend, in Richtung Ausgang in Bewegung gesetzt, fiel mein Blick auf die sich einige Meter voraus erhebende Bahnhofshalle, zu der mich der Bahnsteig zielstrebig hinführte. Ihr zu beiden Längsseiten auf rötlichen Ziegelwänden ruhendes Stahlgerüst, ihre mir zugewandte, aus vielen kleinen, rechteckigen Glasscheiben bestehende, wie das Dach nach oben hin spitz zulaufende Schmalseite sowie die zwei schlanken, ebenfalls aus Ziegeln gemauerten und oben von kleinen vierseitigen Kuppeln abgeschlossenen Türmchen, die sie flankierten, verrieten unmittelbar das stattliche Alter des Bahnhofs, der bereits aus dem Jahr 1877 stammt. Als ich genügend weit auf dem langen Bahnsteig vorangekommen war, um von diesem direkt in diese Bahnhofshalle hineingeleitet zu werden, fiel mir nicht nur auf, daß hier auch deren Dach – im Gegensatz zum Dresdener Hauptbahnhof – noch im originalen, glasgedeckten Zustand war, sondern auch, daß es in der Halle tatsächlich nur um eines ging: die Eisenbahn. Abgesehen von kleinen Imbiß- und Informationsständen und dem einen oder anderen Fahrkartenschalter gab es nichts, was auch nur entfernt an einen Laden erinnert hätte. Welch ein Kontrast zu dem riesigen Berliner Hauptbahnhof, von dem ich am Morgen abgefahren war. Dieser Bahnhof hielt sich nicht für ein Einkaufszentrum. Er gab sich  als das, was er war: eine Einrichtung für den Schienenverkehr. Und das hatte unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Atmosphäre. Hier stand niemand, der eigentlich nur Einkäufe erledigen oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollte, die nichts mit Personenverkehr zu tun hatten, den Reisenden im Weg oder blockierte Zugänge zu Bahnsteigen. Wer hier unterwegs war, wollte in den allermeisten Fällen entweder mit dem Zug irgendwohin fahren oder war, so wie ich, gerade mit einem angekommen. Dementsprechend herrschte hier praktisch keine Hektik und kein Gedränge. Zwar mochte das auch damit zu tun haben, daß die zehnte Stunde der zweiten Tageshälfte bereits angebrochen war, doch hatte ich irgendwie den Verdacht, daß sich daran auch tagsüber kaum etwas änderte. Vielleicht ergab sich in den nächsten Tagen ja eine Gelegenheit, das einmal zu überprüfen. Auf jeden Fall machte dieser im besten Sinne etwas altertümliche Bahnhof auf mich einen viel angenehmeren und heimeligeren Eindruck als der immer ein wenig seelenlos wirkende Zentralbahnhof meiner Heimatstadt. Hier waren die bald einhundertfünfzig Jahre Eisenbahngeschichte, die mit diesem Ort verbunden war, förmlich spürbar. Fast erwartete ich, irgendwo eine Dampflok fauchen zu hören…

Da der Tag bereits recht weit fortgeschritten war und ich nach der langen Reise dann doch endlich einmal ankommen wollte, nahm ich mir jetzt nicht die Zeit, den Bahnhof noch eingehender zu betrachten, sondern verschob das auf einen möglichen anderen Tag. Stattdessen machte ich mich auf den Weg ins Hotel. Da ich bei der Buchung nicht nur darauf geachtet hatte, daß es möglichst zentral und verkehrsgünstig gelegen, sondern auch vom Bahnhof meiner Ankunft leicht erreichbar war, hatte ich keinen allzu weiten Weg zurückzulegen. Und da ich den ganzen Tag über gesessen hatte, entschloß ich mich kurzerhand, diesen zu Fuß zurückzulegen.

Den Koffer hinter mir herziehend, trat ich durch das Portal des Bahnhofsgebäudes auf die Straße und fand mich unmittelbar im Trubel der Großstadt wieder. Vor mir kreuzten sich zwei breite Boulevards auf einem großen, Nyugati tér genannten Platz. Das ungarische Wort „tér“ war auch eines der Dinge, die mein Gedächtnis, obwohl sie lange Zeit ungenutzt darin verborgen gewesen waren, unmittelbar wieder hervorkramte. Und so wußte ich in dem Augenblick, als ich das Straßenschild, auf dem es stand, las, daß es „Platz“ bedeutete. Direkt vor dem Bahnhofsgebäude verlief der Teréz körút, der am Nyugati tér von einer Hochstraße überquert wurde, die man sicherlich zur Entlastung des Verkehrs über die große Kreuzung gespannt hatte. Genau wie sie kreuzte ich den großen Boulevard und machte mich auf den Weg in die Bajcsy-Zsilinszky út, zu der mein Gedächtnis die Feststellung beizutragen hatte, daß das Wörtchen „út“ dem deutschen Wort „Straße“ entsprach, wobei diese eine gewisse Größe erreichen mußte, um als „út“ bezeichnet zu werden. Ein „körút“ ist hingegen nicht nur eine noch größere Straße, sondern entweder eine, die einen – wenigstens halben – Ring beschreibt oder aber die Größe eines Boulevards erreicht. Auf den Teréz körút traf definitiv beides zu.

Bevor ich mich nun aber zu weit in diesen laienhaften sprachlichen Betrachtungen verlor, schritt ich, sobald ich in die Bajcsy-Zsilinszky út eingebogen war, kräftig aus. Nach etwa fünf Minuten wies mich mein Smartphone, dem ich die Wegführung anvertraut hatte, an, in eine Nebenstraße einzubiegen, um den Weg etwas abzukürzen. Ich war nämlich im Grunde unterwegs in Richtung der Budapester Staatsoper, in deren unmittelbarer Nähe sich mein Hotel befand. Das Opernhaus stand jedoch an einem weiteren der großen Budapester Boulevards, der den Namen Andrássy út trug – uneingeschränkt konsequent war man mit der Namensgebung dann auch wieder nicht – und die Bajcsy-Zsilinszky út zwar kreuzte, dies jedoch in einem derart spitzen Winkel tat, daß der Gang durch die Nebenstraßen meinen Weg bedeutend abkürzen würde.

So hatte ich zu guter Letzt nur knappe fünfzehn Minuten zu gehen, bis ich wohlbehalten an meinem links neben der Oper gelegenen Hotel ankam, das sich in der Révay utca befand. Ich konnte nicht umhin, ein weiteres Mal in die ungarische Straßennamenkunde einzutauchen und festzustellen, daß diese Straße in der Tat so klein und schmal war, wie es das Wort „utca“ vermuten ließ. Das Hotel, das den schönen Namen „K+K Hotel Opera Budapest“ trug und immerhin vier Sterne besaß, sah von außen wie ein ehrwürdiger bürgerlicher Altbau aus, der sich mit seinen sechs Stockwerken, über denen noch ein Dachgeschoß lag, in den Straßenzug einfügte, ohne daraus besonders hervorzustechen. Die Eingangsfront war mit fünf aufeinanderfolgenden, bogenförmigen Baldachinen versehen, von denen gleich der erste den Eingang überwölbte, zu dem sieben Stufen hinaufführten.

Die Lobby war etwas moderner gestaltet, als es der äußere Eindruck des Gebäudes vermuten ließ, ohne daß man dabei jedoch in langweiligen Modernismus verfallen wäre. Ganz im Gegenteil, man schien hier einen zwar schlichten, dennoch aber auf eine gewisse Gemütlichkeit bedachten Stil zu pflegen. Im Eingangsbereich standen einige Sessel und niedrige Tische, dahinter lag, der Tür genau gegenüber, die Rezeption, wo ich mich nun anmeldete. Die Rezeptionistin war überaus professionell, so daß alles schnell und problemlos vonstattenging. Lediglich die Bitte, meine Rechnung doch gleich jetzt zu bezahlen, erschien mir ein wenig merkwürdig, und auch die auf meine Nachfrage gegebene Begründung, das würde die Dinge bedeutend vereinfachen, leuchtete mir nicht ganz ein. Da ich jedoch wohlbehalten hier angekommen war und somit auch mein Zimmer beziehen würde, hatte ich nicht wirklich etwas dagegen einzuwenden, zumal mir der Gedanke durch den Kopf ging, daß ich auf diese Weise bei der Abreise alles schon erledigt haben würde. Wenn das mit der Vereinfachung der Dinge gemeint gewesen war, sollte es mir recht sein. Bei der Bezahlung konnte ich dann zum ersten Mal in meinem Leben die Erfahrung machen, wie es sich anfühlt, wenn man mal eben so eine Million für etwas bezahlt. Das hatte seine Ursache darin, daß der Kurs des ungarischen Forints zum Euro bei nicht ganz 1 : 390 lag.

Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, erhielt ich meine Schlüsselkarte und eine Beschreibung, wie ich zu meinem Zimmer käme, die sich als so genau erwies, daß ich trotz des langen Weges durch die Flure des Erdgeschosses keine Schwierigkeiten hatte, erst den Aufzug und dann mein Zimmer zu finden. Wie sich herausstellte, zog sich der Hotelkomplex durch den gesamten Gebäudeblock, von einer kleinen Straße zur anderen. Denn als ich schließlich in meinem Zimmer angekommen war und aus dem Fenster blickte, schaute ich nicht auf die Révay utca hinaus, sondern in ihre benachbarte Parallelstraße, die Lázár utca.

Das Zimmer war überaus komfortabel und ließ, was die Ausstattung anging, keine Wünsche offen. Ganz offensichtlich handelte es sich, obwohl ich ein Einzelzimmer gebucht hatte, um ein Doppelzimmer, so daß mir nun ausreichend Platz zur Verfügung stand – ein Umstand, der mir angesichts meines geplanten zehntägigen Aufenthaltes nur recht sein konnte.

Da es mittlerweile zehn Uhr abends geworden war und ich überdies auch keinen großen Hunger verspürte – für ein ausgiebiges Abendessen war es sowieso zu spät -, beschloß ich, sämtliche ersten Erkundungen des näheren Umfeldes des Hotels auf den morgigen Tag zu verschieben, mich stattdessen erst einmal häuslich einzurichten und anschließend von der langen Fahrt auszuruhen. Für heute würde es genügen, mich darüber zu freuen, daß ich wohlbehalten in dieser meiner zweiten Heimatstadt Budapest angekommen war.

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