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Tanz auf dem Vulkan

Dieser Beitrag ist Teil 10 von 10 der Beitragsserie "Reise nach Neuseeland & Singapur"
Wie ich auf Lava wandelte und trotzdem keine brennenden Sohlen bekam

Als ich am vierten Tag unseres Aufenthalts in Auckland – es ist der siebte unserer Reise – kurz nach dem Aufstehen aus dem Fenster unseres Hotelzimmers blicke, ist der Himmel wolkenverhangen. Nicht wie tags zuvor einfach nur stärker bewölkt, sondern über weite Strecken grau. Es sieht nach Regen aus. Nun, es kann ja nicht immer nur die Sonne scheinen.

Und wie ich da so stehe und hinausschaue, habe ich das Gefühl, daß das Wetter irgendwie ganz gut zu meinem momentanen Empfinden paßt. Denn auch mir ist gewissermaßen ein wenig grau zumute, verspüre ich doch seit dem gestrigen Tag die ersten Anzeichen einer sich nähernden Erkältung. Nichts, was wirklich schlimm wäre. Doch was sich vordem lediglich als ein leichtes Kratzen im Hals bemerkbar gemacht hatte, ist heute bereits ein dauerhaft spürbarer Schmerz, den ich als störend empfinde. Dabei fühle ich mich ansonsten überhaupt nicht krank. Und doch drückt die Aussicht, in den nächsten Tagen möglicherweise an einer Erkältung herumzulaborieren, auf meine Stimmung, die dementsprechend ausfällt, wie der Himmel aussieht: grau.

„Ach was“, rufe ich mich selbst zur Ordnung. „Ich werde nicht krank!“

Wahrscheinlich verspüre ich nur eine allergische Reaktion auf irgendwelche hier herumfliegenden Pollen, die ich nicht gewohnt bin, versuche ich mir einzureden, um mich aus meiner trüben Stimmung zu reißen. Schließlich bin ich nicht um die halbe Welt gereist, um hier krank herumzusitzen, wo es doch soviel zu sehen und zu unternehmen gibt.

Und um mich von dem Schmerz in meinem Hals abzulenken, packe ich meine Siebensachen für den heutigen Tag zusammen. Als ich damit fertig bin, ist es auch schon Zeit, zum Frühstück hinunterzugehen. Das ist in unserem Hotel ganz anständig. Eier, Speck und Würstchen gehören ebenso wie Pancakes zum Angebot, was in Ländern, die im Einflußbereich des einstigen britischen Empires lagen, eine Selbstverständlichkeit ist. Wer es konventioneller oder einfach nur der Gesundheit weniger abträglich mag, hat meist auch die Wahl, das sogenannte kontinentale Frühstück zu nehmen – eine Bezeichnung, die den Blickwinkel der Bewohner der britischen Inseln auf die Frühstücksgewohnheiten, die auf dem europäischen Kontinent vorherrschend sind, widerspiegelt. Interessant ist, daß man das in allen Ländern des Commonwealths so nennt, also auch hier in Neuseeland, wo die Bezeichnung eigentlich nicht sonderlich viel Sinn ergibt, würde man sie doch bestenfalls auf den australischen Kontinent beziehen können. Doch auch dort spricht man, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, vom kontinentalen Frühstück und meint eines, das man für ein europäisches hält. Nun kenne ich mich, wenn ich ehrlich bin, nicht mit allen Frühstücksgewohnheiten in den vielen verschiedenen Ländern unseres schönen Kontinents aus. Doch als Deutscher sollte man, wenn man das kontinentale Frühstück bestellt, nicht erwarten, dabei etwas vorgesetzt zu bekommen, was man von zu Hause kennt. Man würde mit ziemlicher Sicherheit enttäuscht werden, es sei denn, man zieht es vor, lediglich Toastbrot zu frühstücken, das mit Butter bestrichen und etwas Wurst oder Käse belegt ist. Marmelade und Honig sind natürlich auch im Angebot. Viel mehr aber nicht. Brötchen? Fehlanzeige. Schwarzbrot? Hier völlig unbekannt. Immerhin kann man die Brotscheiben toasten. Dennoch ißt man sich an dem Zeug eher hungrig. Jedenfalls geht es mir stets so.

Eine besondere Erwähnung verdient ein Brotaufstrich, der in Australien überall zum Frühstücksangebot gehört, aber auch hier in Neuseeland anzutreffen ist: Vegemite. Ausgesprochen wird das in etwa als „Wedschimeit“. Als ich ihn auf dem Frühstücksbüfett gewahre, fällt mir eine Begebenheit wieder ein, die sich zweieinhalb Jahre zuvor während unserer Australienreise in dem kleinen Ort Erldunda zugetragen hat. Nun, eigentlich ist Erldunda gar kein Ort, sondern lediglich ein sogenanntes Roadhouse an der Kreuzung, wo der Lasseter Highway auf den Stuart Highway trifft. Letzterer verbindet Port Augusta im Süden mit Darwin im Norden und durchquert das inmitten des australischen Outbacks gelegene Alice Springs. Der Lasseter Highway zweigt von ihm ab und führt in westlicher Richtung zum Uluru, jenem berühmten Berg, der in unseren Breiten auch als Ayers Rock bekannt ist. Während unseres Besuchs in Alice Springs hatten wir eine zweitägige Tour unternommen, die uns zunächst zum Kings Canyon führte und tags darauf zum Uluru. Zu beiden Orten führt der Weg von Alice Springs über Erldunda. Um nun nicht die gesamten 250 Kilometer, die Erldunda von Alice Springs entfernt liegt, an beiden Tagen zurücklegen zu müssen, hatten wir in dem Roadhouse übernachtet. Mit diesem Begriff bezeichnet man in englischsprachigen Ländern Raststätten, die Durchreisenden alles für die Reise Notwendige bieten, wozu bei Bedarf natürlich ein Dach über dem Kopf gehört. So verfügt auch Erldunda über eine Tankstelle, ein Restaurant, ein Motel und einen Caravanpark sowie eine Landebahn für Flugzeuge. Das ist dann aber auch schon nahezu alles. Da sich die Unterhaltungsmöglichkeiten lediglich auf ein Gehege für Emus und in klaren Nächten den phantastischen Sternenhimmel beschränken, plant hier niemand längere Aufenthalte ein. Doch dafür ist ein Roadhouse wie Erldunda auch nicht gedacht.

Am Ende des ersten Tages fuhr uns unser Bus also zu dieser Raststätte, wo ein Zimmer auf uns wartete, verbunden mit einem guten Abendbrot im Restaurant. Dieses nahmen wir gemeinsam mit unserer Reisegruppe ein, der wir uns für diese zwei Tage angeschlossen hatten, ein bunt zusammengewürfelter Trupp von netten Menschen aus verschiedenen Gegenden Australiens und der Welt. Einen gewichtigen Teil zur Unterhaltung trug unser Tour-Guide bei – die hiesige Bezeichnung für jemand, der in sich die Funktionen eines Fahrers, eines Reiseleiters, eines Organisators und eines Problemlösers für alle Belange der ihm anvertrauten Touristen vereint. Unserer war ein waschechter Australier, der uns den ganzen ersten Tag zum Kings Canyon und zurück kutschiert und uns die interessantesten, am Weg gelegenen Orte im Outback gezeigt hatte, die wir ohne ihn mit Sicherheit nie gefunden und gesehen hätten. Lautstark erzählte er nun uns am Tisch Versammelten einige Geschichten, an die ich mich nicht mehr genau erinnere, bis er schließlich auf Vegemite zu sprechen kam.

„Wir Einheimische“, so erklärte er grinsend, „haben stets einen Heidenspaß, wenn wir Touristen, vorzugsweise Europäer, dabei beobachten können, wie sie das erste Mal Vegemite probieren.“

Ganz besonders lustig sei es, so erzählte er uns, wenn es sich dabei um Deutsche handle. Die würden Vegemite wegen seiner braunen Farbe stets für so etwas wie ihre geliebte Haselnußcreme halten. Oder, wenn sie doch einmal genauer hinsehen, für einen süßen, sirup­artigen Brotaufstrich. Aber nie, wirklich nie, rechneten sie mit dem, was Vegemite tatsächlich ist. Ganz offensichtlich bereitete ihm seine Geschichte großes Vergnügen, denn während er sie erzählte, brach er zwischendurch immer wieder in Gelächter aus, ohne daß die meisten seiner Zuhörer noch genau wußten, was ihn daran so amüsierte, war er doch bis zur Pointe noch gar nicht vorgedrungen.

Die bestand darin, daß es in den von ihm beschriebenen Situationen fast immer kommt, wie es wohl kommen muß: der unbedarfte, vorzugsweise deutsche Tourist streicht sich eine kräftige Portion Vegemite auf seinen Toast, beißt in froher Erwartung herzhaft hinein – und erstarrt förmlich. Langsam, ganz langsam, verzieht er angewidert das Gesicht, ganz offensichtlich mit sich ringend, ob er die als völlig ungenießbar empfundene Masse in seinem Mund herunterschlucken oder sich ihrer doch lieber entledigen soll. Daß dies ihn dabei möglicherweise beobachtende Einheimische stets köstlich amüsiert, dafür war unser Tourführer, der uns all dies beschrieb, mit seinem dröhnenden Gelächter, das seine Erzählung begleitete, der beste Beweis.

Denn der arme Tourist verspürt nun in seinem Mund anstatt der erwarteten Süße die Empfindung eines salzigen, malzigen, leicht bitteren Geschmacks. Vegemite hat nämlich nichts, aber auch gar nichts mit Nutella, Nudossi oder wie all die Nuß-Nougat-Cremes so heißen, zu tun. Und auch nicht mit süßem Sirup. Vegemite ist konzentrierter Hefeextrakt. Da es nur sehr wenig Zucker, dafür aber viel Vitamin B und andere der Gesundheit förderliche Stoffe enthält, kann man es durchaus als ein gesundes Lebensmittel ansehen, wenn man die acht Prozent Salz außer Acht läßt. Ein starker Gegensatz zu unseren Nußcremes. Oder eben Sirup. Der Geschmack ist, vorsichtig ausgedrückt, auf jeden Fall gewöhnungsbedürftig. So sehr, daß das 1922 von Cyril Callister entwickelte Produkt auch in Australien zunächst kein Erfolg war. Es bedurfte erst der kostenlosen Beigabe eines Glases Vegemite zu dem ebenfalls von Callister erfundenen, überaus erfolgreichen Schmelzkäse und der Zeit der Großen Depression um 1930, als die Verschwendung jeglicher Lebensmittel tabu war, um die Australier an den Geschmack zu gewöhnen. Heute gilt die braune Paste als der Inbegriff der typischen australischen Ernährung. Und weil ihr Geschmack so ungewöhnlich und gewöhnungsbedürftig ist, bezeichnen ihn die Australier als „the taste of Australia“ – den Geschmack Australiens. Auch unser Tourführer versäumte damals nicht, uns das stolz unter die Nase zu reiben. Soweit ich mich erinnere, wußte ich damals nicht so recht, ob ich seiner Geschichte und des Vergnügens, mit dem er sie erzählte, wegen amüsiert oder beleidigt sein sollte. Denn immerhin waren es seiner Meinung nach gerade wir Deutschen, die bei den Einheimischen für besonderes Amüsement sorgten. Da ich es jedoch nicht schaffte, angesichts der Herzlichkeit, die er gleichzeitig ausstrahlte, während er redete, mich wirklich beleidigt zu fühlen, amüsierte ich mich schließlich mit. Erst recht, weil mir meine eigene erste Begegnung mit Vegemite gleich am ersten Tag nach unserer Ankunft in Australien wieder in den Sinn kam, die, ich muß es gestehen, ziemlich exakt so abgelaufen war, wie er es beschrieben hatte. Auf der gesamten Reise durch den großen Kontinent war es mir anschließend nicht gelungen, mich an Vegemite zu gewöhnen. Und so mache ich nun, als ich es hier in Neuseeland wieder auf dem Frühstücksbüfett stehen sehe, einen weiten Bogen darum. Ich habe es damals übrigens nicht über’s Herz gebracht, unserem Tourführer zu erzählen, daß wir beide zu eben jenen Deutschen gehörten, die er in seiner Geschichte für ihr Potential, ihn zu amüsieren, so sehr gewürdigt hatte. Diese Verlegenheit wollte ich ihm dann doch lieber ersparen…

Nachdem der letzte Toast aufgegessen und die letzte Tasse Kaffee beziehungsweise Tee ausgetrunken ist, erheben wir uns von unseren Stühlen und gehen zurück in unser Zimmer, doch nur, um unsere Sachen zu holen, die wir für unsere heutige Tagestour benötigen. Kurz darauf verlassen wir durch die große Eingangstür in der Lobby unser Hotel und finden uns auf der Wellesley Street wieder. Zu Fuß spazieren wir erneut in Richtung des an der Waterfront gelegenen Fährterminals, denn unser heutiges Ziel ist nur mit dem Schiff zu erreichen. Weil dessen Abfahrt aber noch eine ganze Weile hin ist, lassen wir uns viel Zeit und gehen gemächlich durch die kleineren Nebenstraßen des Central Business Districts Aucklands.

Nicht allzu weit von unserem Hotel entfernt entdecke ich in der Elliott Street etwas, das ich in Auckland bisher noch kaum irgendwo wahrgenommen habe: ein Graffiti. Allerdings ist es keines, wie man es in deutschen Städten so oft findet und das man eher als Schmiererei bezeichnen muß. Nein, hier handelt es sich um ein kleines Kunstwerk, das sich dem Betrachter auch erst mit einigem Abstand offenbart, verziert es doch die Vorderseiten der Stufen einer Treppe im Eingang eines Gebäudes. Es zeigt das Gesicht einer jungen Frau, die den Blick nach oben richtet, um den sie einhüllenden Schneeflocken entgegenzusehen. Ihr Gesicht und ihre Haare scheinen sich nach hinten immer mehr in den Schwaden wallenden Nebels aufzulösen oder aber aus diesen hervorzugehen, je nach Fantasie des Betrachters. Die purpurnen und blau-schwarzen, winterliche Stimmung vermittelnden Farbtöne der wabernden Luftschichten gehen mit zunehmender Entfernung von ihrem Gesicht mehr und mehr in helle Gelb- und Rottöne über, die den Eindruck lodernden Feuers erwecken. Ob es den Winter besiegen kann? Oder wird es von diesem überwältigt werden? Ich bin mir nicht recht schlüssig. Auf jeden Fall ist es ein schönes Bild, das mich da im Vorbeigehen gefesselt und zum Innehalten bewegt hat.

Graffiti in der Elliott Street in Auckland
Kunst in der Stadt – ein Treppengraffiti in der Elliott Street in Auckland.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als wir wenig später dort, wo die Queen Street auf die Quay Street trifft, die Waterfront erreichen, liegt das Kreuzfahrtschiff, das zwei Tage zuvor bereits am Queens Wharf längsseits festgemacht hatte, immer noch dort vor Anker. Offenbar hat die Crystal Serenity, wie das Schiff den großen Lettern an seinem Rumpf zufolge heißt, es nicht sonderlich eilig. Nun, Auckland hat ja auch einiges zu bieten, was anzusehen sich lohnt, wie wir nun aus eigener Erfahrung bestätigen können.

Da unsere Fähre erst in knapp zwei Stunden abfahren wird, nutzen wir die uns dadurch zur Verfügung stehende Zeit, um die Waterfront noch ein wenig zu erkunden. An unserem ersten Abend waren wir die Quay Street in Richtung des Viaduct Bassins entlanggegangen, daher schlagen wir jetzt die entgegengesetzte Richtung ein und spazieren den Roten Zaun entlang, der uns nun auf der linken Seite der Straße begleitet. Hinter den durchgehend roten Zaunstäben dehnt sich das Hafengelände, im vorderen Bereich meist eine weitgehend leere, betonierte Fläche, auf der vereinzelt Autos parken, während dahinter die Wasser des Waitematā Harbours mal näher, mal weiter entfernt wogen, je nachdem, ob wir gerade einen der zahlreichen Piers oder eines der zwischen ihnen liegenden Hafenbecken passieren. Hafenkräne, Lagerhallen, vor Anker liegende Kutter, Schlepper und große Frachtschiffe bestimmen das Bild, das sich uns bietet, wenn wir den Blick durch den Zaun lenken.

Die gegenüberliegende Straßenseite gehört hingegen vollständig der Stadt. Hier bestimmen zunächst moderne Geschäfts- und Bürohäuser das Bild, einige mehr, anderer weniger hoch. Nichts jedoch, was sonderlich in Erinnerung bleiben würde. Das ändert sich erst, als wir die von links in die Quay Street einmündende Gore Street passiert haben. An der Straßenecke erhebt sich ein dreistöckiges Gebäude, das mit seiner gelben Ziegelfassade und den die Stockwerke voneinander trennenden Gesimsen so offensichtlich aus einer anderen Zeit stammt, daß es der an dem oben aufgesetzten, terrassenartig ansteigenden und mit weißen Steinkugeln verzierten Scheingiebel plazierten Jahreszahl 1898 gar nicht bedarf, um das 19. Jahrhundert als seinen zeitlichen Ursprung zu vermuten. Die Vorderfront dieses Hauses Quay Street 266 gliedert sich in fünf Fensterachsen, die voneinander durch Pilaster getrennt werden, deren zwei weitere die Fassade an den beiden Außenseiten abschließen. An der mittleren Achse sind die sie einfassenden Pilaster gedoppelt und gehen nach oben hin direkt in den Scheingiebel über, der sie mit einem kleinen, bekrönenden Giebeldreieck abschließt. Das Erscheinungsbild der Fassade wird von den regelmäßig angeordneten, nahezu quadratischen, meist zweigeteilten Fenstern im zweiten und dritten Stock bestimmt. Lediglich in der hervorgehobenen mittleren Achse sind diese etwas größer und bestehen nicht aus zwei, sondern aus drei Scheiben. Das Erdgeschoß ist mit großen, repräsentativen Rundbögen versehen, die sowohl die hier stets dreiteiligen Fenster als auch die beiden Eingangsportale überwölben, deren eines sich in der mittleren Achse befindet und angesichts des dreieckigen Türgiebels zweifellos das Hauptportal ist, während das andere in der linken äußeren Achse ohne einen solchen Schmuck auskommt. Über den Rundbögen befindet sich unter dem Gesims, das den ersten Stock vom Erdgeschoß abgrenzt, ein durchgängiger weißer Streifen, auf dem große, steinerne, etwas vorstehende und ebenfalls weiße Lettern aufgebracht sind. „The Northern Steamship Company Ltd.“ ist dort zu lesen – fünf Wörter über fünf Fenstern, je Fenster eines.

Das Gebäude der einstigen Northern Steamship Company in Auckland
Ein ehrwürdiges, geschichtsträchtiges Gebäude – der einstige Sitz der Northern Steamship Company Ltd. in der Quay Street 122.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Die auch kurz als NSS bezeichnete Schiffahrtsgesellschaft befuhr in den Jahren von 1881 bis 1974 die Gewässer rund um die nördliche Hälfte der Nordinsel Neuseelands. Als sie Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Geschäftsgebäude benötigte – das alte in der Queen Street war zu klein geworden -, ließ sie das Gebäude, das wir nun vor uns sehen, vom Architekten Arthur P. Wilson entwerfen und anschließend nach seinen Plänen errichten. 1898 fertiggestellt, wurde es von der Firma im Jahr darauf bezogen.

Der neue Unternehmenssitz befand sich dabei auf einem Areal, das man vom Auckland Harbour Board, der städtischen Betreibergesellschaft des Hafens, gepachtet hatte und das noch wenige Jahrzehnte zuvor von den Fluten des Waitematā Harbours überspült wurde. In den 1860er Jahren hatte man für den weiteren Ausbau der Siedlung Auckland, zu dem unter anderem auch die Anlage einer Eisenbahnstrecke gehörte, begonnen, Land aufzuschütten, was die Küstenlinie vor dem heutigen Central Business District dramatisch veränderte. Ganze Buchten und Landzungen verschwanden, als man das Wasser Stück für Stück zurückdrängte, um neue Gebiete zu schaffen, die man bebauen konnte. Namen wie Freemans Bay, Commercial Bay, Official Bay und Mechanics Bay, Point Stanley und Point Britomart sind heute nur noch in den Geschichtsbüchern oder auf alten Karten zu finden. So bekommt der Name Waterfront, unter dem das Areal heute bekannt ist, eine ganz neue Bedeutung.

Das Firmengebäude der Northern Steamship Company besaß zunächst lediglich zwei Stockwerke. Gußeiserne Säulen stützten die hohen Decken mit dem dunkelgrünen Gebälk. Hier war genug Platz für das öffentliche Büro der Gesellschaft, einen Telefonraum, das Büro des Managers, weitere Räume für die Mitarbeiter und einen Sitzungssaal. War all das über das zentrale Portal zu erreichen, so führte die östliche Tür, die ich links an der Frontseite bemerkt hatte, vom Gebäude zu den Kais, die die Passagiere über einen Steg erreichen konnten – ein Umstand, der es ihnen erlaubte, den damals noch allgegenwärtigen Schlamm zu vermeiden, denn das Gelände war noch lange nicht so mit Beton und Asphalt versiegelt, wie es heute der Fall ist. Ein Lagerhaus, das sich auf der Rückseite des Firmengebäudes befand, war ebenfalls über diese Tür zu erreichen. Als das expandierende Unternehmen im Jahre 1921 mehr Platz für Unterkünfte und eine Wäscherei benötigte, erweiterte man das zweistöckige Haus um eine dritte Etage.

Bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts machte der nach wie vor auf die Schiffahrt konzentrierten Gesellschaft die Konkurrenz von Eisenbahn und Straße zu schaffen. Die Zahl der Passagiere ging mehr und mehr zurück, was das Unternehmen zwang, deren Transport immer weiter einzuschränken und entsprechende Schiffahrtslinien einzustellen. Es verlegte sich daher auf den Handel und den Transport von Waren, doch auch das erwies sich mit der Zeit als immer weniger profitabel, da deren Beförderung mit Eisenbahn und Lastkraftwagen einfach schneller vonstattenging. Eine Zeitlang konnte die Northern Steamship Company, die natürlich längst nicht mehr mit Dampfschiffen unterwegs war, noch mit dem Handel zwischen den neuseeländischen Inseln und auch mit Australien überdauern, doch 1974 wurde das Unternehmen dann schließlich aufgelöst. Das Gebäude ging in den Besitz des Auckland Harbour Boards über, dem das Land, auf dem es stand, sowieso gehörte. Heute beherbergt der einstige Sitz einer Schiffahrtsgesellschaft eine Bar.

Direkt gegenüber befinden sich im Roten Zaun mehrere nebeneinanderliegende Tore, die, wären sie geöffnet, Zugang zum Hafengelände dahinter gewährten. Für uns ist das eine weitere Gelegenheit, die kunstvolle Gestaltung dieser gewaltigen schmiedeeisernen Konstruktion eingehend zu betrachten und angemessen zu bewundern. Auch hier sind in der Mitte der Torflügel die großen wappenartigen Siegel des Auckland Harbour Boards angebracht, wie sie uns schon am Tor zum Queens Wharf begegnet waren. Und auch die großen Laternen mit den kleinen bärtigen Männerköpfen an ihren Sockeln fehlen natürlich nicht und bekrönen elegant-gewaltig die Torpfosten.

Das Wappen des Auckland Harbour Board am Roten Zaun in Auckland
Das Wappen des Auckland Harbour Boards am Roten Zaun an der Waterfront in Auckland.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Wir setzen unseren Weg fort und spazieren weiter den Roten Zaun entlang. Meine Hoffnung, noch einige weitere altehrwürdige Gebäude wie das der einstigen Northern Steamship Company zu sehen zu bekommen, erfüllt sich allerdings leider nicht, sieht man einmal von einem als Quay Buildings bezeichneten Bau ab, bei dem ich mir allerdings nicht ganz sicher bin, ob es sich dabei nicht einfach nur um einen auf alt getrimmten modernen Bau handelt. Das einzige weitere wirklich ältere Gebäude ist ein langgestreckter einstöckiger Ziegelbau mit Spitzdach, den wir an der Ecke Quay Street und Britomart Place antreffen und bei dem es sich, wie ich zunächst vermute, um ein altes Lagerhaus handeln könnte. Heute scheint der Aufschrift „Brew on Quay“ und den wenigen Tischen und Stühlen auf dem schmalen Gehsteig nach zu urteilen darin ein Restaurant der Art untergebracht zu sein, die man bei uns Brauhaus nennt. Daß ich mit der Lagerhaustheorie falsch liege, finde ich bei späteren Recherchen heraus. Tatsächlich handelt es sich bei dem im Jahre 1903 errichteten Gebäude um den einstigen Hauptsitz der Colonial Sugar Refining Company, was man mit Koloniale Zuckerraffinerie-Gesellschaft übersetzen könnte. Die Gesellschaft hatte ihr Hauptquartier nahe dem Hafen errichtet, mußte es später aber aufgeben, als sich das Zuckergeschäft auf dessen andere Seite verlagerte. So brachte man in dem Gebäude die Polizei unter, die es als Operationsbasis für ihre Suche nach Kriminellen an den Kais benutzte. Weil das nahe der Innenstadt gelegene Hafengelände schließlich seiner ursprünglichen Funktion verlustig ging, als der Hafen von Auckland mehr und mehr in östlicher Richtung verschoben wurde, schloß man 1993 diese Polizeistation. Vielleicht ist es ein Hinweis auf die Art und Weise, wie unsere heutige, schwerpunktmäßig auf Dienstleistungen ausgerichtete westliche Gesellschaft tickt, daß auch dieses historische Gebäude, genau wie das einstige Firmengebäude der Northern Steamship Company, nun ein Etablissement des Gastgewerbes beherbergt.

Wir gehen noch ein Stück weiter. Die Gegend wird jedoch immer uninteressanter. Auf der rechten Straßenseite zieht sich nun ein Parkhaus scheinbar endlos hin. Links haben wir immer noch den Roten Zaun neben uns, der jetzt aber lediglich aus einfachen, völlig schmucklosen Zaunfeldern besteht, in denen sich Stab an Stab reiht. Gerade überlegen wir, unsere Wanderung die Quay Street entlang abzubrechen und umzukehren, da hört der Rote Zaun neben uns plötzlich auf und tritt etwa zwei Meter vom Gehweg zurück, um einer mit Ziegeln gepflasterten geneigten Ebene Platz zu machen, die an ihrem hinteren Ende von einer merkwürdigen langgestreckten Wand begrenzt wird, deren Sinn sich mir nicht so recht erschließt. Sie ist durch einen massiven blau-grauen Stahlrahmen eingefaßt und in eine Reihe von Wandfeldern unterteilt, deren jedes aus einer großen gerippten Metallplatte besteht, die links, rechts und unten von Glasscheiben umgeben ist, durch die man auf das Hafengelände dahinter sehen kann. Dieses wird auf der gesamten Länge der Wand etwa fünf Meter weit von einem Dach überschattet, das von großen, galgenartigen Metallpfeilern gehalten wird, die zum Balanceausgleich über rückwärtige Ausleger verfügen, deren Stützen als Säulen am vorderen Ende der schrägen Ebene stehen und diese so in zu den Wandfeldern passende Bereiche einteilen. Ganz schön viel Aufwand für die lediglich teilweise Überdachung eines großen Platzes. Aber es wird sich schon jemand etwas dabei gedacht haben, geht es mir durch den Kopf, und ich wende mich einem ungleich interessanteren Detail zu, das mir just in diesem Augenblick zu meinen Füßen ins Auge springt.

Im zweiten der Felder, in die die geziegelte Schrägebene durch die Stützsäulen unterteilt wird, ist nämlich ein vornehmlich in Blau und Gelb gehaltenes Mosaik in den Boden eingelassen. Es ist in zwei Teile geteilt, deren linker, größerer ein Segelschiff mit tiefblauen Segeln inmitten eines aufgewühlten Meeres von ebensolcher Farbe zeigt, über dem sich ein gelber Himmel wölbt, an dem links das Kreuz des Südens prangt, während rechts ein Schweifstern herniederstürzt. Der Rumpf des Schiffes zeigt am Bug einen breiten Streifen in den Farben des Regenbogens, während an seiner Seite in großen Buchstaben das Wort GREENPEACE zu lesen ist. Umrahmt ist das Mosaik von einem Streifen aus schwarzen Fliesen, über die sich am linken, oberen und rechten Rand ein blaues Band windet. Der untere Rand ist ebenfalls mit großen Lettern beschriftet. RAINBOW WARRIOR lese ich, gefolgt von der Wiederholung des Wortes GREENPEACE.

Der rechte Teil des Mosaiks setzt das Bild des gelben Himmels und des blauen Meeres fort, über das jedoch das Bild mit dem Gerippe einer Echse gelegt ist, das mich in seiner Darstellung irgendwie an ein Röntgenbild erinnert. Darüber befinden sich drei weiße Bereiche, die mit dem Text, den sie enthalten, ein wenig wie Sprechblasen in einem Comic wirken. Als ich beginne, den Text zu lesen, wird mir sehr schnell klar, daß ich hier ein Denkmal vor mir habe, das an ein sehr ernstes Ereignis der Weltgeschichte erinnert[1]Der Text lautet im Original: At Marsden Wharf in July 1985 the Rainbow Warrior, the flagship for Greenpeace, was bombed and sunk by agents of the French Government killing photograper Fernando … [Weiterlesen]:

Im Juli 1985 wurde die Rainbow Warrior, das Flaggschiff von Greenpeace, am Marsden Wharf von Agenten der französischen Regierung bombardiert und versenkt, wobei der Fotograf Fernando Pereira getötet wurde. Das Schiff war auf dem Weg in den Pazifik, um friedlich gegen französische Atomtests zu protestieren. Die öffentliche Empörung und der anhaltende Druck führten dazu, daß Frankreich die Bombentests nach 1995 einstellte und irreparable Schäden auf Moruroa hinterließ.

Heute inspiriert die Rainbow Warrior II die Menschen überall auf der Welt, da sie weiterhin rund um den Globus ein „Zeugnis ablegt“ gegen Atomwaffen und alle anderen zerstörerischen Umweltpraktiken.

„Einen Regenbogen kann man nicht versenken“

Das Denkmal für die Rainbow Warrior in Auckland
Das Mahnmal für die Rainbow Warrior vor dem Marsden Wharf an der Quay Street in Auckland.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Die Rainbow Warrior war, wie hier zu lesen ist, nicht nur irgendein Gefährt der Umweltschutzorganisation Greenpeace, sondern deren Flaggschiff. Sie war aus dem Nordpazifik eingetroffen, wo sie bei der Evakuierung der durch die Atomtests der 1950er und 1960er Jahre gesundheitlich geschädigten Bewohner des zu den Marshall­inseln gehörenden Rongelap-Atolls geholfen hatte, um nun an einer Protestaktion teilzunehmen, mit der sich die Organisation gegen die Atomwaffentests wandte, die Frankreich nach wie vor auf dem Mururoa-Atoll[2]Bei uns ist die Namensvariante Mururoa gebräuchlich. In der Sprache der Polynesier lautet der Name des Atolls allerdings Moruroa. durchführte. Geplant war, daß die Mannschaft der Rainbow Warrior die Auswirkungen dieser Tests überwachen sollte – ein Vorhaben, das der französischen Regierung offenbar ein Dorn im Auge war und das sie zu verhindern trachtete.

Und so brachten, als das Schiff am 10. Juli des Jahres 1985 am Marsden Wharf, einem Pier des Hafens von Auckland, vor Anker lag, Agenten des französischen Geheimdienstes unter Wasser Sprengsätze an seinem Rumpf an, deren Detonation nicht nur die Rainbow Warrior so stark beschädigten, daß sie schließlich sank, sondern auch den an Bord befindlichen niederländisch-portugiesischen Greenpeace-Fotografen Fernando Pereira das Leben kosteten. Heute würde man solch einen Anschlag, verübt auf ein ziviles Schiff, ungeschminkt als das bezeichnen, was er ist: Terror. Und es war eine westliche Regierung, die ihn in Auftrag gab.

Natürlich nahmen die Neuseeländer ein solches Verbrechen, das auf ihrem Territorium verübt wurde, nicht einfach hin. Die Polizei konnte zwar nicht alle, aber immerhin zwei der Attentäter ausfindig machen und verhaften. Sie wurden in der Folge zu jeweils zehn Jahren Gefängnis verurteilt, später jedoch auf Vermittlung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Javier Pérez de Cuéllar, an Frankreich übergeben, das sie zwar zunächst vereinbarungsgemäß auf einem französischen Stützpunkt im Pazifik in Haft behielt, doch einige Zeit später zurückholte. So kam es schließlich, daß sie zwar als einzige der an der Tat Beteiligten überhaupt zur Verantwortung gezogen wurden, ihre Strafe aber dennoch nicht vollständig absitzen mußten.

Als die Umweltschutzorganisation Greenpeace im September 2001 ihr dreißigjähriges Bestehen feiern konnte, nahm man das zum Anlaß, dieses Denkmal vor dem Marsden Wharf zu errichten. Die Künstlerinnen Vicki Worthington und Claudia Pond Eyley entwarfen das Mosaik und Jan Morrison übernahm die Realisierung. Wir waren bereits in der St. Mary’s Church einem Werk der neuseeländischen Malerin und Filmemacherin Pond Eyley begegnet. Dort hatte sie die sogenannten Frauenfenster gestaltet.

Heute ist der Anschlag auf die Rainbow Warrior wohl weitgehend in Vergessenheit geraten, auch wenn Denkmale wie dieses – ein weiteres befindet sich bei den Cavalli-Inseln vor der Matauri Bay, wohin man das Wrack der Rainbow Warrior schließlich brachte, um es endgültig zu versenken – daran erinnern. Und so besteht leider auch nur wenig Hoffnung, daß die Aufforderung, die inmitten des Mosaiks dessen beide Teile miteinander verbindet, in der aktuellen Zeit und der näheren Zukunft beherzigt werden wird[3]Im Original: „Let the world be nuclear-free!“:

Laßt die Welt atomwaffenfrei sein!

Für uns ist es nun an der Zeit, den Rückweg in Richtung Fährterminal anzutreten, denn die Abfahrtszeit unseres Schiffes rückt langsam näher. Damit wir nicht denselben Weg zurückgehen müssen, den wir gekommen sind, biegen wir, als wir den Britomart Place wieder erreichen, in diesen ein, zur Kenntnis nehmend, daß der Name für uns als Deutsche, die wir Place wegen der klanglichen Ähnlichkeit zuerst mit Platz übersetzen, etwas irreführend ist, handelt es sich doch keineswegs um einen Platz, sondern um eine Straße. Wäre es einer, spräche man hier wohl eher vom Britomart Square. Um jedoch nicht zu weit von dem Weg zu unserem Ziel, dem Fährterminal, abzukommen, nehmen wir bereits die nächste Querstraße, die wir nun in Richtung Queen Street entlangwandern. Viel Erinnernswertes bekomme ich hier allerdings nicht zu sehen. Die Tyler Street ist lediglich eine schmale Straße, die zwischen vergleichsweise gesichtslosen Häusern entlangführt, bis sie schließlich am Britomart Transport Centre auf die Queen Street trifft. Das gibt uns noch einmal Gelegenheit, sowohl dessen rückwärtigen Glaspavillon als auch sein an der Queen Street gelegenes Empfangsgebäude, das einstige Hauptpostamt der Stadt, zu betrachten.

Gegenüber dem altehrwürdigen Gebäude, das ebenso wie das Ferry Building im Stil des Edwardianischen Barocks gestaltet ist, liegt auf der anderen Seite der Queen Street ein kleiner Platz. Um ihn zu erreichen, müssen wir den Busbahnhof, zu dem die westliche Straßenseite umfunktioniert worden ist, durchqueren. Eigentlich ist es einfach eine lange Abfolge von Haltestellen, die zwischen Quay Street und Customs Street West aneinandergereiht und mit einem auf Stützen ruhenden Dach versehen sind, das die Wartenden vor möglicherweise vom Himmel herniederstürzenden Wasser schützt. Der besagte kleine Platz, von dem ich nicht einmal weiß, ob er überhaupt einen Namen besitzt, ist zwischen zwei Hochhäusern gelegen und an sich nicht sonderlich spektakulär. Mein Interesse weckt lediglich ein kleiner Brunnen in seiner Mitte, der aus zwei großen, übereinandergelegten Steinen dunkelbrauner Färbung besteht, in die kunstvolle Schnörkel und Ornamente eingemeißelt sind. Während am oberen Ende der beiden Steine unaufhörlich Wasser austritt, an ihnen herunterrinnt und sich in ein kleines, quadratisches Becken mit vielleicht eineinhalb Metern Seitenlänge ergießt, ist das eigentlich Interessante das, was sich nur gelegentlich ereignet. An der Spitze des oberen Steins flammt in unregelmäßigen Abständen immer wieder ein kleines Feuer auf, brennt für ein paar Augenblicke und erlischt dann wieder. Ob ihm der Brennstoff immer wieder entzogen wird oder ob das Wasser es nach kurzer Dauer wieder löscht, kann ich, der ich lediglich zu ihm hinaufschauen kann, nicht ergründen. Letztlich spielt es aber auch keine Rolle. Mich fasziniert die diesem Brunnen innewohnende Koexistenz der beiden gegensätzlichen „Elemente“ Feuer und Wasser. Beiden gemein ist, daß es für uns Menschen stets ein Quell der Ruhe ist, ihrer steten, sich beständig ändernden Bewegung zuzusehen und den sanften Geräuschen, die sie begleiten – das Rauschen der Wellen oder das Tröpfeln und Wispern rinnenden Wassers ebenso wie das Knistern und Prasseln von Flammen – zu lauschen. In diesem überaus interessanten und ästhetisch schönen Kunstwerk sind beide Elemente harmonisch miteinander vereint.

Der Brunnen mit Feuer und Wasser in Auckland
Der Feuer-und-Wasser-Brunnen an der Queen Street in Auckland, direkt gegenüber dem Empfangsgebäude des Britomart Transport Centres.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Nachdem wir dem Brunnen eine Zeitlang fasziniert zugesehen haben, ist es jedoch Zeit, uns zum Fährterminal zu begeben. Denn schließlich wollen wir die Fähre, die uns dem eigentlichen Ziel des heutigen Tages näherbringen soll, keineswegs verpassen.

Und so stehen wir wenig später auf der Plattform, von der aus wir auf das Schiff gelangen und die hier Gate heißt, genau wie an einem Flughafen, was aber auch ganz passend ist, wenn man bedenkt, daß es in der Fliegerei auch Luftschiffe gibt. Die Anzeigetafel am Gate 2B kündigt unsere Fähre bereits an: Rangitoto Island. Die Vulkaninsel.

Nachdem wir diese markante grüne Insel mit dem weithin erkennbaren Berg in den vergangenen Tagen immer wieder vor Augen gehabt haben, wollen wir sie uns nun endlich einmal genauer ansehen. Es liegt in der Natur der Sache, daß der einzige Weg dorthin ein Schiff erfordert. Glücklicherweise ist das aber kein Problem, denn die Fähren des Unternehmens Fullers Ferry bringen regelmäßig jeden, der dorthin will, hinüber. Und natürlich auch wieder zurück. Die Tickets haben wir schnell erstanden, und nun warten wir, daß wir unsere Fähre betreten können.

Das ist wenig später der Fall. Wieder verzichten wir darauf, uns Plätze zu suchen, auch wenn die Fahrt aufgrund der größeren Entfernung etwas länger dauern wird als unsere kurze Überfahrt nach Devonport drei Tage zuvor. Allerdings auch nicht zu lange, wie wir dem Fahrplan entnehmen können. Eine knappe halbe Stunde, dann werden wir da sein. Ausreichend Gelegenheit, um vom Heck des Schiffes erneut den Ausblick über den Waitematā Harbour und auf die Innenstadt zu genießen.

Als sich unsere Fähre in Bewegung setzt, ziehen sich das Ferry Building und mit ihm die Hochhäuser des Central Business Districts langsam zurück. Als wir den Bereich der Piere verlassen und die offene Wasserfläche des Naturhafens erreicht haben, beschleunigt unsere Fähre und wir ziehen wieder eine breite Spur aufgewühlten Wassers hinter uns her. Wir passieren den Queens Wharf und können nun das riesige Kreuzfahrtschiff Crystal Serenity aus nächster Nähe bewundern. Ihm folgt ein großes Transportschiff der norwegisch-schwedischen Reederei Wallenius Wilhelmsen Lines, das am Bledisloe Wharf vor Anker liegt und genau wie wir weit weg von zu Hause ist.

Kreuzfahrtschiff am Queens Wharf in Auckland
Queens Wharf mit Kreuzfahrtschiff und die Hochhäuser des Central Business Districts – vom Deck einer Fähre auf der weiten Fläche des Waitematā Harbours ist Aucklands Waterfront immer wieder ein faszinierender Anblick.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Der Blick auf die Skyline der Innenstadt ist genauso atemberaubend wie drei Tage zuvor, als wir nach Devonport unterwegs waren. Der Unterschied ist allerdings, daß der Himmel dieses Mal nicht strahlend blau ist und auch keine weißen Wolkentupfer zu sehen sind. Über der heute weniger blau- als grau-grünen Wasserfläche dräuen dichte Wolken, die so dicht gepackt sind, daß wir lediglich ihre Unterseiten sehen können. Sie schweben so tief über uns, daß es scheint, als würde die Spitze des Sky Towers sie jeden Augenblick aufreißen können. Einige von ihnen künden mit ihrem tiefdunklen Grau von der Schwere der Regenfluten, die sie in ihrem Inneren tragen. Die Bereitschaft, sie jeden Moment über das Land zu verteilen, ist ihnen förmlich anzusehen. Glücklicherweise für uns halten sie sich bisher aber noch zurück und beschränken sich darauf, einfach nur beeindruckend und – je nach Gemüt – auch ein wenig bedrohlich auszusehen.

Die Skyline Aucklands vom Waitematā Harbour aus gesehen
Dunkel dräuen die Wolken über dem Waitematā Harbour…
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Trotz der dunklen Wolken ist der Wind vergleichsweise mild und die Wasserfläche dementsprechend ruhig, wenn auch sehr gekräuselt. An uns gleiten andere Fähren sowie zahlreiche Segelboote vorüber. Devonport, die Stadt der Victoria, und der hinter ihr sich erhebende Mount Victoria ziehen im Norden an uns vorüber, und als der North Head hinter uns liegt, hat unser Schiff den Waitematā Harbour verlassen und durchschneidet nun die Fluten des Hauraki-Golfs.

Wenn man es genau nimmt, war das eigentlich von Beginn unserer Fahrt an der Fall, denn der Hauraki-Golf ist eine große Bucht im Nordwesten der Nordinsel Neuseelands, in die zahlreiche Landzungen einschneiden, so daß sie wiederum aus kleineren und größeren Buchten und insbesondere Naturhäfen zusammengesetzt ist, von denen der Waitematā Harbour einer ist. Der Name Hauraki entstammt der Sprache der Māori. Und auch wenn er vergleichsweise kurz ist, setzt er sich doch aus zwei Wörtern zusammen: zum einen hau, was Wind bedeutet, zum anderen raki, das Māori-Wort für Norden. Hauraki ist demzufolge mit „Nordwind“ zu übersetzen. Doch gibt es bei den Māori noch einen zweiten Namen für den Golf: Tīkapa Moana, dessen Bedeutung sich am ehesten mit „schwermütiges Meer“ wiedergeben läßt. Doch ob schwermütig oder vom Nordwind in Wallung gebracht – die Wasser, über die unsere Fähre nun dahingleitet, sind ein Teil des Pazifiks.

Fähre auf dem Waitematā Harbour
Fähren wie die „Superflyte“ bestreiten den Personenfährverkehr auf dem Waitematā Harbour. Mit einer von ihnen sind wir nach Rangitoto Island unterwegs.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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In südöstlicher Richtung gewahre ich inmitten des Golfs eine kleine, nahezu kahle Insel, die nur in der Nähe ihrer Ufer ein paar Bäume aufweist, deren dunkles Grün sich von dem hellen des mit Gras bewachsenen Landes deutlich abhebt. Dieses steigt vom südlichen Ende des Eilands allmählich zu einem kleinen Hügel an, der im Norden unvermittelt zum Meer hin abfällt. Es ist natürlich überhaupt keine Überraschung mehr für mich, daß dieser 68 Meter hohe Hügel zu den Vulkanen des Auckland Volcanic Fields gehört. Aufgrund seiner Insellage gehört er zu den besterhaltenen dieser einst feuerspeienden, doch nun ruhenden Erhebungen. Weil sich im Westen der Insel Muschelbänke ins Meer ziehen, bezeichnen die Māori sie als Motukorea – Austernfischerinsel -, denn sie betrieben hier, lange bevor die Europäer eintrafen, eben jenes Gewerbe. Der englische Name des Eilands ist ungleich prosaischer: Browns Island. Er geht auf William Brown zurück, der gemeinsam mit John Logan Campbell ab 1840 auf der Insel siedelte, was diese zu einer der frühesten europäischen Siedlungen im Gebiet Aucklands macht. Heute lebt jedoch niemand mehr auf Motukorea. Daher gibt es auch keine Fährverbindung und man gelangt nur dorthin, wenn man mit dem eigenen Boot über den Golf schippert oder jemandem auftreibt, der ein solches Gefährt besitzt und gewillt ist, einen dorthin zu bringen. An Geologie Interessierte mögen es vielleicht noch interessant finden, daß man im Jahre 1977 auf Motukorea ein Mineral entdeckte, das bis dahin völlig unbekannt war. Es nach seinem Fundort zu benennen, lag nahe, und so kam das Motukoreait zu seinem etwas schwierig auszusprechenden Namen.

Als ich den Blick schließlich von Browns Island abwende und nach vorn in Richtung Rangitoto Island schaue, stelle ich zu meiner Überraschung fest, daß uns die große grüne Insel, das Ziel unserer Fahrt, bereits sehr nahe gerückt ist. Just in diesem Augenblick verlangsamt unser Schiff seine Fahrt und steuert auf einen langen Steg zu. Weit ragt er vom Inselufer in den Hauraki-Golf hinaus und knickt erst an seinem Ende im rechten Winkel ab, um in einer breiten Plattform zu enden. Diese ist ringsum von dicken Holzpfeilern umgeben, an denen die anlegenden Schiffe festmachen können. Es vergehen nur noch wenige Minuten, dann liegt unsere Fähre längsseits und ist an einem der Pfähle sicher vertäut. Zeit, von Bord zu gehen.

Kurz darauf stehen wir auf dem massiven Betonboden der Plattform und werfen einen letzten Blick zurück auf die Fähre. In rund dreieinhalb Stunden wird sie uns an dieser Stelle wieder abholen. Vorsichtshalber schaue ich auf mein Mobiltelefon, um den Ladestand des Akkus zu überprüfen. Schließlich möchte ich während unseres Aufenthalts hier die Uhrzeit genauestens im Auge behalten können, denn die Abfahrt der Fähre sollten wir keinesfalls verpassen. Andernfalls würden wir die Nacht auf der Insel verbringen müssen…

Wir machen uns auf den Weg. Gut einhundert Meter ist der Rangitoto Wharf, so der Name des Stegs, lang und etwas mehr als einen Meter breit. Durchgehend betoniert und auf Pfeilern aus demselben Material ruhend, macht er einen sehr soliden Eindruck. Links und rechts hält ein Geländer, bestehend aus jeweils einer durchgehenden Metallstange, die auf Pfosten aus demselben Material ruht, die auf ihm Wandelnden davon ab, ins Wasser zu fallen. Und damit auch niemand unter den Stangen durchrutsche, hat man in dem Raum zwischen ihnen und dem Boden des Stegs Drahtseile gespannt. Das dürfte auch die unsicherste Landratte vor jeglichem Wasserschaden bewahren.

Am Fähranleger von Rangitoto Island
Rangitoto Island heißt uns willkommen. Sein markanter Berg, der sich hier noch dezent im Hintergrund hält, ist unser nächstes Ziel.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Der Steg wurde erst im Jahr vor unserem Besuch hier eröffnet. Zuvor konnten die die Insel ansteuernden Schiffe lediglich an einem alte Holzkai festmachen, der noch aus dem Jahr 1958 stammte. Für einen Steg, der tagtäglich den Wassern und Wettern des Hauraki-Golfs ausgesetzt ist, hatte er damit ein recht stattliches Alter erreicht. So verwundert es nicht, daß seine Unterhaltung eine immerwährende Wartung erforderte, die mit der Zeit doch recht kostspielig war. Als zudem klar wurde, daß infolge der immerfort steigenden Besucherzahlen größere Schiffe eingesetzt werden mußten, die jedoch nicht in der Lage waren, an dem alten hölzernen Kai festzumachen, entschloß man sich schließlich zu dem Neubau, auf dem wir nun unterwegs sind.

Wir genießen für einen kurzen Moment den ersten Blick auf die Insel aus allernächster Nähe, dann folgen wir zügig dem Steg zu ihrem Ufer. Wir haben es fast erreicht, da halte ich kurz inne. Was ich sehe, fasziniert mich. Anstelle eines Sandstrandes blicke ich auf pechschwarze Klippen, die von den Wellen des Hauraki-Golfs umspült werden. Kein Zweifel – das ist Vulkangestein. Weiter hinten verschwindet es unter dem üppigen Grün der Vegetation, die die Insel so reichhaltig bedeckt und es verbirgt, doch hier, direkt am Ufer, tritt es ungeschminkt zu Tage. Ein ungewöhnlicher Anblick.

Dort, wo der Rangitoto Wharf auf die Insel trifft, ragen zu seinen beiden Seiten zwei runde, dunkle, hölzerne Pfosten auf, deren obere Enden in Schnitzereien enden, die auf mich den Eindruck kunstvoller Masken machen. Etwas unterhalb dieser Schnitzkunstwerke ist an den Pfosten eine Querstrebe befestigt, die den Steg überspannt. Sie besteht jedoch nicht aus einem einzigen Stück, sondern ist aus zwei Brettern zusammengesetzt, die in einem etwa Vierzig-Grad-Winkel aufwärts führen und sich an ihrem höchsten Punkt direkt über der Mitte des Stegs treffen, so daß eine Art Tor entsteht, das allerdings gänzlich ohne Türflügel auskommen muß. Die Nahtstelle zwischen den beiden Brettern wird von einer weiteren geschnitzten Maske kaschiert. Diese und die beiden anderen sind ebenso wie die Pfosten in Schwarz gehalten, während die Bretter des Torbogens in kräftigem Rot leuchten. Auch sie weisen über ihre gesamte Länge führende und als Bänder gestaltete Schnitzereien auf, die sich durch ihre ebenfalls schwarze Farbe von ihrem roten Untergrund abheben. Mit dem Durchqueren dieses Waharoa beziehungsweise Tors, das von Reuben Kirkwood, einem Schnitzer aus dem Stamm der Ngāi Tai ki Tāmaki, geschaffen wurde, verlassen wir den Rangitoto Wharf und betreten die Insel.

Der Rangitoto Wharf auf Rangitoto Island
Dieses Waharoa beziehungsweise Tor bildet das Ende des Rangitoto Wharfs und stellt gewissermaßen den Eingang zu Rangitoto Island dar.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Natürlich sind wir nicht auf die Insel gekommen, um uns einfach nur so mal ein wenig umzuschauen. Vielmehr haben wir uns einen ungefähren Plan für unseren Besuch hier zurechtgelegt, den wir nun sogleich in Angriff nehmen. Unser Ziel ist – wie sollte es auch anders sein – der Vulkan, der sich in Luftlinie nicht ganz zweieinhalb Kilometer entfernt von unserem jetzigen Standort befindet. Beziehen wir in unsere Schätzung mit ein, daß der Weg aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in direkter gerader Linie dorthin führen wird und wir an seinem Ende auch noch den Berg erklimmen müssen, gehen wir optimistisch davon aus, daß wir in etwa einer Dreiviertelstunde von seinem Gipfel auf die Umgegend der Insel hinabblicken werden.

Gesagt, getan. Das Wetter ist für eine Wanderung bestens geeignet. Der Himmel ist nach wie vor weitestgehend von dichten Wolken bedeckt, die nur manchmal die Sonne hindurchlassen. Dennoch ist es angenehm warm. Ich schätze die Temperatur auf irgendetwas zwischen dreiundzwanzig und fünfundzwanzig Grad. Ein leichter Wind streicht über uns hinweg und verbreitet so eine angenehme Atmosphäre, in der wir nun entspannt die ersten Schritte auf der Insel wagen. Diese führen uns zunächst einen breiten Uferweg entlang in eine kleine Bucht hinein. Der Boden sieht dabei so aus, als wäre er zwar nicht befestigt, aber doch planiert und so verdichtet worden, um einen möglichst ebenen Untergrund abzugeben, auf dem man gegebenenfalls auch bequem fahren könnte. Während links von uns das Gelände etwas ansteigt, einige Felsen flach aus ihm herausragen und Bäume uns die Sicht auf das Innere der Insel versperren, wird unser Weg auf der rechten Seite von einer etwa dreißig Zentimeter hohen Mauer eingefaßt, hinter der sich die Wasserfläche der Bucht erstreckt. Ein zwischen zwei niedrigen Pfosten aufgehängtes grünes Schild verkündet uns in leuchtend gelben Lettern, daß wir hier im Rangitoto Island Scenic Reserve – dem Landschaftsschutzgebiet der Insel Rangitoto – herzlich willkommen sind.

Unser Weg folgt den Krümmungen und Biegungen des Ufers, von dem er sich kaum einmal entfernt, und wenn doch, dann nur, um einigen Bäumen ein wenig Platz zu machen, die die Nähe des Wassers suchen, oder um einem Rastplatz Raum zu gewähren. Zweimal führen kleinere Wege rechts ins Inselinnere hinein, deren Ziel jedoch nicht besonders ausgewiesen ist, so daß wir sie ignorieren. Als wir das Ende der kleinen Bucht erreicht haben, stoßen wir schließlich auf einen dritten Abzweig. Islington Bay – Islington-Bucht – steht auf einem kleinen Schild, das ebenso gestaltet ist wie die Willkommenstafel zuvor. Ein Pfeil deutet an, daß wir zum Erreichen der Bucht einfach der Uferstraße folgen sollen. Da das allerdings nicht unserer Absicht, mit der wir auf die Insel gekommen sind, entspricht, schenken wir lieber dem anderen Eintrag Beachtung: Rangitoto Summit – Rangitoto-Gipfel – ist dort zu lesen und der zugehörige Pfeil zeigt unmißverständlich auf den abzweigenden Weg.

Es sind nur einige wenige Schritte, die ich auf ihm unternommen habe, als mir bereits einige entscheidende Veränderungen auffallen. Da wäre zunächst einmal die Beschaffenheit des Weges. Waren wir zuvor auf einer breiten Uferstraße unterwegs, wandern wir nun auf einem weitaus schmaleren Weg. Und auch wenn er durchaus bequem zu gehen ist, läßt er die Beschaffenheit des Inselbodens viel unmittelbarer zutagetreten, als das zuvor der Fall gewesen war. So ist der vulkanische Ursprung des Geländes, durch das wir uns bewegen, nun kaum mehr zu übersehen, weist doch allein die fast schwarze Färbung des Untergrunds bereits überdeutlich darauf hin. Doch auch die Witterung scheint sich nun, da wir die Bucht verlassen haben und mit jedem Schritt weiter ins Inselinnere vordringen, irgendwie verändert zu haben. Das angenehme Lüftchen, das uns am Meeresufer noch umweht hatte, ist jetzt vollständig verschwunden. Und obwohl sich die Temperatur vermutlich nicht verändert hat, kommt es mir mit einem Mal so vor, als sei es um einige Grad wärmer geworden. So sehr, daß das Wandern, wenn auch nicht beschwerlich, so doch auf eine gewisse Weise durchaus anstrengender geworden ist. Doch davon lasse ich mich nicht abhalten.

Vielmehr betrachte ich neugierig die Umgebung, die wir nun durchwandern. Sie wird in erster Linie durch Bäume geprägt, die mich in ihrer Form eher an Büsche erinnern, die allerdings übergroß gewachsen sind. Das liegt vor allem daran, daß sie nicht so recht dem Bild entsprechen, daß ich von ihren europäischen Vettern gewohnt bin, die in der Regel über einen markanten Stamm verfügen, aus dem erst in einer gewissen Höhe Zweige ausgebildet werden, um eine Baumkrone zu formen. Demgegenüber wirken die Bäume, die sich hier rings um mich herum befinden, eher so, als besäßen sie entweder mehrere Stämme oder verzweigten sich bereits direkt über dem Boden. Ihre Höhe ist nichtsdestoweniger beachtlich. Dafür sind die Blätter vergleichsweise klein. Das hat zur Folge, daß das Laubwerk vergleichsweise licht wirkt und die Sonnenstrahlen, so es ihnen einmal gelingt, durch die den Himmel nach wie vor bedeckenden Wolken zu brechen, ohne größere Probleme bis zum Boden gelangen können. Die Schattenwirkung der Bäume ist daher geringer als beispielsweise die einer voll belaubten heimischen Eiche oder Buche, was in mir eine gewisse Dankbarkeit für die Wolkendecke aufkommen läßt.

Leider habe ich, während ich zwischen und unter diesen Bäumen der Inselmitte entgegenwandere, keine rechte Ahnung, welcher Art diese sind. Erst später werde ich herausfinden, daß die Māori ihnen den Namen Pōhutukawa gegeben haben, während sie bei uns als Neuseeländischer Weihnachtsbaum bekannt sind, was für einen immergrünen Laubbaum ein etwas ungewöhnlicher Name ist, der sich allerdings dadurch erklärt, daß die Pflanze um die Weihnachtszeit herum, wenn in Neuseeland Sommer ist, puschelige, leuchtend rote Blütenstände ausbildet. Tatsächlich bin ich hier im größten Pōhutukawa-Wald der Welt unterwegs, ein Superlativ, der jedoch eher Bezug auf die Vielzahl der Exemplare Bezug nimmt als auf die Charakteristik einer dicht mit Bäumen bestandenen, in tiefe Schatten getauchten Landschaft, die ich normalerweise mit einem Wald verbinde. Allerdings kann es durchaus sein, daß dieser Wald diese Eigenschaften in zukünftiger Zeit noch entwickelt, ist er doch, genau wie die ganze Insel, noch relativ jung. Und so sind auch die Bäume noch weit davon entfernt, ihr mögliches Alter von mehr als eintausend Jahren erreicht zu haben. Der älteste Pōhutukawa-Baum in Neuseeland befindet sich auf der Nordinsel in der Nähe des East Cape und soll ungefähr sechshundert Jahre alt sein. Fotografischen Aufnahmen nach zu urteilen verfügt er durchaus über eine dichte, ausladende Baumkrone, die reichlich Schatten spendet.

Daß es die Vegetation der Insel, die es mittlerweile auf mehr als zweihundert Baum- und Blumen- sowie mehr als vierzig Farnarten bringt, nicht gerade leicht hat, erschließt sich mir das erste Mal bereits nach wenigen Metern, die wir auf dem Weg ins Inselinnere unterwegs sind. Unvermittelt tritt rechterhand die Vegetation vom Wegesrand zurück und öffnet den Raum für ein kleines Feld, das mich aufgrund der überaus dunklen Färbung des Bodens beim ersten flüchtigen Blick darauf an einen umgepflügten Acker denken läßt. Als ich jedoch genauer hinschaue, stelle ich fest, daß ich es hier keineswegs mit aufgebrochener Erde zu tun habe, sondern vielmehr pures Lavageröll vor mir sehe. Angesichts der völligen Abwesenheit jeglicher Pflanzen wirkt dessen Schwärze absolut lebensfeindlich und bildet so einen scharfen Kontrast zu der üppigen Lebendigkeit des Grüns der sie umgebenden Vegetation. Nichts, gar nichts scheint hier gedeihen zu können. Und doch ist das unverwüstliche pflanzliche Leben gerade dabei, auch dieses Areal zu erobern. An den Rändern des Lavafeldes scheinen sich kleine Ranken und Zweige der umstehenden Bäume und Sträucher unverzagt vorzutasten, ragen hier und da bereits mit einigen grünen Blättern besetzte Zweige zwischen den Geröllbrocken hervor und sprengen sie im Zusammenwirken mit den Elementen der Witterung – Regenwasser, Wind und die Wärme der Sonne – Stück für Stück und sehr geduldig auf, so daß sich das Geröll nach und nach in kleinteiligere Fragmente verwandelt und von den Pflanzen mit der Zeit in Besitz genommen werden kann. Auf diese Weise hat die grüne Vegetation bereits den größten Teil der Insel in Beschlag genommen und begonnen, den bereits erwähnten Wald auszubilden. So wirken die Lavafelder, an denen wir auf unserem weiteren Weg zu dessen beiden Seiten immer wieder vorüberkommen und die mal so klein wie dieses erste, mal weitaus größer und damit hinsichtlich der Ödnis, die sie darstellen, unglaublich beeindruckend sind, wie letzte, vage Erinnerungen an den Ursprung der Insel.

Lavafeld auf Rangitoto Island
Lavafelder wie dieses sind in den äußeren Bereichen Rangitoto Islands allgegenwärtig. Die lebensfeindliche Schwärze des Gerölls bildet einen scharfen Kontrast zu der üppigen Lebendigkeit des Grüns der umgebenden Vegetation, die die Insel zum überwiegenden Teil erfolgreich erobert hat.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Daß dieser in vulkanischer Aktivität liegt, ist angesichts des deutlich ausgeprägten Vulkankegels in der Mitte der Insel offensichtlich. Weniger ins Auge fällt allerdings die Tatsache, daß das inmitten des Hauraki-Golfs gelegene Rangitoto Island noch gar nicht so alt ist. Wenn wir über die Entstehung von Landschaften, die wir besuchen und betrachten, nachdenken, gehen wir meist davon aus, daß diese in Zeiträumen stattgefunden hat, die so weit zurückliegen, daß wir sie uns kaum vorstellen können. Die fast kreisrunde Insel, deren Durchmesser zwischen fünf und sechs Kilometern liegt, entstand jedoch erst vor etwa sechs- bis siebenhundert Jahren. Ein Zeitraum also, als die Geschichte der menschlichen Zivilisation nicht nur bereits in vollem Gange war, sondern als auch bereits Menschen in dieser Region der Welt siedelten. Man nimmt heute an, daß der Vulkan Rangitoto in zwei Phasen mehrfach ausgebrochen ist, die sich wahrscheinlich über einen Zeitraum von nur fünf bis zehn Jahren erstreckten und in deren Zuge die Lavaströme die Insel formten. Weil allein etwa sechzig Prozent des von allen Vulkanen des Auckland Volcanic Fields ausgeworfenen Materials auf das Konto des Rangitoto gehen, ist dieser nicht nur der jüngste, sondern auch der größte Vulkan des Vulkanfeldes. Das ist auch mit bloßem Auge zu erkennen, wenn man ihn mit seinen Geschwistern vergleicht. Ihnen gegenüber ist seine Höhe von 260 Metern geradezu außerordentlich zu nennen.

Unser Weg führt uns weiter und weiter in die Insel hinein. Wir passieren weitere Lavafelder, die zunächst lediglich links oder rechts des Wegs auftauchen, bis wir schließlich eines erreichen, daß wir geradewegs überqueren müssen. Glücklicherweise ist der Pfad, auf dem wir unterwegs sind, gut ausgetreten, so daß sich für uns dabei keine große Schwierigkeiten ergeben und wir uns auch kaum darüber unsicher sein können, wo wir entlanggehen müssen. Dort, wo die Lavafelder dichter aufeinanderfolgen, nimmt die Höhe der Vegetation entsprechend ab. Offenbar ist in diesem Bereich der Eroberungsfeldzug der Vegetation noch nicht so weit vorangeschritten wie zu Beginn dieses Wegs. Das eröffnet uns allerdings die Möglichkeit weitreichender Ausblicke über die Insel. In der Ferne sehen wir immer wieder den Vulkankegel des Rangitoto vor uns, dem wir uns mit jedem Schritt nähern, auch wenn das aufgrund der zahlreichen Windungen des Weges zunächst gar nicht so sehr auffällt.

Nur sehr vereinzelt begegnen uns Wanderer, die in der entgegengesetzten Richtung unterwegs sind. Respektvoll machen wir einander Platz, denn der Weg ist inzwischen schmaler geworden. Aufgrund der hier nicht allzu hoch aufragenden Vegetation und der immer wieder auftretenden Geröllbrachen der Lavafelder haben wir stets ein gutes Stück des Wegs voraus im Blick und können, wenn wir uns umdrehen, auch einen gehörigen Abschnitt der zurückgelegten Strecke überblicken. Dabei fällt mir auf, daß ich so gut wie nie andere Personen entdecken kann, die in dieselbe Richtung wie wir unterwegs sind. Mir drängt sich die Frage auf, wo eigentlich die ganzen Leute abgeblieben sind, die mit uns gemeinsam die Fähre verlassen haben. Doch weil ich darauf keine Antwort weiß, halte ich mich nicht allzu lange damit auf und wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Weg und der Landschaft zu.

Diese hat ihr Antlitz nun schon eine ganze Weile nicht mehr verändert. Noch immer wechseln sich Areale dichter Vegetation, die hier aus buschhohen Pflanzen mir unbekannter Arten besteht und nur vereinzelt mit Bäumen durchsetzt ist, mit tiefschwarzen Lavafeldern ab. Das Gelände gewinnt hier kaum an Höhe, und wo es das doch einmal tut, ist es fast nicht merkbar. Als wir eine dieser Stellen erreichen, registrieren wir den Höhenunterschied eigentlich nur wegen der acht Stufen, die man hier in den Weg eingelassen hat, die jedoch ausschließlich der Bequemlichkeit dienen. Zur Überwindung des Anstiegs notwendig wären sie nicht.

Wir sind nun bereits gute zwanzig bis dreißig Minuten auf dem Rangitoto Summit Track genannten Weg unterwegs, als sich der Charakter der Landschaft langsam zu ändern beginnt. Die Lavafelder hören nach und nach auf, dafür nimmt die Anzahl der Bäume wieder zu. Die Büsche rücken näher an den Weg heran und ich bemerke nun auch einige Gräser, die teils beachtlich Höhen erreichen. Glücklicherweise ist der Pfad nach wie vor recht frei und weiterhin bequem zu gehen, doch zu beiden Seiten haben wir nun dichte Vegetation neben uns, die jeden Ausblick wirksam verhindert und ein Abweichen vom Weg nahezu unmöglich macht.

Auf dem Weg zum Rangitoto
Je weiter man sich dem Rangitoto nähert, um so seltener werden die Lavafelder. Stattdessen verdichtet sich die Vegetation mehr und mehr und es treten Felsen links und rechts des Weges zutage.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als ich am Wegesrand die ersten Felsen bemerke, die aus dem Boden lugen und nach und nach größer und auch höher werden, weiß ich, daß wir dem in der Inselmitte aufragenden Berg nun schon recht nahe sind. Bestätigt werde ich in dieser Annahme auch durch die nun häufiger und vor allem merkbar werdenden Anstiege des Geländes.

Gerade als ich in Gedanken diese Feststellung mache, scheint es fast so, als wolle die Insel mir zeigen, wie wenig berechenbar sie ist. Denn als ich eine weitere Biegung des Weges hinter mir gelassen habe, gewahre ich unmittelbar vor mir ein weiteres Lavafeld und für einige Minuten sieht die Landschaft wieder aus wie zuvor.

Doch letztlich erweist sich dies nur als kurze Episode auf dem Weg zum großen Berg, denn bereits hinter einer weiteren Biegung kehren der dichte Bewuchs und die aus dem Boden ragenden Felsen zurück und ich muß nun wirklich aufpassen, wo ich meinen Fuß hinsetze, denn der Weg ist plötzlich gar nicht mehr so eben und ausgetreten wie noch kurz zuvor. Jetzt heißt es genau hinschauen, um sorgsam und sicher aufzutreten, haben sich doch die Felsen nun auch auf den Weg vorgewagt und Baumwurzeln trachten danach, des Wanderers Schritte zu hemmen und ihn zu Fall zu bringen.

Wieder hat man Stufen in den Boden eingelassen, um steilere Anstiege leichter begehbar zu machen. Doch weil diese Stufen aus natürlichen Steinen bestehen, die man zurechtgehauen und mit irgendeiner Masse zusammengefügt hat, ist es auch hier wichtig, gut aufzupassen, wo man hintritt, denn Witterung und Erosion verrichten unablässig ihr Werk und sorgen für jede Menge Unebenheiten und kleines Geröll, das sich auf den Stufen abgelagert hat. Wer hier unachtsam ist und unpassendes Schuhwerk trägt, hat gute Chancen, unversehens der Länge nach hinzuschlagen.

Schließlich erreichen wir wieder eine Weggabelung. Ein weiteres der grünen Schilder heißt uns, die rechte Abzweigung zu nehmen, was wir bereitwillig tun. Erneut passieren wir Areale schwarzen Lavagerölls, die jedoch längst nicht mehr die Ausdehnung der früheren Lavafelder erreichen. Es handelt sich lediglich um kleine Brachen, die uns jedoch nun, da wir bereits eine gewisse Höhe gewonnen haben, hier und da erste Fernblicke über die Insel gewähren, für die wir uns allerdings umdrehen müssen, da vor uns das Gelände weiter ansteigt. Immerhin sind wir dem Berg in der Mitte der Insel nun schon sehr nah. Hinter uns jedoch schweift unser Blick über die Insel und die Wasserfläche des Hauraki-Golfs, hinter der wir in der Ferne die Innenstadt von Auckland erkennen können. Wir halten uns allerdings nicht lange damit auf zurückzublicken, drängt es uns doch vorwärts und hinauf auf den Gipfel des Rangitoto, von dem wir uns um ein Vielfaches spektakulärere Ausblicke erwarten.

Wieder geht es durch dichte Vegetation, über Stock, über Stein und über Stufen den gut erkennbaren Weg entlang, der nun wirklich deutlich merkbar bergauf führt. Ganz offensichtlich haben wir den Hang des Berges erreicht. Und hier gewahre ich zum ersten Mal, seit wir auf der Insel unterwegs sind, Bäume, die nach meinem Verständnis den Namen auch verdienen. Nahezu sofort scheint der Lavaboden verschwunden zu sein. Er hat einem typischen Waldboden Platz gemacht, der von jeder Menge trockener Blätter, kleiner Holz- und Rindenstückchen und Erde bedeckt ist. Und auch der für einen Wald charakteristische Schatten hat sich zu guter Letzt eingestellt. Nur daß es hier in irgendeiner Weise kühler ist, kann ich nicht feststellen. Vielleicht liegt es ja nur an der Anstrengung des bisherigen Aufstiegs, aber mir ist recht warm. Daß dies jedoch noch gar nichts ist im Vergleich mit dem, was noch folgen sollte, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich bin gerade damit beschäftigt, ein weiteres der grünen Hinweisschilder zu studieren, das sich dort befindet, wo unser Weg sich mit zwei anderen trifft. Es bestätigt mir, was ich angesichts des Blickes auf die Uhr meines Mobiltelefons bereits weiß, nämlich daß wir uns bei der Zeit, die wir für den Weg zum Gipfel benötigen würden, etwas verschätzt haben. Die Entfernungen sind hier nämlich nicht in Metern angegeben, sondern mittels Zeitangaben. Und für den eben von uns zurückgelegten Weg vom Rangitoto Wharf hierher gibt das Schild eben jene fünfundvierzig Minuten an, die wir in etwa auch benötigt haben. Der Weg hinauf zum Gipfel wird mit weiteren fünfzehn Minuten beziffert. Und weil wir angesichts der feststehenden Abfahrtszeit der Fähre, die uns später nach Auckland zurückbringen soll, keine einzige Minute zu verlieren haben, machen wir uns unverzüglich daran, den letzten Abschnitt unseres Aufstiegs in Angriff zu nehmen.

Als ich mittels meines Mobiltelefons auf die Karte der Insel schaue, erkenne ich schnell, daß der Weg hinauf zum Gipfel von hier aus gerade einmal wenig mehr als 400 Meter lang ist. Dafür fünfzehn Minuten zu veranschlagen, scheint mir doch ein wenig übervorsichtig zu sein. Wie langsam soll man denn da unterwegs sein?

Nun, ich erfahre es am eigenen Leib schon nach wenigen Metern. Gleich zu Beginn des Wegs hat man ihn mit Stufen versehen, die helfen sollen, die Steigung leichter zu überwinden. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch recht optimistisch bin, die paar Meter ohne Schwierigkeiten zurücklegen zu können, wundere ich mich etwas über diese Maßnahme, denn so stark scheint mir der Anstieg eigentlich nicht zu sein, daß es hier Stufen bedurft hätte, um ihn begehbar zu machen. Und wenn man es genau nimmt, sind es auch nicht wirklich Stufen, sondern lediglich schmale Trittleisten, die man in den Boden gesetzt hat, um zu verhindern, daß er einfach eine Schräge bildet, denn zwischen diesen Leisten befindet sich ganz normaler Waldboden wie überall sonst auch. Als wir diese Treppen hinter uns haben, wandern wir auf einem Waldweg weiter, der einen reichlichen Meter breit ist und sich wieder recht bequem gehen läßt. Doch was so harmlos aussieht, ist es nicht, denn es geht nun wirklich unablässig bergauf. Zwar ist der Anstieg nicht übermäßig steil, dafür aber von strikter Kontinuität, so daß man, um vom Bergauf-Gehen einmal Pause zu haben, stehenbleiben muß. Das allein wäre sicher gar kein Problem, nicht einmal für einen ungeübten Wanderer, denn lang ist der Weg, wie bereits gesagt, nicht. Auch geht er zunächst einfach geradeaus, bevor er eine weite Kurve nach rechts absolviert. Was ihn mich jedoch bereits nach kurzer Zeit als recht anstrengend empfinden läßt, sind zwei Dinge. Zum einen ist die Atmosphäre hier im Wald aus irgendeinem Grund ausgesprochen unangenehm. Hatte es auf dem Weg hierher zwar keinen Wind mehr, so doch aber immerhin ab und an ein ganz leises Lüftchen gegeben, war nun auf einmal damit gänzlich Schluß. Die Luft, so mein Eindruck, steht förmlich um mich herum. Auch scheint es in diesem Wald nach meinem Empfinden erneut irgendwie wärmer geworden zu sein als vorher. Vielleicht ist die Temperatur auch dieselbe geblieben und es kommt mir nur so vor, als sei sie noch einmal gestiegen, weil ich wie bei jedem Wald erwartet hatte, daß es unter den Bäumen kühler sein würde, was ganz offensichtlich nicht der Fall ist. Doch wie dem auch sei, der andere Grund für mein Unbehagen ist mein schon seit dem Morgen eingeschränktes Wohlbefinden. Bisher hatte ich keine sonderlichen zusätzlichen Beschwerden empfunden, doch nun, da die körperliche Anstrengung durch den Weg bergauf noch einmal zugenommen hatte, fühle ich mich auf einmal etwas angeschlagen.

Doch weil ich mich davon nicht aufhalten lassen will, reiße ich mich zusammen, setze stur einen Fuß vor den anderen und steige langsam, aber stetig den Weg hinan. Als ich schließlich eine weitere Wegkreuzung erreiche, wähne ich mich schon am Ziel, doch ein weiteres der mir nun schon hinlänglich bekannten grünen Schilder weist mich darauf hin, daß die Stelle, die ich für den Rand des Gipfels hielt und die ich nun erreicht habe, lediglich der Rundweg um den Krater des Rangitoto ist. Wolle ich tatsächlich hinauf zum Gipfel – und das steht außer Frage -, müsse ich noch einmal etwa einhundert Meter zurücklegen. Natürlich bergauf. Da ich befürchte, daß eine Rast zu diesem Zeitpunkt meine Motivation, den Weg fortzusetzen, doch arg dämpfen würde, halte ich mich gar nicht lange auf und gehe weiter. Allerdings, und das merke ich sofort, hat der folgende und letzte Wegabschnitt mit Gehen eigentlich nichts, absolut gar nichts zu tun. Denn nahezu sofort finde ich mich im wahrsten Sinne des Wortes auf einem Holzweg wieder. Nur daß dieser hier ausschließlich aus Stufen besteht.

Zu Beginn ist die Steigung noch moderat, und so liegen die einzelnen Stufen teils rund einen Meter auseinander. Ein Umstand, der den Anstieg nicht unbedingt einfacher macht, habe ich doch nun immer ein bis zwei Schritte zu gehen, bevor ich die nächste Stufe nehmen muß. Als nach knapp fünfzig Metern die Abstände zwischen ihnen kürzer und kürzer zu werden beginnen, ist mir klar, worauf das hinausläuft. Und richtig: der letzte Abschnitt des Weges besteht aus einer Treppe. Immerhin mit Geländer, zuerst einseitig, dann auf jeder Seite. Nun sind die Stufen auch nicht mehr in den Boden eingelassen, sondern darübergebaut worden. Als ich endlich oben ankomme, bin ich, wie man so sagt, völlig durch. Mein T-Shirt kann ich quasi auswringen. Nun, darauf verzichte ich zwar, doch ich wechsle es wenigstens aus, denn ich mag es nicht sonderlich, in feuchten Klamotten herumzulaufen. Als ich auf die Uhr schaue, stelle ich fest, daß ich tatsächlich rund fünfzehn Minuten hier hinauf unterwegs war. Ganz offensichtlich hat man hier das Vermögen der üblichen Besucher – und damit auch meines -, den Berg zu ersteigen, recht gut eingeschätzt. Irgendwie komme ich mir angesichts meiner etwas großspurigen Gedanken zu Beginn des Weges etwas dumm vor. Da tröstet es mich auch nicht sonderlich, daß es nicht vierhundert, sondern fünfhundert Meter waren, auf die sich die Zeitangabe bezog.

Doch diese Gedanken sind schnell vergessen, als ich mich, nachdem ich mich etwas erholt habe, erst einmal umschaue. Das erste, was mir dabei ins Auge fällt, ist die Tatsache, daß, obwohl ich die Treppe hinter mir habe, der Weg weiterhin aus Holz besteht. Er bildet eine Art Steg, zusammengesetzt aus aneinandergereihten Holzbohlen und zu beiden Seiten mit einem massiven Geländer versehen. Am oberen Rand der Treppe, die ich hinaufgekommen bin, führt auf diese Weise der Weg geradeaus weiter, während sich gleich rechts ein weiterer solcher Steg anschließt, der jedoch nach wenigen Metern als Sackgasse endet. Er dient lediglich zum Erreichen eines Aussichtspunktes, den ich mir natürlich nicht entgehen lasse. Am Ende des Steges angekommen, kann ich den Blick über ein atemberaubendes Panorama schweifen lassen. Im Norden schaue ich direkt über den Hauraki-Golf, der linkerhand von der Küste der Nordinsel Neuseelands begrenzt wird. Nordöstlich liegt die Nachbarinsel Motutapu Island, von Rangitoto Island nur durch einen schmalen Kanal getrennt, der in die zwischen den beiden Inseln liegende Islington Bay mündet. Diese kann ich von hier aus genau im Osten sehen. Nun weiß ich auch, wohin uns die Uferstraße geführt hätte, auf der wir zu Beginn unseres Besuches auf Rangitoto Island unterwegs waren, wenn wir ihr weiter gefolgt wären. Was mich fasziniert, ist, daß im Gegensatz zu unserer Insel, die von hier oben dicht bewaldet erscheint und in einem satten Grün leuchtet, Motutapu Island nahezu baumlos ist. Tatsächlich gibt es dort fast nur Gras und Feuchtwiesen. Als ältere der beiden Inseln war Motutapu Island bereits rund einhundert Jahre vor dem Ausbruch des Rangitoto von den Māori bewohnt gewesen. Ihre Siedlungen dort wurden jedoch durch die Eruptionen weitgehend zerstört. In der Zeit danach wurden sie wieder neu gegründet und die Māori lebten hier, bis im 19. Jahrhundert die europäischen Siedler kamen, den Stämmen erst Teile und schließlich die ganze Insel abkauften und Farmen anlegten. Im Zweiten Weltkrieg gehörte Motutapu Island dann zu den Küstenverteidigungsstellungen für den Waitematā Harbour und es wurden militärische Anlagen errichtet, darunter Geschützstellungen, Kasernen, unterirdische Munitionslager und Beobachtungsposten. Deren Versorgung erforderte den Bau von Straßen, und so stammt auch der Verbindungsdamm, der die Insel heute mit Rangitoto Island verbindet, aus jener Zeit. All diese Anlagen sind zu großen Teilen heute noch vorhanden, nur die darin einst positionierten Geschütze hat man inzwischen entfernt.

Auf dem Rangitoto
Von der Aussichtsplattform auf dem Gipfel des Rangitoto schaut man in nördlicher bis nordöstlicher Richtung auf dieses Panorama, wobei der Blick direkt über den im Vordergrund liegenden Krater des Rangitoto hinweggeht. Dahinter dehnt sich der Hauraki Gulf, in dem Rangitoto Island liegt. Der vergleichsweise kahle Landstrich im Nordosten ist die benachbarte Insel Motutapu Island.
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Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als ich über Motutapu Island und die dahinterliegende Wasserfläche des Hauraki-Golfs hinwegblicke, kann ich im Wolkendunst eine weitere Landmasse ausmachen, die sich durch eine markante Erhebung auszeichnet. Dies ist die Nordspitze der mehr als achtzig Kilometer langen und etwa vierzig Kilometer breiten Coromandel-Halbinsel, die in gewisser Weise ein kleines Stück Indien nach Neuseeland bringt, verdankt sie ihren Namen doch dem Handelsschiff HMS Coromandel, das im Jahre 1820 erstmals an der Westküste der Halbinsel ankerte und seinerseits nach der Koromandelküste in Indien benannt worden war.

Daß mein Blick beim Betrachten dieses Panoramas direkt über den Krater des Rangitoto hinweggeht, entzieht sich meiner Aufmerksamkeit zu diesem Zeitpunkt völlig. Wie ich jedoch später feststellen werde, hat das durchaus seinen Grund. Für den Augenblick habe ich jedoch angesichts der phänomenalen Aussicht von hier oben nicht nur vergessen, daß ich mich auf einem Vulkan befinde, sondern auch jeglichen Gedanken an den anstrengenden Aufstieg bereits vollständig verdrängt.

Zurück auf dem Hauptweg, gehen wir diesen entlang zur südwestlichen Seite des Gipfels. Obwohl – einen Gipfel im eigentlichen Sinne hat der Rangitoto eigentlich nicht, da er wie jeder anständige Vulkan an dessen Stelle ja einen Krater aufweist. Wir bewegen uns also tatsächlich auf dem Kraterrand, auch wenn wir das im Augenblick immer noch nicht so richtig wahrgenommen haben. Der Bohlenweg führt weiter geradeaus und integriert nun auf der linken Seite zwei lange Holzbänke in sein Geländer, das ihnen als Lehne dient. Eigentlich ist ja nach der Wanderung und dem Aufstieg eine kurze Pause für unsere Beine keine ganz schlechte Idee, und so setzen wir uns für einige Minuten, um einen Schluck zu trinken und für einen kurzen Moment die Beine baumeln zu lassen.

Fast sofort bekommen wir Besuch. Ein kleiner, ziemlich bunt gefiederter Vogel hüpft neugierig näher und beäugt uns, offenbar in der Erwartung, daß wir vielleicht etwas aus unseren Taschen holen, das wir ihm zukommen lassen wollen. Die Vielzahl der Farben in seinem Federkleid fasziniert mich. Sie reichen von diversen Grüntönen über Gelb und Braun bis Grau. Vielleicht ist auch ein bißchen Rot dabei, aber diesbezüglich bin ich mir keineswegs sicher. Der kleine Piepmatz ist etwa so groß wie einer unserer heimischen Sperlinge, vielleicht sogar etwas kleiner, und neben seinem bunten Federkleid ist ein weißer Ring um seine Augen sein charakteristischstes Merkmal. Von ihm hat er auch seinen Namen: Graumantel-Brillenvogel. Als er einsieht, daß er von uns nichts zu erwarten hat, hüpft er weiter. Es sitzen ja noch mehr Leute auf der langen Bank. Kaum ist er weg, kommt ein weiterer Vogel über die Bohlen zu uns heran. Er ist etwa so groß wie eine Amsel und sollte uns mit seinem vornehmlich brauen Gefieder, das an der Unterseite stark aufgehellt und gesprenkelt ist, eigentlich bekannt vorkommen, wenn wir denn gute Kenner unserer heimischen Vogelwelt wären, denn es handelt sich um eine Singdrossel. Das wäre unter natürlichen Umständen eigentlich völlig unmöglich, denn auch wenn Neuseeland evolutionsgeschichtlich ein regelrechtes Vogelparadies ist, gehörte die Singdrossel ursprünglich nicht zu den hier heimischen Tieren. Sie wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts gemeinsam mit anderen Arten von den europäischen Siedlern auf den Inseln eingeführt.

Auch die Drossel wendet schließlich ihre Aufmerksamkeit unseren Nachbarn auf der Bank zu, was uns nicht sonderlich stört, denn wir haben keine Zeit, lange hier herumzusitzen. Schließlich gibt es noch viel zu sehen. Und so sind wir gleich darauf wieder auf den Brettern unterwegs zum anderen Ende des Aussichtsareals. Auf dem Weg dorthin habe ich Gelegenheit, mir die nähere Umgebung anzuschauen. Wir befinden uns hier auf einem kleinen Plateau, dessen Mitte von einem einigermaßen ebenen, erdigen und gänzlich unbewachsenen Platz gebildet wird, über den unser Bohlenweg hinwegführt. Daß man sich angesichts des nicht gerade unwegsamen und durchaus begehbaren Geländes die Mühe gemacht hat, ein so ausgedehntes hölzernes Wegesystem zu errichten, erschließt sich mir nicht so recht. Ob man damit hat verhindern wollen, daß das natürliche Habitat von den zahlreichen Besuchern zertreten wird? Vielleicht. Zwar kann man den Weg dort, wo er an dem Erdplatz vorüberführt, verlassen, doch überall dort, wo die Vegetation des Berges an ihn herantritt, verhindern die Holzgeländer wirksam, daß Touristen wie wir in deren Areale eindringen können.

Als wir schließlich am südwestlichen Ende des Weges angekommen sind, bietet sich unseren Augen ein ähnlich beeindruckendes Panorama wie zuvor an der Nordostseite, nur daß wir hier über die Wasser des Hauraki-Golfs hinüber nach Auckland schauen. Mein Blick schweift, im Osten beginnend, über die am Golf gelegene Küste der Stadt, an der sich Vorort an Vorort reiht, bis ich den Bastion Point entdecke. Ich erkenne ihn allerdings nur anhand meines Wissens, wo er liegt, denn die Entfernung ist zu groß, um das Michael Joseph Savage Memorial mit bloßem Auge erkennen zu können. Etwas weiter westlich liegt die Einfahrt zum Waitematā Harbour, auf deren rechter Seite Devonport liegt. Deutlich kann ich den North Head und den Mount Victoria ausmachen. In gerade Linie hinter ersterem ist die markante Erhebung des Mount Eden zu sehen und etwas weiter rechts ragen die Hochhäuser der Innenstadt Aucklands in die Höhe, an die sich dann die Wasserfläche des Waitematā Harbour anschließt, über die die Auckland Harbour Bridge ihren Bogen spannt. Den Horizont dahinter bildet die Bergkette der Waitākere Ranges. Die sich darüber auftürmenden Wolkenberge lassen es stellenweise schwierig werden zu unterscheiden, wo die Berge aufhören und der Himmel beginnt. Weiter und weiter dehnt sich das Panorama schließlich in Richtung Westen, wo das einstige North Shore City von hier oben nahezu vollständig zu überblicken ist. Es wirkt geradezu düster angesichts der darüber dräuenden tiefgrauen Wolkenbank. Schwere Schleier auf die Stadt niederstürzenden Regens lassen die Sicht hier und da verschwimmen. Es ist ein faszinierendes Wetterschauspiel, daß sich da vor unseren Blicken entfaltet: im Osten eine in hellem Tageslicht erstrahlende Szenerie, durch Risse in der Wolkendecke teils von der Sonne beschienen, im Westen eine von düsteren Wolken verdunkelte Welt, auf die schwere Regenschauer niederprasseln, die vom Wind über das Land getrieben werden. Und noch etwas weiter, nun schon in Richtung Nordwesten, kann ich die Küste der Nordinsel Neuseelands weiter entlangschauen bis etwa zu dem Punkt, an dem ich vorher, am anderen Ende des Aussichtsareals, meinen Rundblick begonnen hatte.

Auf dem Rangitoto
Die Innenstadt Aucklands mit dem markanten Sky Tower und den sich dahinter auftürmenden Bergen der Waitākere Ranges, verdunkelt von düsteren Regenwolken. Ein faszinierender Anblick!
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Rechts neben der Aussichtsplattform führt eine ebensolche Treppe, wie wir sie zuvor hinaufgestiegen waren, wieder hinab. Allerdings ist sie ganz erheblich kürzer, denn sie besitzt gerade einmal elf Stufen. An deren Ende entläßt sie uns ohne viele Umschweife auf einen schmalen Pfad, der mitten hinein in die Wildnis führt und sich nach wenigen Metern inmitten der Vegetation zu verlieren scheint. Nun, da meine Aufmerksamkeit nicht mehr von atemberaubenden Panorama-Ansichten in Anspruch genommen wird, erinnere ich mich auch wieder, was auf der Hinweistafel zu Beginn meines langen Aufstiegs über die Treppe hinauf zur Aussichtsplattform gestanden hatte. Zwei Ziele waren dort verzeichnet gewesen: der über den Crater Rim Track erreichbare Rangitoto Summit Viewpoint und der über den Crater Rim Track erreichbare Rangitoto Summit Viewpoint. Was zunächst wie ein schlechter Scherz anmutet, wird klar, wenn man die beigegebenen Entfernungen liest: einhundert Meter und siebenhundertfünfzig Meter. Ganz offensichtlich und naheliegenderweise ist der Crater Rim Track – der Kraterrandweg – ein Rundweg. Ein Kraterrandrundweg. Und weil der Rangitoto Summit Viewpoint – der Aussichtspunkt auf dem Rangitoto-Gipfel – an eben diesem Kraterrandweg liegt, kann er in beiden Laufrichtungen erreicht werden, nur in unterschiedlicher Entfernung.

Für uns steht völlig außer Frage, daß wir nicht denselben Weg wieder zurückgehen, sondern die Route wählen, die uns die siebenhundertfünfzig Meter um den Krater herumführt. Denn schließlich wollen wir den ja auch noch zu sehen bekommen, wenn das irgendwie möglich ist. Und so folgen wir dem kleinen Pfad frohen Mutes geradewegs in die Botanik hinein.

Auf dem Crater Rim Track
Ein gemütlicher Wanderweg – das ist der Crater Rim Track, der uns um den Rangitoto-Krater führt, welcher rechterhand allerdings weitestgehend unsichtbar bleibt. Dafür bieten sich auf der gegenüberliegenden Wegseite immer wieder atemberaubend schöne Ausblicke.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Es dauert nicht allzu lang, da ist aus dem schmalen Pfad ein ganz passabel breiter Weg geworden, der sich gemütlich gehen läßt. Mal geht es ein Stück bergauf, dann wieder etwas bergab, doch im wesentlichen bewegen wir uns stets auf gleicher Höhe. Die ersten hundert Meter des Weges wandern wir dabei durch einen niedrigen Wald. Links und rechts sind nur Bäume und Gebüsch zu sehen. Doch als unser Pfad schließlich eine leichte Kurve nach rechts beschreibt – wir wandern im Uhrzeigersinn um den Krater – ändert sich die Landschaft. Das Gelände links neben uns fällt jetzt meist nach einem, spätestens nach zwei Metern ab und geht in den Hang des Berges über, zu dessen Füßen sich die fast kreisrunde Insel ausdehnt. Lücken im Bewuchs bescheren uns nun immer wieder schöne Ausblicke auf die vor der Insel liegende Wasserfläche des Hauraki-Golfs, auf benachbarte Inseln oder aber die Landmasse der Nordinsel Neuseelands – je nachdem, wo auf dem Weg um den Krater wir uns gerade befinden. Rechts ist hingegen meist nicht sehr viel zu sehen außer dichter Vegetation. Bäume und Büsche bilden ein meist undurchdringliches Dickicht, das keinen Blick hindurch erlaubt. Und so bleibt auch der Vulkankrater während unseres Weges um ihn herum ein verborgenes Mysterium. Zwar empfinde ich das als ein wenig enttäuschend, doch angesichts der wechselnden Aussichten gegenüber habe ich das schnell vergessen.

Auf dem Rangitoto Summit Track
Ausblicke wie dieser bieten sich immer wieder auf dem Crater Rim Track rund um den Krater des Rangitoto. Hier geht der Blick in südsüdwestlicher Richtung hinüber zur Innenstadt Aucklands mit dem markanten Sky Tower, hinter dem sich die Bergkette der Waitākere Ranges erhebt. Davor ist, von der Innenstadt durch den Waitematā Harbour getrennt, der Ausläufer der North-Shore-Halbinsel zu sehen, auf dem sich rund um den Mount Victoria Devonport erstreckt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Und noch etwas anderes fesselt immer wieder einmal meine Aufmerksamkeit. Zu beiden Seiten unseres Weges stehen nicht einfach nur Bäume und Büsche, hier sind wir inmitten einer Landschaft unterwegs, deren Vegetation mir als Europäer durchaus fremdartig erscheint. Die meisten der Pflanzen, die hier wachsen und, wie es scheint, prächtig gedeihen, sind mir überhaupt nicht bekannt. Koromiko und Karamu sind nur zwei dieser vielfältigen Pflanzenarten, denen ich hier begegne. Ihre – wenn auch recht unsichere – Identifikation gelingt mir allerdings nicht hier vor Ort, sondern erst später anhand meiner Fotoaufnahmen. Während mir im Falle der Koromiko-Pflanze ihre charakteristischen Blüten dabei helfen, sind es beim Karamu-Strauch seine dicht mit Beeren besetzten Zweige. Zwar sehen sie recht appetitlich aus, doch verzichte ich lieber darauf, sie zu pflücken, um sie zu probieren. So ganz ohne jegliche Ahnung von ihrer Eßbarkeit und Wirkung wäre das wohl irgendetwas zwischen tollkühn und lebensmüde. Und selbst wenn ich bereits gewußt hätte, daß die Früchte des Karamu gegessen werden können und daß man seine Triebe manchmal sogar für medizinische Zwecke verwendet, wäre immer noch die Frage gewesen, ob ich mir tatsächlich sicher bin, es auch wirklich mit einem Karamu-Strauch zu tun zu haben…

So beschränke ich mich lieber darauf, die schönen Blüten, die fremdartigen Blätter und die farbenfrohen Früchte zu bewundern und immer wieder die Aussicht zu genießen, die sich uns bietet, während wir unseren Weg rund um den unsichtbaren Krater fortsetzen. Als wir schließlich auf der Nordostseite des Berges angekommen sind, entfernt sich der Berghang links wieder von unserem Pfad und der Wald kehrt zurück. Zu beiden Seiten ist es nun wieder mit jeglicher Aussicht vorbei.

Erneut sind es etwa einhundert Meter, die wir unter den Bäumen zurücklegen, bis wir schließlich eine Wegkreuzung erreichen. Von links streben zwei Wege aus verschiedenen Richtungen den Berghang hinauf und treffen an dieser Stelle auf unseren Wanderpfad, der weiter geradeaus führt. Als ich in diese Richtung blicke, stelle ich überrascht fest, daß das Gelände dort recht stark ansteigt und darin eingelassene hölzerne Stufen unseren Weg hinaufführen. Sie sehen genauso aus wie die, die ich zuvor hinaufgestiegen war, um zum Gipfel zu gelangen. Für einen kurzen Moment überwältigt mich ein starkes Gefühl der Unlust. Soll ich wirklich noch einmal einen solchen Aufstieg bewältigen? Wozu? Ich war doch schon oben gewesen.

Doch die Abneigung ist ebenso schnell verschwunden, wie sie gekommen ist, und macht einem Gefühl großer Erleichterung Platz, als mir klar wird, daß ich den voraus sich abzeichnenden Aufstieg nicht noch einmal würde hinter mich bringen müssen. Mein Blick fällt nämlich auf eine grüne Tafel, die mir erklärt, daß ich dasselbe Ziel in zwei entgegengesetzten Richtungen erreichen kann. Na, diesen Scherz kenne ich bereits! Hier hatte ich heute schon einmal gestanden. Nur war ich zu jenem Zeitpunkt so mit den Anstrengungen des Aufstiegs beschäftigt gewesen, daß ich mich gar nicht so genau umgesehen hatte, was wohl auch der Grund dafür ist, daß ich die Wegkreuzung nicht sofort wiedererkannt hatte. So war mir auch völlig entgangen, daß es an ihr noch einen fünften Abzweig gibt. Dieser zweigt von unserem Rundweg auf dessen rechter Seite ab und führt unmittelbar auf einen ebensolchen Holzbohlensteg mit Geländern zu beiden Seiten, wie wir ihn schon von dem Aussichtsareal auf dem Gipfel des Berges kannten. Dieser hier ist allerdings nur gut zehn Meter lang und endet in einer kleinen, von dem Holzgeländer umschlossenen Plattform. Neugierig treten wir näher…

…und haben ihn nicht nur endlich vor uns, sondern blicken direkt in ihn hinein – den Krater des Rangitoto. Tatsächlich ist er auf den ersten Blick als solcher zu erkennen, denn ich schaue in einen deutlich ausgeprägten Kessel hinein. Dessen Rand überragt an nahezu allen Seiten unsere aktuelle Position, obwohl auch wir uns auf ihm befinden. Doch genau hier, an der Südostseite des Kraters, senkt er sich deutlich ab, so daß er direkt vom Rundweg aus zugänglich ist. Ob diese Eigenart bereits im Zuge des einstigen Ausbruchs entstand oder die Folge eines späteren Einsturzes ist, kann ich nicht sagen. Tatsächlich ist es mir in diesem Augenblick aber auch relativ gleichgültig, wird doch meine Aufmerksamkeit gerade von etwas anderem vollkommen in Bann gezogen. Nach all den Lavafeldern, an denen wir auf unserem Weg hierher vorübergekommen waren, hatte ich irgendwie erwartet, in diesem Krater eine Einöde aus Lavagestein anzutreffen. Doch das Erscheinungsbild des Kessels, der sich hier vor meinen Augen ausbreitet, könnte nicht weiter von dieser Vorstellung entfernt sein.

Der Krater des Rangitoto
Der grüne Krater des Rangitoto. Wer würde in diesem Paradies wohl den Schlund der Hölle vermuten?
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Der Krater ist vollständig von der üppigen Flora der Insel vereinnahmt worden und bietet mit seiner Vielfalt an unterschiedlichen Grüntönen einen faszinierenden Anblick. Diese sind ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Vegetation, über die meine Blicke hinwegschweifen, aus den unterschiedlichsten Pflanzenarten besteht. Den auch als Neuseeländischen Weihnachtsbaum bezeichneten Pōhutukawa kenne ich bereits. Einer am Beginn des Bohlenweges zur Plattform aufgestellten Informationstafel kann ich entnehmen, daß die Bäume mit den schlanken, hohen Baumkronen als Rewarewa bezeichnet werden – Silberbaumgewächse der Art Knightia excelsa, die im Englischen auch als New Zealand Honeysuckle bezeichnet werden – Neuseeland-Geißblatt. Dieser Name wird heute allerdings kaum mehr gebraucht – vielleicht auch, weil die Pflanze mit dem herkömmlichen Geißblatt botanisch gesehen eher wenig zu tun hat. Die Tafel verrät mir desweiteren, daß die niedrigen, gestrüppartigen Pflanzen, die den Boden des Kraters zur Gänze bedecken, von den Māori Mānuka und Kānuka genannt werden. Mānuka bezeichnet die Südsee- oder auch Neuseelandmyrte, aus deren Blütennektar Bienen den weithin bekannten und recht teuren Mānuka-Honig herstellen. Kānuka klingt nicht nur rein zufällig sehr ähnlich, sondern ist ebenfalls ein Myrtengewächs, das auch als Kleinblättriger Mānuka oder Weißteebaum bekannt ist.

Der Krater des Rangitoto
Nein, ein Loch gibt es am Grunde des Kraters nicht. Auch hier ist nichts als üppig grünende Vegetation zu sehen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Es ist faszinierend, in diesen grünen, so reichhaltig schattierten Kessel hineinzublicken. Daß er einst, eingehüllt in dichte Rauch- und Aschewolken, infernalische Feuerströme in den sich darüber wölbenden Himmel gespien haben soll, erscheint mir dabei nur schwer vorstellbar. Immerhin ist nun allerdings verständlich, warum mir der Krater zuvor so vollständig entgangen war, als ich meine Blicke über die Insel und das sie umgebende Panorama des Hauraki-Golfs schweifen ließ…

Immerhin, so könnte man meinen, wäre das Feuer der Lavaströme eine gute Erklärung für den Namen des Vulkans, bedeutet Rangitoto in der Sprache der Māori doch „Blutiger Himmel“. Doch das wäre ein Irrtum. Denn Rangitoto ist in gewisser Weise eine Abkürzung. Der vollständige Māori-Name für den Berg lautet „Ngā Rangi-i-totongia-a Tama-te-kapua“. Und das bedeutet soviel wie „Die Tage des Blutens von Tama-te-kapua“. Tama-te-kapua war einst der Führer des Kanus Arawa waka. Er und seine Mannen, heißt es, lieferten sich in der Islington Bay eine Schlacht mit dem Stamm der Tainui Iwi, die in mehrfacher Hinsicht nicht gut für sie ausging. Nicht nur verloren sie diese und mußten im Anschluß die Insel verlassen, nein, Tama-te-kapua wurde überdies schwer verwundet. Sein verlorenes Blut verewigten die Māori im Namen der Insel, die der Schauplatz der Geschehnisse war.

Für uns ist nun, so scheint es, auf dem Rangitoto alles getan. Wir haben die Aussicht genossen, den Gipfel umrundet und zu guter Letzt auch noch den Krater gefunden und besichtigt. Guten Gewissens können wir also wieder vom Berg heruntersteigen und den Rückweg antreten. Unser Plan ist erfüllt. Der Blick auf die Uhr verrät uns allerdings, daß wir noch einiges an Zeit übrig haben. Eine Stunde hatten wir gebraucht, um vom Fähranleger auf den Gipfel des Berges zu kommen. Aussicht, Gipfelrundweg und Kraterbesichtigung hatten uns alles in allem eine gute Dreiviertelstunde gekostet. Rechnen wir nun eine weitere Stunde für den Rückweg hinzu – daß wir würden denselben Weg zurückgehen müssen, den wir gekommen waren, steht außer Frage, denn es gibt nur den einen – haben wir Pi mal Daumen noch eine gute Dreiviertelstunde übrig. Sogar etwas mehr, wenn wir annehmen, daß wir den Rückweg etwas schneller schaffen würden, da wir ihn bereits kennen und nicht mehr alle Nase lang stehenbleiben würden, um uns neugierig, wie wir nun mal sind, umzuschauen.

Was also tun mit der übrigen Zeit? Zunächst wissen wir auf diese Frage keine rechte Antwort. Doch es dauert nur wenige Minuten, da stellt sich uns die rettende Idee förmlich in den Weg. Wir haben den größten Teil des Abstiegs gerade hinter uns gebracht – wofür wir deutlich weniger Zeit benötigen als die fünfzehn Minuten bergauf – und stehen wieder an der Weggabelung, an der wir den steilsten Teil des Aufstiegs zuvor begonnen hatten, freundlich dirigiert und vorgewarnt durch das hier aufgestellte grüne Hinweisschild. Und wieder erweist es sich als bereitwilliger Helfer, indem es uns auf einen weiteren Ort verweist, der gar nicht weit von hier entfernt ist: Lava Caves. Lava-Höhlen. Na, wenn das nicht interessant klingt. Und wie weit ist das weg? Nur fünfzehn Minuten? Nichts wie los!

Nun, da ich bereits zweimal die Erfahrung gemacht habe, daß die Zeitangaben dieser Wegweiser überraschend genau passen, sehe ich keinen Grund, sie ausgerechnet jetzt anzuzweifeln. Wir wandern wohlgemut drauflos auf einem Weg, der uns, sich mal nach links, mal nach rechts wendend, tiefer in den Wald hineinführt, der sich am Fuß des Berges und diesen hinauf erstreckt. Zunächst sind wir auf einem bequemen Pfad unterwegs, der ohne nennenswerte Steigungen den Berghang entlangführt. Wie in unseren heimischen Wäldern sind auch hier Farne zu Hause. Während die unseren jedoch Bodenpflanzen sind, die kaum einmal die Höhe von einem Meter erreichen, haben wir es hier mit Baumfarnen zu tun, die mit ihren kräftigen Stämmen beachtliche fünf, sechs Meter und mehr aufragen.

Weg zu den Lava-Höhlen des Rangitoto
Auf dem Weg zu den Lava Caves bekommen wir schon einen kleinen Vorgeschmack, was uns erwartet. Der Weg wird steinig.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Nach etwa fünf Minuten erreichen wir einen Abzweig, den wir jedoch ignorieren, da er laut dem hier aufgestellten grünen Wegweiser wieder zum Gipfel des Berges führt. Und dort waren wir ja schon. Unser Pfad wendet sich nun nach rechts und verläßt den unmittelbaren Berghang. Beinahe sofort ändert sich der Charakter des Weges vollständig. Hatten wir bisher lediglich darauf achten müssen, nicht über eine der zahlreichen Baumwurzeln zu stolpern, die immer wieder aus dem Waldboden emporragten, säumen plötzlich massive Felsen unseren Pfad, der, dazu passend, mit einem Mal recht steinig geworden ist. Während bereits nach kurzer Zeit die Felsen links und rechts wieder hinter uns zurückbleiben, behält der Weg seinen steinigen Charakter jedoch bei. Auch gewinnt er mit jedem Meter, den wir auf ihm voranschreiten, kontinuierlich an Höhe. Offenbar sind wir auf einem südlichen Ausläufer des Rangitoto unterwegs. Als wir schließlich einen Punkt erreichen, an dem sich rechterhand die Bäume etwas zurückziehen, stellen wir fest, daß wir uns wieder ein gutes Stück oberhalb des dem Berg vorgelagerten Insellandes befinden, das wir nun gut überblicken können. Die Aussicht reicht dabei bis zur Einfahrt des Waitematā Harbours und die dahinterliegende Innenstadt Aucklands.

Als wir weitergehen, schließt sich die Lücke im Baumbestand wieder, und wir wandern weiter durch den Wald, der nun allerdings längst nicht mehr so dicht und hoch ist wie noch eben. Offenbar sind wir auf dem Scheitel des Höhenzuges angekommen, denn die Steigung hat aufgehört. Dafür leitet uns der Pfad immer wieder über felsiges Gelände, dessen vulkanischer Ursprung unverkennbar ist. Nach einigen Metern, die wir auf diese Weise zurückgelegt haben, entdecken wir plötzlich einen kleinen hölzernen Pfahl von vielleicht einem halben Meter Höhe und mit quadratischer Grundfläche, der vor uns aus dem Boden ragt. Sein oberes Ende läuft in einer kleinen Pyramide aus, deren kräftiges Gelb seine Signalwirkung auf uns nicht verfehlt. Als wir neugierig näherkommen, entdecken wir an der uns zugewandten Seite des Pfahls einen in diesen eingelassenen und ebenfalls in kräftigem Gelb gehaltenen Pfeil, der uns unmißverständlich bedeutet, den geradeaus führenden Weg zu verlassen und nach links einem schmaleren und sich nach wenigen Metern in die Büsche schlagenden Pfad zu folgen. Warum wir das tun sollen, verrät er uns allerdings nicht.

Wir überlegen kurz, was wir tun sollen, und entscheiden uns dann dafür, der Aufforderung Folge zu leisten. Es geht einige Meter durch Gebüsch und über Felsen. Wir passieren ein Gesteinsfeld, das wie ein kleiner Hügel aussieht, nur daß an seinem höchsten Punkt ein großes Loch klafft, von dem ausgehend tiefe Risse den umliegenden schwarzen Stein durchziehen. Es wirkt ein wenig so, als habe sich etwas aus dem Inneren der Erde nach oben gekämpft und sei hier an die Oberfläche durchgebrochen. Wir gehen vorsichtig an der Öffnung vorbei und setzen unseren Weg, einem weiteren gelben Pfeil auf einem Pfahl mit gelber pyramidaler Spitze folgend, fort. Nach wenigen Minuten sind wir schließlich am Ziel. Vor uns sieht es aus, als sei der Boden plötzlich der Länge nach durchgebrochen und der Teil, auf dem wir uns befinden, ein gutes Stück abgesackt. Zurückgeblieben ist eine schwarze, arg unregelmäßig geformte Felswand von vielleicht vier oder fünf Metern Höhe.

Was hier wie ein Abbruch aussieht, ist in Wahrheit der Eingang zu einer der Lava-Höhlen, die es hier am Rangitoto gibt. Dabei ist die Bezeichnung „Höhle“ eigentlich gar nicht korrekt. Es handelt sich vielmehr eher um Röhren, die entstanden, als geschmolzene und nur geringfügig zähflüssige Lava durch den Kontakt mit dem Boden und der Luft an ihrer Außenseite abkühlte. Dadurch bildete sich eine harte Kruste, innerhalb derer die noch flüssige geschmolzene Lava weiterfließen konnte. Als der Lavastrom schließlich versiegte, blieben die Röhren zurück. Derzeit sind sieben solche Röhren auf der Insel bekannt, von denen die größte ein Länge von etwa fünfzig Metern besitzt.

Die Lava-Höhlen des Rangitoto
Schwarz und düster sieht er aus, der Felsen am Eingang zur Lava-Höhle. Doch selbst davor schreckt die Lebenskraft der Natur nicht zurück.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Natürlich hat die unverwüstliche Natur auch das harte Lavagestein erobert. Direkt vor der Felswand, die einen guten Schutz vor jeglichem Wind bieten dürfte, haben Bäume ihr Domizil bezogen. Doch auch an ihrem oberen Rand, dort, wo sich darüber der Berghang fortsetzt, stehen Bäume, deren Wurzeln die Felswand hinuntergewachsen sind und sich ihren Weg ins Erdreich zu deren Füßen gebahnt haben. Sie wirken nun ihrerseits wie gewundene Baumstämme. Ebenfalls von dort oben lassen Pflanzen, die wie übergroße Gräser aussehen, ihre langen Blätter herabhängen. Moose und Flechten bedecken das Gestein, und an jedem noch so kleinen Felsabsatz haben es sich kleine Pflänzchen gemütlich gemacht und sorgen für reichlich grüne Farbtupfer an der schwarzen, narbigen Wand. Obwohl, so schwarz, wie sie auf den ersten Blick wirkt, ist sie gar nicht. Als ich nähertrete, bemerke ich, daß das Gestein Färbungen in Gelb, Orange, ja sogar Violett aufweist. Eisen und Schwefel, die im Zuge des Vulkanausbruchs freigesetzt wurden, haben hier wohl ihren Niederschlag gefunden.

An ihrem rechten Ende, dort, wo die Felswand an Höhe verliert, schließlich aufhört und in den Waldboden übergeht, gähnt ein Loch. Zwei dicke Baumwurzeln säumen es links und rechts, rahmen es förmlich ein und wirken ein wenig wie Wächter am Eingang zur Unterwelt. Der Boden senkt sich etwas ab, so daß es von außen so aussieht, als führe hier ein Weg schräg in die Erde hinein. Neugierig schaue ich in die Öffnung.

Zunächst ist nichts zu erkennen außer undurchdringlicher Schwärze. Ich warte einen Moment, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, doch auch dann ist von hier draußen kaum etwas zu sehen. Immerhin gewahre ich irgendwo weiter hinten einen schwachen Lichtschein. Ob das der jenseitige Ausgang ist? Nun, von hier aus ist das kaum festzustellen…

„Sollte Dir was unklar sein, hole Dir Gewissheit ein!“

Kennen Sie die Abrafaxe? Was für ein Gedankensprung, nicht wahr? Aber so weit ist er gar nicht. Lassen Sie es mich kurz erklären. Die Abrafaxe sind drei kleine Kobolde aus einer fortlaufenden Bildgeschichte namens Mosaik, die im Jahre 1976 begann. Heute würde man das wohl Comic nennen, aber damals, in den Siebzigern und noch dazu in der DDR haben wir unsere Sprache noch nicht mit englischen Begriffen vollgestopft und verhunzt, wie das heute nahezu allgegenwärtig der Fall ist. Wie dem auch sei, diese Abrafaxe, die als Nachfolger der Digedags – ebenfalls drei kleine Kobolde – eingeführt wurden, um das 1955 von Hannes Hegen ins Leben gerufene Mosaik fortzusetzen, nachdem dieser sich zurückgezogen hatte, reisten auf der Erde durch die Welt und die Weltgeschichte, erlebten Abenteuer, trafen bedeutende Persönlichkeiten und wohnten historischen Ereignissen bei. Diese Bildgeschichten habe ich stets mit großer Freude gelesen, jedes neue der monatlich erscheinenden Hefte mit Spannung erwartet und regelrecht verschlungen, wurde darin doch mit außerordentlich phantasievollen und unterhaltsamen Geschichten den meist kindlichen und jugendlichen Lesern, wie ich einer war, nicht nur die Historie der Menschheit nahegebracht, sondern sie lernten auch andere Kulturen und Lebensweisen kennen – ohne Dogma, ohne vorgefaßte Meinung oder gar Propaganda, dafür mit sehr viel Neugier und Spaß. Und das ist bis zum heutigen Tage so geblieben, denn das Mosaik mit den Abrafaxen gibt es immer noch. Warum erzähle ich das alles? Nun, gleich in der ersten Ausgabe des neuen Mosaiks, dem Januarheft des Jahres 1976, entdeckt der berühmte Spaßmacher Harlekin unter den Fundamenten eines venezianischen Kastells eine merkwürdige, offenbar künstlich angelegte Grotte, die er, sich an den eingangs zitierten Rat seines Mütterleins erinnernd, neugierig betritt.

An eben diesen Rat – ein überaus guter, wie ich finde – muß ich nun denken, als ich hier vor dem Eingang in die Lava-Röhre stehe und versuche, zwischen den beiden den Eingang flankierenden Wächterwurzeln hindurch hineinzuspähen. Die Situation erscheint mir nicht ganz unähnlich.

Also, auf geht’s! Vorsichtigen Schrittes und nacheinander zwängen wir uns in leicht gebückter Haltung durch den etwas weniger als mannshohen Eingang, hinein in die zunächst stockdunkle Felsenröhre. Kaum habe ich die Öffnung hinter mir gelassen, umfängt mich absolute Schwärze. Unwillkürlich bleibe ich stehen. Nicht nur, daß ich meinen Reisebegleiter, der mir einige Meter vorausgeht, schlagartig nicht mehr sehen kann, es ist mir auch unmöglich, sonst irgendetwas um mich herum optisch wahrzunehmen. Insbesondere kann ich so auch nicht erkennen, was vor mir liegt und wo ich eigentlich hintrete.

‚Verflixt‘, geht es mir durch den Kopf, ‚was gäbe ich jetzt für eine Taschenlampe?!‘

Die Lava-Höhlen des Rangitoto
Der Eingang zur Unterwelt…
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
Creative Commons Lizenzvertrag

Nun, eine solche habe ich gerade nicht bei mir. Schließlich habe ich nicht mit einem Höhlenbesuch gerechnet, als wir an diesem Morgen zu unserem kleinen Ausflug aufgebrochen waren. Glücklicherweise neige ich jedoch nicht zu Nachtblindheit, und so dauert es nur wenige Minuten, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Denn tatsächlich ist es hier drin keineswegs so stockfinster, wie es mir anfangs erschienen war. Vom hinter mir liegenden Eingang fällt genug Licht in den dunklen Tunnel, um wenigstens erkennen zu können, wie hoch dieser ist und welche Beschaffenheit der Boden hat. Und auch von irgendwo voraus ist immer noch der Lichtschein zu erkennen, der mir bereits aufgefallen war, als ich von draußen hier hineingespäht hatte. Er dient mir von nun an als Ziel, auf das ich geradewegs zusteuere. Ab und zu scheint er allerdings für einen Augenblick zu verschwinden, nur um kurz darauf wieder zu erscheinen. Ich überlege einen Moment, warum das so ist, bis mir klar wird, daß ich wohl noch ein gutes Stück von diesem Schein entfernt bin und daß er so immer wieder einmal von meinem vorausgehenden Begleiter verdeckt wird.

Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Ganz allein auf meine Augen will ich mich in dieser Dunkelheit dann doch lieber nicht verlassen, und so taste ich vor jedem Schritt mit der Fußspitze den Boden ab. Und das ist auch gut so, denn hier liegt genug Geröll herum, daß es durchaus angeraten ist, nicht einfach bedenkenlos aufzutreten, will man nicht durch einen beiseiterollenden Stein den sicheren Tritt und damit den Halt verlieren. Glücklicherweise ist der Gang bereits nach wenigen Schritten hoch genug, um ohne Probleme aufrecht gehen zu können. So bleibt es uns erspart, den ganzen Weg in gebückter Haltung zurücklegen zu müssen. Wie überaus anstrengend das bereits nach wenigen Metern werden kann, habe ich einmal in einem Bergwerk am eigenen Leib erfahren dürfen, als ich mich dazu überreden ließ, einen alten, engen und nur etwas mehr als 120 Zentimeter hohen Stollen zu passieren, der von Bergleuten in früherer Zeit in mühevoller Handarbeit mit der Spitzhacke in den Fels getrieben worden war. Bereits nach der Hälfte des vielleicht fünfzig Meter langen Ganges tat mir der Rücken derart weh, daß ich unwillkürlich dem Reflex nachgab, mich aufzurichten, was natürlich aufgrund der geringen Höhe des Stollens mit einem lauten „Plonk!“ endete, als der Helm auf meinem Kopf unsanft mit dem Fels über mir zusammenstieß. Der Anflug von Panik, der sich im ersten Moment in meinem Inneren breit machte, war kein sonderlich angenehmes Gefühl. Da jedoch der Gang gerade einmal breit genug für eine Person war und sich sowohl hinter als auch vor mir andere Teilnehmer der Besuchergruppe, mit der ich unterwegs war, befanden, hatte ich keine andere Wahl gehabt, als die Zähne zusammenzubeißen und den Weg irgendwie bis zum Ende zu gehen.

Derartiges war hier nun also nicht erforderlich. Tatsächlich fühlte ich mich nach einigen Minuten recht wohl und sicher in dieser Lava-Röhre, von deren Beschaffenheit ich allerdings bei dem zur Verfügung stehenden spärlichen Licht nur wenig erkennen konnte. Hier wäre eine Taschenlampe doch ganz nützlich gewesen. Doch bringt es wenig bis nichts, sich über Dinge zu ärgern, die man sowieso nicht ändern kann, und so halte ich mich auch gar nicht lange damit auf, der abwesenden künstlichen Lichtquelle nachzutrauern, und konzentriere mich lieber darauf, meinen Weg durch den Tunnel vorsichtig fortzusetzen und dem Lichtschein voraus langsam entgegen­zugehen.

Meter um Meter lege ich zurück, auf unebenem Boden, auf dem immer wieder lose Steine liegen, die raue, rissige Felswand zu beiden Seiten und über mir die felsige Decke der Lavaröhre. Ich stelle mir vor, wie sie einst mit rotglühendem zähflüssigen Gestein angefüllt war, das hier hindurchströmte und seinen Weg in Richtung Meer suchte. Näher und näher komme ich dabei dem Lichtschein, der mir erwartungsvoll entgegenzuleuchten scheint. Doch so, wie ich zuvor von draußen nichts im Inneren der Röhre erkennen konnte, ist es mir nun unmöglich, zu sehen, was dort, hinter dem Ausgang, auf mich wartet. Ich erblicke einfach nur ein leuchtend helles Licht, das sämtliche Details dahinter überstrahlt. Noch ein paar Schritte, dann noch einer und noch einer – und ich bin aus der Röhre hinaus. Doch nur, um festzustellen, daß ich mich in einem tiefen Graben wiederfinde. Links und rechts ragen die gleichen schwarzen Felswände auf, die mich die ganze Zeit im Tunnel begleitet haben. Über mir kann ich grüne Baumkronen und den wolkenverhangenen Himmel sehen, doch ist es unmöglich, dort hinaufzugelangen, wenn ich nach dem Gang durch die Röhre nicht auch noch eine Kletterpartie einlegen will. Ganz offensichtlich ist irgendwann einmal an dieser Stelle die Decke der Lavaröhre eingestürzt und hat so eine Öffnung nach oben geschaffen, durch die nun nicht nur das Licht hier hinuntergelangt, sondern auch die Witterung. Die Wände neben mir sind von grünem Moos bedeckt, dicke Baumwurzeln winden sich an ihnen herab und verschwinden im Boden des Ganges, von oben hängen Wurzelfäden und lange Blätter irgendwelcher Pflanzen herab. Und einige Meter voraus gähnt mich der nächste schwarze Schlund an, der mich wieder in die Unterwelt der Lavaröhre zurückführen will. Doch eine andere Möglichkeit, hier herauszukommen, gibt es nicht, wenn ich einmal davon absehe, den Weg wieder zurückzugehen, den ich hierher gekommen bin. Da jedoch auch das bedeutet, in die Dunkelheit zurückzukehren, kann ich ebenso gut vorwärtsschreiten.

Es ist schon eine faszinierende Welt, durch die mich mein Weg hier führt. Urwüchsig, rauh und gleichzeitig schön, unberührt, einzig und allein von den Kräften der ewigen Natur geschaffen und geformt, vom Leben, wo immer es auch nur den kleinsten Halt findet, Stück für Stück erobert – hier ist der Mensch überflüssig. Hier braucht ihn niemand. Ein Ort, um Demut zu lernen.

Im Weitergehen umfängt mich nach der Rückkehr in die Röhre erneut Dunkelheit, an die sich meine Augen nach der kurzen Episode Helligkeit dennoch erst wieder gewöhnen müssen, so daß ich wie zuvor einige Minuten still verharre. Wieder nehme ich ein ganzes Stück voraus einen Lichtschein wahr, wieder folge ich langsamen und vorsichtigen Schrittes dem dunklen Gang, der mich auf ihn zuführt. Als ich ihn schließlich erreiche, erwarte ich fast, erneut nur in einem Graben zu landen, sobald ich hinaus ins Licht trete. Diesmal jedoch ist es tatsächlich der Ausgang. Ich steige über die dicke Wurzel eines Baumes, die quer vor der Öffnung aus dem Boden ragt und schaue zurück. An diesem Ende der Lavaröhre ist deutlich zu erkennen, daß es sich bei dem, was wir da gerade durchschritten haben, tatsächlich nicht um eine Höhle im eigentlichen Sinne handelt. Während der Eingang einer solchen stets in eine massive Gesteinsformation hineinführt, sieht es hier unzweideutig so aus, als befände sich die Röhre nicht unter der Erde, sondern als seien die Felsen, die ihre Wände bilden und sie überwölben, von irgendwem auf den Boden gestellt worden. Und in gewisser Weise ist es ja auch genauso gewesen, wenn wir uns die Entstehung dieser Lavaröhren in Erinnerung rufen. So ist es auch nicht verwunderlich, daß wir kaum eine Steigung zu überwinden haben, um vom Ausgang der Lavaröhre in das sie umgebende Gelände zu gelangen.

Ein Blick auf die Uhr belehrt uns, daß es nun angeraten ist, den Rückweg anzutreten. Zwar steht uns noch genug Zeit dafür zur Verfügung – alles in allem haben wir für den Ausflug zu den Lava-Röhren eine reichliche halbe Stunde benötigt -, so daß wir nicht werden rennen müssen, doch dürfen wir auch nicht bummeln, wenn wir die letzte Fähre erreichen wollen. Es ist kaum anzunehmen, daß sie ausgerechnet auf uns warten würde.

Vom Ausgang der Lavaröhre gibt es lediglich einen einzigen Weg, den wir gehen können. Markiert durch die uns nun schon hinlänglich bekannten pyramidenbemützten Pfosten mit den gelben Pfeilen, ist er nicht zu verfehlen. Wir sind noch nicht weit gegangen, da bemerke ich rechts von uns im Wald einige Felsen. Vermute ich zunächst, daß sich dort der Graben befindet, auf dessen Grund wir noch wenige Minuten zuvor in die entgegengesetzte Richtung unterwegs gewesen waren, als uns die Natur einen kurzen Moment des Lichts gestattet hatte, bevor wir in die Dunkelheit der Röhre hatten zurückkehren müssen, so erkenne ich schnell, daß dies ein Irrtum ist. Ein Spalt im Boden ist nirgendwo zu sehen. Die Lava des Rangitoto hat hier ganz offensichtlich mehr Überreste hinterlassen als die Röhre, die wir gerade der Länge nach durchquert hatten. Kurz darauf wieder an der Stelle anlangend, an der wir zuvor, einem der Pfeile folgend, vom Weg abgewichen waren, wird uns klar, daß dieser hier als Rundweg angelegt ist. Wir haben also nichts verpaßt.

Der Rest ist schnell erzählt. Wir wandern straffen Schrittes die Strecke zurück, die uns zu den Lavaröhren geführt hatte, und schwenken, als wir die Weggabelung mit der grünen Tafel erreichen, die uns hierher verwies, auf den Rangitoto Summit Track ein. Zunächst noch langsam bergab, dann auf ebener Strecke laufen wir zügig, doch  ohne zu hetzen den Weg zurück, den wir gute zwei Stunden zuvor gekommen waren, vorbei an Lavafeldern, die die grüne Vegetation der Insel langsam vereinnahmt. Würden wir in einigen Jahren wieder hierher kommen, sähe die Landschaft vielleicht schon wieder ein wenig anders aus als heute. Hatte das Wetter bisher sehr gut ausgehalten und hier auf der Insel auf Regen verzichtet, so wird der Himmel über uns nun doch zusehends düsterer. Die dunklen Wolken, die wir vom Rangitoto aus noch über Auckland gesehen hatten, haben langsam, aber sicher ihren Weg hierher gefunden. Doch noch regnet es nicht.

Lavafeld auf Rangitoto Island
Ein letztes Lavafeld.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Wir erreichen schließlich wieder die Uferstraße an der kleinen Bucht, auf der wir das restliche Stück unseres Rückweges bis zum Rangitoto Wharf zurücklegen. Dort angekommen, haben wir noch ein bißchen Zeit, um zu verschnaufen, eine Möwe zu beobachten, die sich auf der niedrigen Mauer, die die Uferstraße vom Wasser der Bucht trennt, niedergelassen hat, uns über ihr eigenwilliges Federkleid zu wundern, das nur an Kopf, Brust und Bauch aus weißen Federn besteht, während jene an Rücken, Flügeln und Schwanz von kräftigem Schwarz sind, einen Blick zurück auf den Rangitoto zu werfen, mit dem wir uns von ihm verabschieden, und schließlich der Fähre entgegenzusehen, die sich aus Richtung Waitematā Harbour und Innenstadt Aucklands langsam nähert, größer und größer wird, je kürzer die Entfernung ist, und schließlich an einem der dicken Holzpfähle festmacht, die die Plattform des Rangitoto Wharfs umgeben. Leute steigen nur noch wenige aus – immerhin ist es die letzte Fähre, die an diesem Tag die Insel verläßt. Wer jetzt nicht mitfährt, wird wohl die Nacht auf der Insel verbringen wollen – oder müssen. Folgerichtig sind wir auch nicht die Einzigen, die hier auf die Fähre gewartet haben und nun an Bord gehen.

Es gelingt uns, zwei Plätze im Inneren zu ergattern, denn angesichts der über dem Hauraki-Golf dräuenden dunklen Regenwolken verspüren wir nur wenig Lust, die Rückfahrt auf dem Deck im Freien zu verbringen. Auch tut es gut, nach all der Lauferei nun ein wenig zu sitzen, die müden Beine zu strecken und entspannt aus dem Fenster zu sehen, während die Fähre ablegt, sich langsam vom Rangitoto Wharf entfernt, schließlich Fahrt aufnimmt und uns zügig zurück nach Auckland bringt, wo uns unser Hotelzimmer schon erwartet, in dem wir nach einem Abendessen und dem Packen unserer Sachen die letzte Nacht unseres Aufenthaltes in der Stadt verbringen werden. Morgen ziehen wir weiter.

Und weil der Himmel über der Stadt darob wohl ein bißchen traurig ist, beginnt es schließlich doch noch, leise zu regnen…

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Referenzen

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1 Der Text lautet im Original:

At Marsden Wharf in July 1985 the Rainbow Warrior, the flagship for Greenpeace, was bombed and sunk by agents of the French Government killing photograper Fernando Pereira. The ship was about to sail into the Pacific in peaceful protest against French nuclear testing. Public outrage and continuing pressure led France to stop the bomb tests after 1995 leaving irreparable damage at Moruroa.

Today the Rainbow Warrior II inspires people everywhere as she continues to campaign around the globe ‚bearing witness‘ against nuclear weapons and all other destructive environmental practices.

‚You can’t sink a rainbow‘

2 Bei uns ist die Namensvariante Mururoa gebräuchlich. In der Sprache der Polynesier lautet der Name des Atolls allerdings Moruroa.
3 Im Original: „Let the world be nuclear-free!“

In den Gewässern des Südens

Dieser Beitrag ist Teil 8 von 10 der Beitragsserie "Reise nach Neuseeland & Singapur"
Wie ich in den Gewässern Neuseelands untertauchte, die Antarktis besuchte und wieder zurückkehrte

„Luftlinie?“

Diese Frage sollte man immer stellen, wenn man eine Entfernungsangabe vorgesetzt bekommt. Auch wenn sie nur aus einem einzigen Wort besteht, ist sie doch von einiger Bedeutsamkeit. Lautet die Antwort „Ja“, dann ist es immer eine gute Strategie, Vorsicht walten zu lassen. Besonders, wenn es um die Entfernung geht, die man gleich darauf zurückzulegen hat. Und erst recht, wenn dies unter Einsatz der eigenen Kräfte geschehen soll. Denn schnell kann aus einer harmlos scheinenden kurzen Entfernung, die nicht hinreichend als „Luftlinie“ gekennzeichnet worden ist, auf realen Wegen eine – gefühlt oder wirklich – endlos andauernde Anstrengung werden. Berlin und Frankfurt an der Oder sind eigentlich gar nicht so weit voneinander entfernt. Entlang der Luftlinie jedenfalls. Soll man allerdings vom einen in den anderen Ort auf ausschließlich natürlichen Wasserstraßen rudern, ist es durchaus noch einmal eine Überlegung wert, ob man sich darauf einlassen will oder es besser bleiben läßt.

Nun, einem solchen Extrem sind wir glücklicherweise nicht ausgesetzt. Wir müssen nicht rudern, und der Unterschied in der Entfernung, der auf unserem Weg von der Wendeschleife auf dem Bastion Point zu unserem nächsten Ziel zwischen der Luftlinie und dem Wandern auf den realen Straßen besteht, ist nicht sonderlich groß. Aus den rund 750 Metern, die es auf gerader Strecke wären, wird für uns lediglich ein Kilometer. Die Hapimana Street, wie die kleine Straße heißt, die uns hinunter zum Tamaki Drive bringt, windet sich von der Anhöhe das Steilufer hinab. Beziehen wir den Höhenunterschied mit ein, kommen zu dem Kilometer noch ein paar einzelne Meter hinzu, die wir zu Fuß zu gehen haben.

Zwischen grünen, welligen Rasenflächen wandern wir das Asphaltband entlang. Links begleitet uns eine Art Weidezaun, rechts ziehen in regelmäßigen Abständen Palmen an uns vorüber. Eine Rechtsbiegung, ein paar Büsche und Bäume linkerhand und schließlich wieder eine Kurve nach links, dann haben wir das Steilufer erreicht und unsere Straße führt nun schnurstracks hinab zum Tamaki Drive, den wir schon rechts unter uns sehen können. Dahinter dehnt sich die weite Wasserfläche des Hauraki-Golfs, der hier in den Waitematā Harbour übergeht.

Tiefer und tiefer senkt sich die Hapimana Street hinab, während an ihrer linken Seite der Hang höher und höher wird und schließlich in eine fast senkrechte Wand übergeht, die aber dennoch von dichtem Grün, bestehend aus Gräsern, Büschen und einigen Bäumen, bewachsen ist. Noch ein paar Meter, dann haben wir das Ende der Straße und ihre Einmündung in den Tamaki Drive erreicht. Weil dieser wegen des Steilufers nur an der rechten Straßenseite einen Fußweg besitzt, gilt es nun zunächst, ihn zu überqueren, was angesichts des durchaus nicht geringen Autoverkehrs und der völligen Abwesenheit eines Fußgängerübergangs gar nicht so einfach ist, nicht zuletzt auch deshalb, weil ich mich immer noch nicht so recht an den Linksverkehr gewöhnt habe.

Schließlich langen wir jedoch wohlbehalten auf der gegenüberliegenden Straßenseite an und wandern nun in Richtung der Innenstadt Aucklands weiter – links die Straße, rechts die Bucht. Auf deren gegenüberliegender Seite liegt Rangitoto Island nun schon leicht hinter uns, schräg rechts vor uns können wir den North Head und dahinter Devonport mit dem Mount Victoria ausmachen. Dort ist der Eingang zum Waitematā Harbour zu suchen.

Steilufer an der Okahu Bay in Auckland
Dort, wo der Tamaki Drive am Beginn der Okahu Bay eine scharfe Kurve nach links vollzieht, bildet das Steilufer des Bastion Points eine Ecke mit einem beinahe rechten Winkel. Hier ist es vom Ufer der Okahu Bay aus zu sehen. Besagte Ecke ist also am linken Bildrand zu finden.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als wir diesen erreichen, beschreibt der Tamaki Drive eine scharfe Kurve nach links. An deren Scheitelpunkt zweigt der lange weiße Steg des Okahu Bay Wharfs ab und führt in die Bucht hinaus und – wie es scheint – direkt auf den Mount Victoria zu. Links daneben erhebt sich ein aus gelben Ziegeln errichtetes und mit einem roten Dach versehenes Gebäude, an dessen dem Wasser zugewandter Seite sich ein Flachbau anschließt, der den Charakter einer überdachten und verglasten Veranda besitzt und, auf Pfählen errichtet, über dem Wasser schwebt. Daß er bei weitem nicht so viele Jahre auf dem Buckel hat wie das alte steinerne Gebäude, zu dem ganz offensichtlich noch ein weiterer, kleinerer und im selben Stil direkt unterhalb des Steilufers auf der gegenüberliegenden Seite der Fahrbahn errichteter Bau gehört, ist offensichtlich. Er wurde erst später hinzugesetzt, vermutlich, um aus dem alten Ziegelbau den Veranstaltungsort zu machen, der er heute ist, passend zu seinem Standort den Namen Okahu tragend, wie uns ein großes Schild an der Frontseite des Gebäudes stolz verkündet, und buchbar für Hochzeiten und jede Art von Feierlichkeiten, wenn man das nötige Kleingeld hat.

Da wir es nicht haben, allerdings auch gerade nichts zu feiern gedenken – außer vielleicht unseren Urlaub -, lassen wir den Bau einfach links – oder in diesem Falle rechts – liegen und folgen dem Tamaki Drive, der nun am Ufer der Okahu Bay entlangführt. Der Blick über diese mit vielen kleinen, auf dem Wasser schaukelnden Segelbooten gespickten Bucht ist atemberaubend, zumal am jenseitigen Ufer, uns genau gegenüber, die Skyline der Innenstadt Aucklands in voller Pracht und Schönheit zu sehen ist. Der Tamaki Drive hat hier etwas mehr Platz zwischen Steilufer und Wasser zur Verfügung, den man für die Anlage eines langgestreckten Parkplatzes genutzt hat, an dessen Ende nun das Ziel unserer kurzen Wanderung in Sicht kommt.

Es ist ein kleines, eingeschossiges Gebäude, das mit seinen gelben Wand- und den roten Dachziegeln ganz eindeutig in demselben Stil errichtet wurde wie der große Bau und sein kleiner Begleiter, die wir zuvor passiert hatten, so daß sich mir die Vermutung aufdrängt, daß die drei Gebäude einst zusammengehört haben mochten und möglicherweise eine größere Anlage bildeten. Als ich später interessehalber versuche, mehr darüber herauszufinden, erweist sich meine Annahme als richtig. Hier an der Okahu Bay hatte sich einst eine Abwassersammelanlage befunden, die den großen Vorzug hatte, kaum wahrnehmbar zu sein, hatte man die großen Behälter, in denen man das Abwasser der hiesigen Siedlungen sammelte, doch einfach in die Anhöhe des Bastion Points hineingebaut. Nach außen hin waren lediglich die kleinen Zugangsbauten und das große Gebäude, das wir an der Kurve passiert hatten, zu sehen, welches damals – noch ohne den Pfahlbau – als Pumpstation beziehungsweise Ventilhaus diente, mit dem man das Abwasser schließlich in den Hafen von Auckland pumpte.

Kelly Tarlton's Sea Life Aquarium in Auckland
Dieser kleine Bau, der einst zu der unterirdischen Abwassersammelanlage gehörte und vermutlich den Zugang zu dieser ermöglichte, ist heute das Empfangsgebäude von Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium. Mehr ist von diesem überirdisch auch nicht zu sehen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Daß diese Abwassersammelanlage heute nicht mehr existiert, ist an der Umwidmung der einstigen Pumpstation bereits abzulesen. Doch auch das kleine Gebäude, vor dem wir nun stehen, weist überdeutlich darauf hin. Seinen Zweck als Zugangsportal hat es zwar behalten, doch gewährt es heute zu einer völlig anderen Einrichtung Zutritt, wie die beiden großen, an der Frontseite aufgespannten Banner stolz verkünden. „ENTRANCE“„Eingang“ steht in großen blauen Lettern auf dem oberen, während das untere uns den Namen der Einrichtung verrät: Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium.

Hier wollen wir hin. Als Landratten, die wir nun einmal sind, ist dies die beste und einfachste Möglichkeit, auf eine Reise in die Unterwasserwelt der Meere Neuseelands zu gehen. Eine Reise, die zu machen wir uns fest vorgenommen hatten, gehört sie doch unabdingbar dazu, will man so wie wir diesen Zipfel der Welt ein bißchen besser kennenlernen. Denn diese besteht nun einmal nicht nur aus Landschaft und Städten, Land und Leuten, sondern eben – und das sogar zum weitaus größeren Teil – auch aus Wasser und dem, was darin ist.

Das Aquarium, vor dessen Eingang wir jetzt stehen, wurde im Jahre 1983 von Kelly Tarlton ins Leben gerufen, der seine Leidenschaft für das Tauchen zu seinem Beruf gemacht hatte, indem er als Meeresarchäologe Schiffswracks erforschte, eine Tätigkeit, die ihn immer wieder vor neue Herausforderungen stellte, zu deren Lösung er technische Lösungen finden mußte, was ihn schließlich auch zu einem maritimen Bauingenieur werden ließ. Darüberhinaus betätigte er sich erfolgreich als Unternehmer im Bereich des Meerestourismus. Zum Zeitpunkt der Gründung des Aquariums hatte er bereits zwei Museen initiiert: die nach dem von ihm untersuchten Wrack der Boyd genannte Boyd Gallery und das Museum of Shipwrecks – das Schiffswrackmuseum.

Um den Menschen aber nicht nur die historischen Schätze der Seefahrt, sondern auch die der maritimen Natur zugänglich und bekannt zu machen, gründete er schließlich das Aquarium, das 1985 unter dem Namen Kelly Tarlton’s Underwater World seine Pforten öffnete. Innerhalb von zehn Monaten wurde es in die nicht mehr benötigten Sammelbehälter des in den 1960er Jahren überflüssig gewordenen einstigen Abwasserwerks in der Anhöhe des Bastion Points eingebaut. Von Beginn an stieß das Aquarium auf riesiges Interesse und erwies sich als großer Besuchermagnet. Bereits sieben Wochen nach seiner Eröffnung konnte es seinen einhunderttausendsten Besucher begrüßen – ein Meilenstein, den sein Gründer noch miterlebte, bevor er nur einen Tag später im Alter von 47 Jahren an Herzversagen starb.

Dreiundzwanzig Jahre blieb das Aquarium selbständig, dann wurde es vom Unternehmen Village Roadshow aufgekauft, das es jedoch bereits drei Jahre später an Merlin Entertainments weiterveräußerte, eine britische Firma, die weltweit mehr als einhundertzwanzig Freizeiteinrichtungen betreibt, darunter solche Marken wie Madame Tussauds, Dungeons, Legoland und Sea Life. Letztere fand dann 2012 Eingang in die Bezeichnung des von Tarlton einst gegründeten Aquariums, das seitdem unter dem Namen Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium firmiert. So muß es uns nicht verwundern, daß wir den typischen Sea Life-Schriftzug auch hier auf den Transparenten am Eingang vorfinden – einen Schriftzug, den ich bereits aus meiner Heimatstadt Berlin zur Genüge kenne, haben wir doch auch dort ein Sea Life direkt im Zentrum. Und so erwarte ich denn, daß mir auch hier das typische Erscheinungsbild und Besuchererlebnis geboten wird, das ich bereits von dort und auch aus Sydney kenne, wo ich reichlich zwei Jahre zuvor das dortige Sea Life besucht hatte. Doch gleichzeitig – und das ist die Motivation für den Besuch – hoffe ich darauf, im hiesigen Aquarium einen regionalen Bezug vorzufinden, der es mir ermöglicht, die Unterwasserwelt der Meere Neuseelands näher kennenzulernen, eine Hoffnung, die ganz erheblich durch den Umstand genährt wird, daß es in seinem Namen immer noch den seines in Neuseeland geborenen Gründers mitführt.

Um allerdings überprüfen zu können, ob mich diese Hoffnung trügt oder ob sie sich erfüllen wird, muß ich das Aquarium zunächst einmal betreten. Und so machen wir uns nach einem letzten Blick über die sonnenbeschienene Okahu Bay und die darauf gemächlich hin- und herschaukelnden Segelboote auf den Weg zum Eingang. Glücklicherweise gestaltet sich die dafür notwendige erneute Überquerung des Tamaki Drives hier bedeutend einfacher als zuvor, da wir direkt vor dem kleinen Empfangsgebäude einen Fußgängerübergang mit Mittelinsel vorfinden. Anschließend treten wir durch das vergleichsweise kleine Eingangsportal und suchen die Kasse auf, um unsere Tickets zu erwerben. Der genaue Preis ist nicht in meinem Gedächtnis verblieben, wohl aber die Empfindung, daß er als durchaus stolz zu bezeichnen ist. Umgerechnet mehr als zwanzig Euro sind nicht gerade eine kleine Summe. Dafür gelingt es uns, dem Fotografen auszuweichen, der kurz hinter dem Eingang schon auf unser Kommen lauert, um ein total cooles Foto von uns aufzunehmen, das wir, digital bearbeitet und eingebettet in eine Unterwasserumgebung, später am Ausgang würden mitnehmen können. Aus einschlägiger Erfahrung wissen wir jedoch, daß wir den Preis für dieses total coole Foto, den wir dann zu bezahlen hätten, gar nicht so cool finden werden, und so lehnen wir dankend, aber bestimmt ab. Daß das wiederum als uncool empfunden wird, nehmen wir in Kauf.

Als wir endlich die eigentliche Ausstellung erreichen, erwartet uns eine Überraschung, mit der ich nicht gerechnet hatte. Denn anstatt in einer Unterwasserwelt finden wir uns in einem Bereich wieder, der sich mit dem südlichsten Kontinent der Erde beschäftigt: Antarktika. Der von uns oft auch verwendete umgangssprachliche Name Antarktis ist eigentlich nicht korrekt, da damit zum einen sowohl die Landmassen als auch die Meeresgebiete zwischen dem südlichen Polarkreis und dem Südpol bezeichnet werden, und zum anderen auch einige Landteile Antarktikas über den südlichen Polarkreis hinausreichen und so genaugenommen gar nicht mehr zur Antarktis zählen. Noch viel interessanter als das finde ich allerdings die Tatsache, daß Antarktika unseren guten alten Kontinent Europa in der Größe übertrifft. Hätte mich jemand danach gefragt, ich hätte es nicht gewußt.

Unser Weg durch die Ausstellung führt uns als erstes – in ein Blockhaus. Nun, es ist natürlich nicht wirklich ein Blockhaus, aber als wir diese Abteilung durchwandern, vermittelt sie uns beharrlich den Eindruck, in einem zu sein. Sämtliche Wände, die wir erblicken können, bestehen aus Holz. Und als ich einen Blick nach oben werfe, entdecke ich Holzbalken und eine Decke aus demselben Material. Eine große Tafel verrät uns, wo wir hier sind: in Scott’s Hut – einer Nachbildung der Hütte, die Robert Falcon Scott während seiner von 1910 bis 1913 andauernden Südpolexpedition im Jahre 1911 errichtet und benutzt hatte. Das echte Gebäude steht am Kap Evans, das sich an der Nordküste der Ross-Insel in der Antarktis befindet, und ist heute eine eingetragene Historische Stätte der Antarktis.

Wenn ich zuvor die Bezeichnung Hütte im Zusammenhang mit einer Südpolexpedition gehört oder gelesen hatte, stellte ich mir stets ein vergleichsweise kleines Gebäude vor. Um so überraschter bin ich, hier die Nachbildung eines Hauses zu durchstreifen, das wenigstens 15 Meter lang und etwa halb so breit ist und über mehrere Räume verfügt, von denen jeder seinen eigenen, eindeutig erkennbaren Zweck erfüllt. Der erste stellt eine Mischung aus Küche und Lager dar. Auf einfachen, mit Winkeln an den Wänden befestigten Regalbrettern stehen allerlei Nahrungsmittel in Flaschen, Dosen und Kartons, darunter lagern in kleinen Standregalen weitere lebenswichtige Dinge und Gerätschaften, die zum Zubereiten von Essen benötigt werden. Hier steht eine Küchenwaage, dort ein altmodischer Fleischwolf mit Handkurbel. An der Wand lehnt ein Strohbesen, an Haken, die an den unteren Regalbrettern befestigt wurden, hängen kleine Henkeltöpfe, Kellen, große Löffel und andere Kochutensilien. Schüssel aus Email, Eimer und große Kruken stehen ebenso herum wie ineinandergestapelte einhenklige Kasserollen. In der Mitte des Raumes befindet sich ein Holztisch, auf dem eine Packung Cracker neben zwei Schüsseln, einer Blechkanne und einem verschlossenen Töpfchen abgestellt wurde und ein Holzbrett darauf wartet, daß jemand kommt und etwas auf ihm kleinschneidet. An einem quer durch den Raum gespannten Seil hat jemand dicke Wollhandschuhe aufgehängt und auch einen metallenen Ring daran befestigt, von dem einstielige metallische Siebe oder Körbe herabbaumeln. Doch trotz der großen Vielzahl an Dingen, die hier aufbewahrt werden, herrscht eine peinliche Ordnung. Nichts scheint einfach achtlos abgestellt oder hingelegt worden zu sein.

Ein Raum weiter sieht die Sache dann schon wieder ganz anders aus. Hier herrscht nicht eben Chaos, wohl aber das bunte Durcheinander eines Raumes, in dem sich der größte Teil des Zusammenlebens in dieser Hütte abspielt. Denn den zahlreichen Schlafplätzen an den Wänden nach zu schließen, handelt es sich um einen Mannschaftsraum. Zwei hölzernen Doppelstockbetten haben sich einfache Pritschen mit ebenfalls hölzernen Rahmen zugesellt. Auf ihnen allen liegen Matratzen und Decken. In der Raummitte steht ein großer, langer Tisch mit mehreren Holzstühlen, deren Lehnen aus einem oben runden Rahmen bestehen, in den sechs Holzstäbe längs eingesetzt sind. Über dem Tisch hängen zwei Petroleum-Lampen von der Decke. Da wir auf einem mit Geländern abgesteckten festen Pfad durch die Hütte geführt werden und uns darin nicht frei bewegen können, kann ich nicht erkennen, ob sie wirklich mit Petroleum betrieben werden oder lediglich Attrappen sind, die ihr Licht elektrisch erzeugen. Ich vermute allerdings Letzteres, da weder etwas zu riechen noch auch nur eine Spur von Ruß auszumachen ist. Von peinlicher Ordnung kann in diesem Raum allerdings keine Rede sein. Zwar liegt das Bettzeug ordentlich auf den Matratzen, doch hängen jede Menge Wäschestücke an den Rahmenbrettern der oberen Liegen der zweistöckigen Betten. Weitere hat man an quer durch das Zimmer gespannten Seilen drapiert. Das mag für einen Wohnraum nicht unbedingt schön und angemessen wirken, doch muß man bedenken, daß die Bewohner der Hütte sich in der Antarktis befanden und die Wäsche nicht mal eben draußen zum Trocken auf die Leine hängen konnten. Auch auf dem Tisch steht und liegt allerlei herum. Aufgeschlagene und zugeklappte Bücher, mehrere Email-Töpfchen neben einer ebensolchen bauchigen Kanne, ein länglicher Holzkasten mit offenstehendem Deckel, in dem vermutlich Stifte oder Pinsel lagern, ein rundes Holzbrett mit einem großen Messer, ein hellbraunes Wollknäuel neben einem noch unfertigen, doch schon beträchtlich langen Schal in derselben Farbe, eine Rolle Klebeband und ein großer, blecherner, oben gewölbter und mit einem runden Aufsatz versehener Kasten, dessen Zweck ich mir nicht recht erklären kann – all das bildet ein buntes Durcheinander, das so wirkt, als seien die Männer, die es eben noch benutzt hatten, nur gerade mal schnell vor die Tür gegangen und kämen gleich zurück.

Im nächsten Zimmer kehrt die Ordnung wieder zurück, was angesichts des offenbaren Zweck des Raumes auch angeraten scheint. Er dient ganz augenscheinlich wissenschaftlicher Betätigung. Im Vordergrund steht auf einem Tischchen das säuberlich aufgebaute Skelett eines Vogels, der zu seinen Lebzeiten einen vergleichsweise langen Schnabel besaß und auf großen Füßen stand, deren drei Glieder in langen Krallen endeten. Auf der runden, hölzernen Basis des Skeletts ist ein Schild angebracht, auf dem ich mit Mühe die beiden Wörter King Penguin – Königspinguin – entziffern kann. Neben dem Skelett liegt ein aufgeschlagenes Heft, dessen Seiten mit vielen handgeschriebenen Zeilen bedeckt sind. Eine Brille mit kreisrunden Gläsern ist darauf abgelegt worden, deren Bügel in weiten Bögen enden, die beim Aufsetzen hinter die Ohren geklemmt werden und so einen besseren Halt der Sehhilfe versprechen. Sehr altmodisch. An den aus Brettern bestehenden Wänden befindet sich eine umlaufende Strecke aus flachen, aneinandergereihten Schränken, deren Oberseite offenbar als Arbeitsfläche dient. Hier sind neben Kästen und Büchern jede Menge gläserne Laborutensilien abgestellt, vorwiegend Reagenzgläser und Kolben, deren einige mittels metallischer Stangen und Schrauben zu Apparaturen zusammengesetzt sind. In einem Mörser liegt ein Stößel, davor sind zahlreiche kleine Näpfchen aus Porzellan aufgereiht. Auch ein altertümliches Mikroskop ist zu sehen. Über der Arbeitsfläche tragen an den Wänden angebrachte Regalbretter eine Vielzahl fein säuberlich beschrifteter Flaschen, einige mit Schraub-, andere mit einfachem Steckverschluß. Es ist eine Mischung aus Chemielabor, Biologieraum und vielleicht auch Apotheke, in die wir da blicken. Hier haben die die Expedition begleitenden Wissenschaftler ihre Untersuchungen angestellt und ihre Forschung betrieben.

Vom Labor gelangen wir schließlich in ein weiteres Schlafquartier. Hier gibt es keine Doppelstockbetten, sondern nur zwei einfache Holzpritschen, auf deren einer mehrere Decken herumliegen, die einen recht zerwühlten Eindruck machen. Zwischen den Pritschen, die zueinander in einem rechten Winkel angeordnet sind, befindet sich ein Wandtisch, der wieder mit aufgeschlagenen Büchern und handbeschriebenen Blättern bedeckt ist. Die Bretterwände des Raumes werden durch dicke Holzleisten in mehrere große Felder aufgeteilt, von denen einige Fotografien und Zeichnungen enthalten, die man an die Wand gepinnt hat. Auf den Querleisten haben die Bewohner des Raumes Bücher, Zigarrenkisten, Flaschen, Werkzeuge, kleine Lampen und vieles andere mehr abgestellt und sie so als schmale Regale nutzbar gemacht. Von der Decke hängt eine Petroleumlampe. Auf dem Boden stehen Kisten und Taschen herum, und auch ein Paar Stiefel kann ich vor einem der Betten entdecken, deren Schäfte wie aus Filz gefertigt wirken. Vermutlich ist es jedoch ein anderes Material, denn ich kann mir kaum vorstellen, daß Filzstiefel im Eis der Antarktis als taugliches Schuhwerk durchgehen würden. Angesichts der gegenüber dem anderen Schlaf- und Wohnraum deutlich größeren Zahl von Büchern und eindeutig persönlichen Dingen vermute ich, daß es sich bei diesem Raum um das Zimmer höhergestellter Expeditionsteilnehmer handelt, denen aufgrund ihres Ranges eine privatere Umgebung zugestanden wurde.

Wenn ich mir die Hütte und ihr Innenleben so ansehe, wird mir klar, daß sie nicht nur als zeitweilige Durchgangsstation, sondern eindeutig für einen längeren Aufenthalt ihrer Bewohner gedacht und eingerichtet worden ist. Und tatsächlich finde ich auf einer Erklärungstafel die Information, daß die „Antarktisforscher […] bis zu 3 Jahre lang in einer solchen Hütte [lebten], am kältesten, windigsten und trockensten Ort der Erde!“[1]Im Original heißt es: „Antarctic explorers spent up to 3 years living in a hut like this, in the coldest, windiest, driest place on Earth!“ Für Robert Falcon Scott sollte die Hütte Ausgangs- und Endpunkt seiner Expedition zur Entdeckung des Südpols werden, die offiziell als Britische Antarktis-Expedition in die Geschichte einging, nach seinem Schiff allerdings oft auch als Terra-Nova-Expedition bezeichnet wird. Doch Scott, der schließlich mit vier Begleitern in Richtung Südpol aufbrach, während der übrige Teil der Expeditionsteilnehmer in der Hütte verblieb, um deren Umfeld zu erkunden und wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen, sah diese nie wieder. Nachdem er und seine Gefährten den Südpol erreicht hatten, wo sie feststellen mußten, daß das von Roald Amundsen geführte norwegische Team ganze vierunddreißig Tage vor ihnen dort eingetroffen war, wurde ihr Rückweg von heftig fallenden Temperaturen und Stürmen stark erschwert. Sie kämpften sich dennoch voran, erlagen aber schließlich diesen und weiteren Widrigkeiten. Sie starben schließlich im Eis der Antarktis, nur achtzehn Kilometer vom rettenden One Ton Depot entfernt, das sie wegen eines nicht enden wollenden Schneesturms nicht mehr erreichen konnten.

Als wir die Nachbildung der Hütte, die den Besuchern des Aquariums seit 1994 die Geschichte der Terra-Nova-Expedition nahebringt, wieder verlassen, stehen wir vor einem stilisierten Eistunnel, durch den uns ein mit gläsernen Geländern versehener Steg hindurchführt. Es scheint nicht weiter schwierig zu sein, dort hindurchzugelangen, und so schreiten wir frohen Mutes voran. Doch kaum haben wir den Steg betreten, beginnen die Wände des Tunnels um uns zu rotieren. Wer so etwas noch nicht selbst erlebt hat und sich deshalb vielleicht fragt, was denn da wohl dabei ist, dem sei gesagt, daß es ein überaus schwieriges Unterfangen sein kann, einen unbeweglichen, stur geradeaus führenden Weg entlangzugehen, wenn die gesamte umgebende Welt um einen rotiert. Im Handumdrehen gelingt es mir beim besten Willen nicht mehr, auf gerader Linie voranzuschreiten. Ohne die Geländer, über deren Vorhandensein in einem Tunnel ich mich vorher noch gewundert hatte, wäre ich vermutlich erst vom Weg und dann vom Steg abgekommen und gegen die Wand gelaufen. Ich erfahre unmittelbar, wie abhängig wir als menschliches Wesen von unserer visuellen Wahrnehmung sind und wie orientierungslos wir schlagartig werden, wenn diese manipuliert wird, so daß wir ihr nicht mehr trauen können. Unser Gehirn ist auf eine solche Erfahrung einfach nicht vorbereitet. Obwohl sich der Steg nach wie vor überhaupt nicht bewegt, verspüre ich das körperliche Empfinden, auf ihm zu schwanken. Ich muß einen Moment innehalten, um mich zu konzentrieren und meinen Blick auf das Ende des Tunnels zu fixieren, bevor es mir gelingt, die optische Täuschung wenigstens einigermaßen abzuschütteln und wieder festen Tritt zu fassen. Dann habe ich die Röhre nach wenigen Sekunden verlassen.

Auf meinem Weg durch den Tunnel hatte ich das Lachen einiger Leute hinter mir vernommen, die vor dem Tunnel standen und uns beobachteten, wir wir unsicher wie zwei Betrunkene hin- und hertaumelten. Ein Anblick, der sie offensichtlich sehr amüsierte. Als ich nun zurückschaue, ist es an mir, mich zu amüsieren, denn obwohl sie uns zugesehen hatten und also wußten, was passieren konnte, ergeht es ihnen nun keinen Deut besser. Als hätten sie einen über den Durst getrunken, schwanken sie hin und her, klammern sich ans Geländer und versuchen krampfhaft, auf dem Weg voranzukommen. Ganz offensichtlich hatten sie sich vorher viel mehr damit beschäftigt, über uns zu lachen, als mit der Frage, woran unser merkwürdiges Verhalten wohl liegen und wie man ihm entgegenwirken könnte. Ich kann nicht behaupten, daß ich in diesem Moment nicht doch ein kleines bißchen Schadenfreude verspüre. Zumindest in den kleinen, nicht so wichtigen Dingen dieser Welt ist hin und wieder doch noch so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit am Werk…

Das Ende des Eistunnels, dessen Wände natürlich nicht aus echtem Eis bestehen, ist gleichzeitig der Eingang zum nächsten Bereich der Ausstellung in Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium. Die Antarktis haben wir noch nicht verlassen. Ganz im Gegenteil. Wir sind nun mittendrin im Antarctic Ice Adventure, dem antarktischen Eisabenteuer. Nun, ein wenig hochtrabend ist der Name ja. Offenbar hatte das Aquarium bereits 1994, als dieser Ausstellungsteil eröffnet wurde, große Marketingstrategen in seinen Diensten. Davon, daß wir nun durch Eis und Schnee stapfen, kann nämlich keine Rede sein. Eis und Schnee gibt es hier zwar, auch jede Menge davon bedeckter Felsen sowie Wasser, allerdings nicht für uns Besucher. Auch wenn ich über letzteres nicht traurig bin, ein bißchen Stapfen im Schnee wäre nicht das Schlechteste gewesen. Doch auch so haben wir jede Menge Spaß, denn das eisige Abenteuer wird hier einer kleinen Kolonie von Pinguinen geboten, die wir nun ausgiebig beobachten können. Allerdings nur hinter Glas. Geht das für das große Wasserbassin, in dem die Vögel pfeilschnell durch die Fluten schießen und in dem wir sie auch unterhalb der Wasseroberfläche beobachten können, völlig in Ordnung, ist es für den Landbereich ein wenig hinderlich. Infolge des Temperaturunterschieds zwischen unserem Besucherbereich und dem hinter der Glasfront liegenden Areal aus Eis und Felsen, in dem sich die Pinguine aufhalten, sind die Scheiben an vielen Stellen angelaufen und von Wassertropfen bedeckt, was die Sicht stellenweise stark behindert. Doch glücklicherweise gibt es noch genügend Bereiche, wo wir den vollen Durchblick haben und die würdig dreinblickenden, gesetzten Königspinguine ebenso eingehend betrachten können wie die kleinen frechen Eselspinguine.

Es ist beeindruckend zu sehen, wie behende sich die an Land so behäbig und schwerfällig wirkenden Tiere im Wasser bewegen. Mit weit ausgebreiteten Flügeln – nennt man die bei den flugunfähigen Pinguinen auch so? – gleiten sie wie kleine Segelflieger durch die Fluten – so schnell, daß es außerordentlich schwierig ist, wenigstens einen von ihnen dort einmal auf ein Foto zu bekommen. Wesentlich einfacher ist das an Land, um so mehr, als die kleinen Eselspinguine mindestens so neugierig sind wie wir menschlichen Besucher. Und so ergibt sich ein um’s andere Mal die absurd-komische Situation, daß sich ein Mensch und ein kleiner Pinguin zu beiden Seiten der sie trennenden Glasscheibe gegenüberstehen und einander eingehend betrachten. Auch ist offensichtlich, daß die kleinen grau-weißen Gesellen auf ihrer Seite der Scheibe wesentlich mehr Spaß haben als wir auf der unseren. Während wir nur durch einen vergleichsweise langweiligen Gang wandern können, von wo aus wir sie beobachten, tollen sie im Wasser herum und schlittern bäuchlings über’s Eis. Unermüdlich watscheln sie in ihrem behäbigen Gang eine kleine Anhöhe hinauf, um sich, oben angekommen, blindlings auf den Bauch fallen zu lassen und den Hang hinabzuschlittern, so den Beweis antretend, daß sie auch an Land durchaus flink unterwegs sein können. All diese Aktivitäten werden allerdings ausschließlich von den kleinen Eselspinguinen vollführt. Ihre größeren Gefährten, die Königspinguine mit den weißen Bäuchen, grauen Rücken und schwarz-gelben Köpfen, stehen ganz offensichtlich über solch profanen Dingen. In Gruppen von vier bis sieben Tieren stehen sie einfach nur da und starren auf die Felsen, die die Rückwand ihres Geheges bilden, uns menschlichen Besuchern dabei demonstrativ den Rücken zukehrend. Es dauert eine ganze Weile, bis es mir gelingt, einige Vertreter dieser Tiere, die es irgendwie fertigbringen, gleichzeitig distinguiert und gelangweilt auszusehen, wenigstens  einmal von der Seite auf ein Foto bannen zu können. Erst, als wir das Gehege gerade wieder verlassen wollen und ich mich noch einmal umdrehe, entdecke ich einen Königspinguin, der sich zu uns umgewandt hat. So komme ich doch noch zu einem Porträt eines dieser Herrschaften.

Als wir die kleine Kolonie verlassen, die Neuseelands einzige subantarktische Pinguine beherbergt, kommen wir zunächst an einigen kleineren, in die Wände eingelassenen Aquarien vorüber. Hier können wir einige Quallen beobachten, bei denen man sich große Mühe gegeben hat, sie durch besondere Beleuchtung für uns Besucher gut sichtbar werden zu lassen, sind sie doch normalerweise aufgrund ihrer durchsichtigen Körper im Wasser nur schwer zu sehen.

Wenige Schritte weiter betreten wir die Stingray Bay. Man hat hier offenbar jedem Ausstellungsbereich seinen ganz eigenen sprechenden Namen gegeben. Die Hauptattraktion der Stingray Bay ist definitiv das riesige offene Acrylbecken. Daß es 350 Kubikmeter Wasser faßt, glaube ich, als ich es zu Gesicht bekomme, sofort. Von weitem sehe ich zunächst allerdings nur vergleichsweise flaches Wasser auf einem sandigen Boden, auf dem hier und da einige große Felsbrocken verstreut sind. Als wir nähertreten, können wir über die Begrenzung des Beckens direkt in dieses hineinschauen. Da die Wände aus Glas bestehen, ist es mir, wenn ich in die Hocke gehe, auch möglich, unter die Wasseroberfläche zu schauen. So kann ich die Fische, die ich nun in dem großen Bassin hin- und herschwimmen sehe, sowohl von oben als auch von der Seite betrachten. Und da gibt es durchaus etwas zu sehen. Als ich durch die Glasscheibe blicke, schwimmt direkt vor mir ein großer Wrackbarsch vorüber. Ich bezweifle ein wenig, daß er in diesem Wasserbecken richtig glücklich wird, läßt es doch jegliche Art von Schiffswrack vermissen, dessen Hohlräume normalerweise seinen Lebensraum bilden. Am jenseitigen Ende wird das große Becken durch eine Felswand abgeschlossen. Dort, wo der Sandboden auf diese trifft, bemerke ich einen großen Schatten, der direkt vor dem Stein über den Boden gleitet. Als ich neugierig zur Schmalseite des Beckens gehe, um näher an diese Stelle zu gelangen, erweist sich dieser Schatten als großer Stachelrochen, der mit sanften wellenartigen Bewegungen seiner Seitenflossen ruhig über den Boden gleitet, seinen charakteristischen langen Schwanz hinter sich herziehend. Ein beeindruckendes Tier. Wäre der Boden des Beckens ebenfalls felsig, anstelle aus weißem Sand zu bestehen, wäre es vermutlich überhaupt nicht zu bemerken, sieht doch seine gesamte obere Seite wie ein einziger dunkelbrauner Stein aus. Fasziniert schaue ich dem großen Fisch eine Weile zu, wie er, stets knapp über dem Boden, durch das Wasser gleitet. Nun ist klar, warum dieses große Becken den Namen Stingray Bay – Stachelrochenbucht – trägt, auch wenn es eine Bucht ganz und gar nicht simulieren kann. Doch ein bißchen Marketingschwindelei gehört in der heutigen Welt halt einfach dazu. Als Entschädigung gibt es hier dafür einen Imbißstand, zu dessen Angebot und Qualität ich allerdings nichts sagen kann.

Von der Stingray Bay gelangen wir nun in den ältesten Teil des Aquariums. Die Pacific Shark Zone und der Shipwreck Explorer waren bereits bei seiner Eröffnung die Hauptattraktion – und sind es – völlig zu Recht – bis heute. Sollten wir von unserem bisherigen Fußmarsch etwas müde sein, können wir hier komplett auf das Laufen verzichten. Auf einer Art Transportband geht es nun in einen rund einhundertzehn Meter langen Tunnel aus Acrylglas hinein, der uns an deren Grund durch zwei überaus große Wasserbecken hindurchführt. Nun, genau genommen stimmt das nicht ganz. Tatsächlich ist unser Weg links und rechts von Seitenwänden begrenzt, die etwa einen Meter hoch sind. Auf diesen setzt dann die in einem perfekten Halbkreis gewölbte Tunneldecke aus Acrylglas auf. Zu unserer Linken und Rechten ebenso wie über uns ist dahinter nur Wasser, dessen Grund am oberen Rand der Seitenwände unseres Tunnels liegt. Wir sind also gewissermaßen in einem Tunnel und in einem Graben gleichzeitig unterwegs. Das Transportband nimmt nur einen Teil des Tunnelbodens ein, so daß es uns jederzeit möglich ist, von ihm herunterzutreten und stehenzubleiben, wenn wir an irgendeinem Punkt verweilen und einen eingehenderen Blick riskieren möchten.

Ein Tunnel im Wasser allein ist nun allerdings nichts wirklich Spektakuläres. Dies wird er jedoch durch das, was wir in dem Wasser zu sehen bekommen. Links und rechts und über uns schwimmen unzählige Fische aller möglichen Arten herum, die wir, wenn sie neugierig neben uns herziehen, in aller Ruhe beobachten können. Leider bin ich, was die Fauna maritimer Lebenswelten anbelangt, ein absoluter Laie, so daß mir die meisten Arten völlig unbekannt sind. Daß ich hier allerdings Schwarmfischarten ebenso wie Einzelgänger zu sehen bekomme, fällt sogar mir auf. Nun schwimmen diese Fische nicht einfach so im Wasser herum. Tatsächlich hat man sich große Mühe gegeben, ihnen einen Lebensraum zu schaffen, der dem originalen möglichst nahekommt. So sind auf dem sandigen Grund zahlreiche Felsen mit vielen kleinen und größeren Höhlen zu sehen und es wachsen zahlreiche Pflanzen darauf, die mindestens ebenso interessant sind wie die beweglichen Vertreter der Unterwasserwelt. Um das Ganze für die Besucher noch spannender zu machen – und auch dem Namen Shipwreck Explorer gerecht zu werden -, hat man diverse Holzkisten im Wasser versenkt. In einem bunten Durcheinander stehen sie nun auf dem Grund des Beckens herum oder sind im Sand versunken, wie ein gerade noch daraus hervorragender, gewölbter Truhendeckel beweist. Ganz offensichtlich sollen sie die Überreste der Ladung eines untergegangenen Schiffes darstellen, von dessen Wrack allerdings nichts zu sehen ist. Während wir so durch den Tunnel gleiten, bemerke ich an dessen Seitenwänden kleine Tafeln, die mir die verschiedenen Fischarten erklären. Und obwohl ich mir die Zeit nehme, einige zu lesen, bleibt mir leider keine davon in besonderer Erinnerung.

Vielleicht liegt das auch daran, daß ich plötzlich von einem großen Schatten abgelenkt werde, der unvermittelt über unseren Köpfen im Wasser vorbeizieht. Als ich nach oben blicke, läuft mir unwillkürlich ein Schauer über den Rücken, denn ich blicke direkt auf das mit Zähnen gespickte Maul eines großen Hais. Voller Würde zieht er gemächlich seine Bahn durch das Wasser, ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen. Seine lange Schwanzflosse schwingt dabei stetig hin und her. Es ist ein faszinierender und ob meines Wissens um die Gefährlichkeit dieses Meeresbewohners auch ein wenig gruseliger Anblick. Es ist schon bemerkenswert, daß mir der Anblick dieses großen Fisches eine solche Reaktion abnötigt und ich mich unwillkürlich glücklich schätze, von ihm durch die Acrylglaswand getrennt zu sein, während mir das Vorhandensein all dieser Wassermassen rings um mich herum, von denen mich ebenfalls nur diese vergleichsweise dünne Glasschicht trennt, vorher keinerlei Sorgen bereitet hat, obwohl ich nicht einmal schwimmen kann. Vielleicht rührt der Anblick dieses großen Tieres an gewisse Instinkte, die in uns Menschen angelegt sind und deren wir uns unter normalen Bedingungen gar nicht bewußt sind.

Der Hai zeigt mir, daß wir ganz offensichtlich die Pacific Shark Zone – die pazifische Haifisch-Zone – erreicht haben, die wir nun in dem Tunnel ebenso wie vorher den Shipwreck Explorer durchqueren. Und so bleibt er nicht der Einzige, den wir zu sehen bekommen. Den Erklärungstafeln zufolge können wir hier Bronzehaie, Kammzähnerhaie, Teppichhaie und Hundshaie beobachten, was ich einfach mal so hinnehme, denn wirklich unterscheiden kann ich die einzelnen Arten nicht. Dafür bin ich viel zu sehr mit angeregtem Staunen und vielfacher Bewunderung dessen, was ich hier zu sehen bekomme, beschäftigt. Manchmal ist es auch einfach nur schön und vollkommen genügend, etwas anzuschauen, zu genießen und zu bewundern, ohne daß ich es eingehend studieren und sezieren muß, um auch jedes Quentchen Information darüber einzusammeln.

Für ganz Mutige wird hier von Zeit zu Zeit noch eine besondere Attraktion geboten. Für einen zusätzlichen Obulus können sie sich in einem Netzkäfig durch das Haibecken ziehen lassen oder sich auch in einem Taucheranzug direkt hineinbegeben. In fachmännischer Begleitung, versteht sich. Nun, das soll tun, wer mag. Mir reicht der Blick des Beobachters von außen vollständig aus. Was ich mich allerdings frage, ist, wie man es schafft, die Haie hier in der Gefangenschaft bei Laune zu halten. Als Raubfische haben sie in der freien Natur einen sehr großen Bewegungsradius, der ihnen hier mit Sicherheit nicht dauerhaft geboten werden kann. Wie ich später erfahre, ist das tatsächlich ein besonders schwieriger Aspekt, mit dem das Aquarium von Beginn an zu kämpfen hatte. Als Kelly Tarlton damit begann, seine Idee von der Präsentation von Haifischen Wirklichkeit werden zu lassen, fing er viele der Tiere selbst. Sie im Aquarium anzusiedeln, war jedoch nicht so einfach, so daß es ihm erst nach mehreren gescheiterten Versuchen gelang. Doch gerade diese so robust erscheinenden Raubfische erwiesen sich in der Gefangenschaft als besonders empfindlich, so daß es eine große Herausforderung darstellte, sie hier am Leben zu halten. Um dies jedoch nicht in Tierquälerei ausarten zu lassen, ist man zu der Praxis übergegangen, in den Gewässern Neuseelands heimische Haie nur kurz in dem Becken der Pacific Shark Zone zu halten und sie anschließend wieder im Fanggebiet auszusetzen. Es ist ein Kompromiß, da gibt es nichts zu diskutieren. Doch letztlich ist es wohl eine akzeptable Lösung für die Frage, mit der sich jeder Zoo, jeder Tierpark, jedes Aquarium auf der Welt, das den Menschen die Tierwelt nahebringen will, auseinandersetzen muß: Wie kann dies gelingen, ohne daß den Tieren dabei durch dauerhafte Gefangenschaft und unzureichende Lebensräume Leid zugefügt wird? Manche mögen diese Frage damit beantworten, daß dies generell nicht möglich sei und derartige Einrichtungen deshalb generell abzulehnen sind. Sie müßten sich in der Folge allerdings überlegen, wie sie es dann erreichen wollen, daß die Menschen die Tierwelt unmittelbar erfahren und etwas darüber lernen können, um sie anschließend wirklich wertzuschätzen und im Idealfall für ihre Erhaltung selbst aktiv zu werden.

Während wir so durch das riesige Becken gleiten und die Fische beobachten, ist mir nicht bewußt, daß diese in Wirklichkeit viel größer sind, als wir sie sehen. Seine Ursache hat dieser Effekt in der Lichtbrechung, die sich zwischen der Luft, dem Glas und dem Wasser ergibt. Sie führt dazu, daß die Tiere etwa ein Drittel kleiner erscheinen, als sie tatsächlich sind. Den ersten Tunnel schuf Kelly Tarlton übrigens selbst, indem er die dafür nötigen Segmente in einem aufwendigen Verfahren persönlich herstellte. Ob der heutige Tunnel noch dieser erste ist, sprich noch immer aus diesen Teilen besteht, weiß ich allerdings nicht zu sagen.

Hin und wieder begegnet uns bei unserer Reise durch das Becken des Shipwreck Explorers und der Pacific Shark Zone auf der anderen Seite der Tunnelwände eine übergroße steinerne Skulptur, die ich zu diesem Zeitpunkt für Götzenbilder halte. Allerdings kann ich mir keinen rechten Reim darauf machen, was sie hier in der Unterwasserwelt zu suchen haben. Erst später kommt mir aufgrund der Ähnlichkeiten der Gedanke in den Sinn, daß es sich bei den Darstellungen wahrscheinlich um Bildnisse der Māori-Kunst handelt. Der Antwort auf die Frage, warum sie hier im Becken plaziert wurden, bringt mich das allerdings auch nicht näher. Zumindest ist mir nicht bekannt, daß die Māori sich als Meerestaucher betätigt und große, übermannshohe Skulpturen auf dem Meeresgrund errichtet hätten. Ich begnüge mich zu guter Letzt mit der Erklärung, daß es sich wohl einfach um eine Art Dekoration handelt, die dem Aquarium ein wenig Lokalkolorit verleihen soll. Ob man das nun für zweckmäßig oder einfach nur kitschig halten will, mag jeder für sich selbst entscheiden.

Als wir das Ende des Acrylglastunnels erreicht und das Transportband endgültig verlassen haben, gelangen wir unmittelbar zum nächsten Bereich der Ausstellung, der als Fish Gallery bezeichnet wird. Waren die Wasserbecken beziehungsweise Lebensräume in den bisherigen Ausstellungsteilen stets groß oder gar riesig, kommen wir nun an vielen kleinen und höchstens mittelgroßen Aquarien vorüber, in denen wir unterschiedlichste Meeresbewohner aus den Gewässern rund um Neuseeland betrachten können. In einem ist beispielsweise ein Meeraal zu sehen, der sich allerdings so gut zwischen den vielen in seinem Aquarium wuchernden grünen Pflanzen versteckt, daß wir nur seinen Kopf mit dem breiten Maul zu sehen bekommen. Ein anderes Aquarium beherbergt einen Hummer, der sich mit seinen zehn langen, gliedrigen Beinen erstaunlich flink über den steinigen Boden bewegt. Und in wieder einem anderen hat sich ein Krake an die Frontscheibe geheftet, so daß seine unzähligen Saugnäpfe zu sehen sind, die wie an einer Schnur aufgereihte Knöpfe erscheinen. Drei Aquarien – drei völlig unterschiedliche Lebensformen. Und davon gibt es hier in der Fish Gallery noch unglaublich viel mehr. Diese schier unerschöpfliche Vielfalt des Lebens unter Wasser ist unglaublich faszinierend.

Wir haben die Fish Gallery noch nicht umfassend erkundet, da stehen wir plötzlich vor einem großen roten Portal. Eine breite Tür mit zwei massiven Flügeln wird links und rechts von senkrechten Ornamentbändern eingerahmt, deren Darstellungen wie sich verzweigende Doppelpfeile aussehen. Quer über dem Durchgang ist in großen Lettern zu lesen, wohin er uns führen wird: ins Seahorse Kingdom – das Königreich der Seepferdchen, den vielleicht liebenswertesten Meeresbewohnern. Als ich hindurchblicke, kann ich jedoch zunächst nur ein einziges dieser Tiere entdecken, und das ist aus Stein. In gerader Linie hinter der Tür schaue ich auf eine Wandplatte, die das mannshohe Relief eines Seepferdchens zeigt. Der gesamte Raum, den wir nun betreten, ist wie ein geheimnisvoller, versunkener Bau des Altertums gestaltet. Die Wände geben vor, aus massivem Stein gemauert zu sein, in den verschiedene Reliefs eingearbeitet sind, die das gleiche Muster wie neben dem Portal zeigen. Ebenso wie dieses werden sie mit kräftigem, rotem Licht angestrahlt. Um den Eindruck eines versunkenen Baus zu verstärken, ranken sich von der Decke her kräftige Wurzeln über die Wände. An einigen Stellen geben die Steine, die natürlich nur imitiert sind, ein Stück Wand frei, die mit der Darstellung im Wasser stehender Bäume, zwischen denen sich eine Vielzahl von Lianen ranken, bemalt ist, so daß der Eindruck entsteht, man blickte durch ein Fenster oder eine Lücke in der Mauer hinaus in einen sumpfigen Urwald. In einem besonders großen dieser „Fenster“ hat man Wissenswertes über die kleinen Meeresbewohner, denen dieser Ausstellungsbereich gewidmet ist, zusammengetragen. Daß Seepferdchen einen Kopf wie ein Pferd und einen Ringelschwanz wie manche Affen besitzen, ist mir dabei nicht neu. Daß sie ihre Augen wie ein Chamäleon unabhängig voneinander bewegen können, hingegen schon. Auch daß sie zur Veränderung ihrer Farbe in der Lage sind, so daß es ihnen möglich ist, sich an ihren aus Schwämmen und Seegras bestehenden Lebensraum anzupassen, war mir bisher nicht bekannt. Der vielleicht überraschendste Fakt ist jedoch, daß bei den Seepferdchen die Männchen die Nachkommen zur Welt bringen, die in einem Beutel am Bauch ihres Vaters verbleiben, bis sie groß genug sind, um selbständig zu überleben. Manch einer mag das sicher gewußt haben, für mich ist es neu. Und so freue ich mich, daß ich so ganz nebenbei wieder etwas gelernt habe.

Nun will ich die kleinen Tierchen aber auch sehen, und so spazieren wir ein Stück weiter in das Königreich hinein, wo wir uns alsbald inmitten einer Vielzahl kleiner und größerer Aquarien wiederfinden, in denen wir auf eine kunterbunte Vielfalt verschiedenster Arten von Seepferdchen treffen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Wir betrachten Stachelige Pfeifenpferde und Dickbauchseepferdchen sowie viele andere Arten der kleinen Meeresbewohner. Einige leuchten in Rosa und Orange, andere sind von einem dunklen Braun, wieder andere scheinen fast durchsichtig zu sein. Hier treiben einige einfach so im Wasser, dort haben sich andere an einer Pflanze festgehakt, indem sie ihren Schwanz um deren lange Blätter geringelt haben. Und in einem Aquarium scheint ein Seepferdchenvater an der Scheibe seinem Seepferdchensohn – oder ist es eine Tochter? – zu erklären, was das für merkwürdige und gleichzeitig arme Wesen auf der anderen Seite des Glases sind, die dort auf zwei langen Extremitäten herumstaken und ganz ohne Wasser auskommen müssen, so daß ihnen nur übrig bleibt, mit der Luft vorliebzunehmen. Ich glaube, er meint uns.

Fasziniert gehe ich von einem Aquarium zum anderen, schaue hinein und versuche, all die kleinen Seepferdchen zu finden, die darin herumschwimmen. Manchmal ist das gar nicht so einfach, da sie sich farblich an ihre unmittelbare Umgebung angepaßt haben, ganz so, wie es auf der Wand am Eingang stand. Schließlich aber bin ich dann doch am letzten Aquarium in diesem Bereich vorübergekommen und wir verlassen das Seahorse Kingdom wieder, um in die Fish Gallery zurückzukehren.

Die Vielfalt des Artenreichtums der Unterwasserwelten, die mir bereits vorher so eindrucksvoll erschienen war, setzt sich nun unmittelbar fort. Stachelige Kugelfische, die sich aufblasen können wie kleine Ballonigel, farbenprächtige Doktorfische – die einen tiefblau gefleckt mit gelbem Schwanz, die anderen ebenso tiefblau, aber gepunktet und gestreift mit einem gelben Ring um die Augen -, Clownfische, Steinfische, Kaiserfische, Muränen, Piranhas – ich kann mir gar nicht alle Arten merken, die ich hier auf engstem Raum zu sehen bekomme. Dazu jede Menge farbenprächtiger Korallen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Langsam gehe ich von Aquarium zu Aquarium und betrachte diese – ich wiederhole mich gern – faszinierenden, völlig fremdartigen Lebenswelten. Man könnte meinen, durch viele kleine Fenster auf andere Planeten zu blicken, dabei ist all das auf unserer Erde zu finden.

Irgendwann sind wir dann allerdings doch am letzten Aquarium angelangt und damit nicht nur am Ausgang der Fish Gallery, sondern auch an dem der gesamten Ausstellung. Eine Tür bringt uns hinaus und – in den Souvenirladen hinein, der für alle von Merlin Entertainments betriebenen Einrichtungen offenbar obligatorisch ist. Man kann sie nicht verlassen, ohne an all den Dingen vorüberzugehen, die dem geneigten Besucher angeboten werden sollen, damit er nach dem schönen Erlebnis seinen nun hoffentlich lockerer sitzenden Geldbeutel zückt, um das Eine oder Andere als Erinnerungshilfe käuflich zu erwerben. Ich schaue nur flüchtig hin, denn ich weiß bereits aus Erfahrung, daß ich von all dem Kram und Klimbim nichts brauche. Und da wir hier nun auch keine in eine Unterwasserlandschaft eingebettete Fotografie von uns abzuholen brauchen, durchschreiten wir zügig den gesamten Laden und stehen kurz darauf wieder auf dem Parkplatz zwischen dem Eingang und dem Tamaki Drive am Ufer der Okahu Bay.

Kelly Tarlton's Sea Life Aquarium in Auckland
Damit auch niemand Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium übersieht, hat man an dem am Ufer der Okahu Bay befindlichen Parkplatz des Tamaki Drives am Fuße des Steilufers dieses große Werbebanner aufgehängt. Es stellt eindeutig die Pinguine als dessen Hauptattraktion heraus.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Zufrieden lasse ich das gerade Erlebte in Gedanken noch einmal Revue passieren. Zwar wurde ich – der Globalisierung, die dafür sorgt, daß alles allüberall gleich aussieht, sei Dank – in meiner Erwartung, was das gleichgeschaltete Erscheinungsbild und Besuchererlebnis des typischen Sea Life-Aquariums betrifft, nicht enttäuscht, doch war es dennoch ein schöner und interessanter Rundgang, den wir gerade absolviert haben, gab es doch – ganz wie erhofft – einiges hier zu sehen, was einen stark regionalen Bezug hatte und außerordentlich lehrreich war. Und mit dem antarktischen Ausstellungsbereich gleich zu Beginn wurde mir sogar mehr geboten, als ich erwartet hatte.

Während ich noch darüber sinniere, schweift mein Blick über die Weite der vor mir liegenden Okahu Bay und des Waitematā Harbours, von dem sie ein Teil ist. Angesichts der Vielzahl der Segelboote, die auf den Wellen schaukeln, und der ausgedehnten Anlagen des Hafens, die ich in der Ferne am jenseitigen Ufer ausmachen kann, kommt mir die Frage in den Sinn, wie lange es diese faszinierende Unterwasserwelt, in die ich gerade einen Blick geworfen habe, in der freien Natur wohl noch geben wird angesichts des großen negativen Einflusses, den die Menschheit mit ihrem Wirken darauf ausübt, ohne groß darüber nachzudenken und ihm auch nur wenigstens ein bißchen entgegenzuwirken. Das durch die Klimaveränderungen bewirkte Abschmelzen der Eismassen an den Polen der Erde ist dabei vielleicht der populärste Effekt, der stets und ständig in aller Munde ist, weil sich dadurch die Klimadebatte wunderbar befeuern läßt. Und so diskutiert man über den Wandel des Klimas und die Maßnahmen dagegen, ohne auch nur das Mindeste zu erreichen. Tatsächlich habe ich den Eindruck, daß die ganze Klimadebatte zu einer Art Ideologie aufgeblasen wird, mit der man ganz wunderbar den Versuch unternehmen kann, neue Profitquellen zu generieren und gesellschaftlichen Reichtum weiter in die falsche Richtung umzuverteilen. In Bezug auf das Klima, das man ja vorgibt, retten zu wollen, erzielt man jedenfalls bisher keine nennenswerten Erfolge. Ginge es wirklich darum, den Planeten und das vielfältige Leben darauf zu retten, bliebe die Diskussion nicht allein auf das Klima beschränkt. Man spräche stattdessen über die Um- beziehungsweise Mitwelt, von der das Klima ja nur ein Teil ist. Umweltverschmutzung und Raubbau wären ebenso Gegenstand der Debatte wie Überlegungen, was man dagegen tun könnte. Man fragte sich, warum der Verbrennungsmotor am Pranger steht, die großen mit Schweröl betriebenen Containerschiffe aber nicht, und warum man überhaupt soviele davon fahren läßt, anstatt viel mehr auf regionale Produktion zu setzen. Man diskutierte nicht nur über Kohlendioxid erzeugende Gas- und Kohlekraftwerke, man thematisierte auch die Verschmutzung der Meere. Man verteufelte nicht nur Öl und Kohle, sondern zuallererst jeglichen Krieg, jegliche Waffenproduktion und alle sonstigen ausschließlich destruktiven Unternehmungen. Überhaupt diskutierte man nicht nur, sondern packte endlich gemeinsam an. Stattdessen plant man „Maßnahmen“ wie Kohlendioxid-Zertifikate, die nichts anderes sind als der Versuch, das Problem mit genau dem kapitalistischen System von Handel und Profit zu lösen, das es hauptsächlich verursacht hat.

Allein, hier am Ufer der Okahu Bay ist von all dem nichts zu merken. Die Wellen schaukeln weiter die Boote und plätschern sanft ans Ufer, auf dem Tamaki Drive fahren Autos hin und her, ein sanftes Lüftchen weht uns um die Nase und die Sonne schickt ihre wärmenden Strahlen zu uns herunter. So lege ich diese Gedanken innerlich zur Seite und widme mich wieder dem heutigen Tag, der noch lange nicht vorüber ist. Schließlich haben wir gerade einmal den frühen Nachmittag erreicht und somit Zeit genug für weitere Unternehmungen. Weil aber unser nächstes Ziel doch ein ganzes Ende weiter entfernt ist als die Strecke, die wir zwischem dem Michael Joseph Savage Memorial und Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium zurückzulegen hatten, wollen wir es dem Auckland Explorer diesmal gestatten, uns zu unserem nächsten Ziel zu bringen. Und so stehen wir kurz darauf an der nahegelegenen Haltestelle mit dem gelb-blau-roten Schild und warten auf den nächsten Bus.

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Aus rechtlichen Gründen kann ich Aufnahmen aus dem Inneren von Kelly Tarlton’s Sea Life Aquarium leider nicht auf dieser Seite zeigen.
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Referenzen

Referenzen
1 Im Original heißt es: „Antarctic explorers spent up to 3 years living in a hut like this, in the coldest, windiest, driest place on Earth!“

Aussichten und Rückblicke

Dieser Beitrag ist Teil 6 von 10 der Beitragsserie "Reise nach Neuseeland & Singapur"
Wie ich eine Stadtrundfahrt machte, dabei in die Ferne sah und in die Geschichte blickte

Wie fängt man es an, eine völlig fremde Stadt von der Größe, sagen wir mal… Aucklands möglichst umfassend kennenzulernen, wenn man nur ganze vier Tage Zeit dafür hat?

Bereits am gestrigen ersten Tage unseres Aufenthaltes hier hatten wir vor dieser Frage gestanden und sie zunächst damit beantwortet, daß wir dem Sky Tower einen Besuch abstatteten, um uns einen Überblick zu verschaffen. Diesen dann gewonnen und für einen eingehenderen Besuch interessante Ziele identifiziert habend, waren wir dazu übergegangen, die nächstliegenden mittels eines ausgedehnten Spaziergangs durch die Innenstadt und einer kurzen Fahrt mit der Fähre aufzusuchen. Doch wie sollte es nun weitergehen? Wie würde es uns gelingen, all die auf unserer gedanklichen Wunschliste stehenden Sehenswürdigkeiten Aucklands aufzusuchen, die sich viel zu weit entfernt von unserer Operationsbasis – also unserem Hotel – befanden, als daß wir sie einfach zu Fuß erreichen könnten?

Glücklicherweise haben wir die Antwort auf diese für einen Touristen nicht ganz unwesentliche Frage an diesem herrlichen Morgen unseres zweiten Tages in der Stadt bereits gefunden. Wir waren auf sie gestoßen, als wir am Vortag bei unserem Besuch im Sky Tower an der Kasse einen Aufsteller mit allerlei Flyern und Broschüren entdeckt hatten, den wir sogleich durchstöberten. Dabei war uns auch ein Faltblatt in die Hände gefallen, das eine Einrichtung bewarb, die man extra für so unternehmungslustige und wißbegierige Touristen wie uns in dieser schönen Stadt geschaffen hatte: den Auckland Explorer Bus.

Dieses auskunftsfreudige Papier hatten wir natürlich ausgiebig studiert und wissen daher bereits, daß die Busse dieses Unternehmens auf zwei kreisförmigen Routen in der Stadt unterwegs sind, um deren interessierte Gäste an all die wichtigen und schönen Orte zu bringen, die aufzusuchen sie keinesfalls versäumen sollten, wollten sie die Stadt genügend kennenlernen. Daß sich die Kreisförmigkeit dieser Routen weniger auf ihre geometrische Form als auf die Tatsache bezieht, daß man nur lange genug mit einem der Busse mitfahren muß, um wieder an dem Ort zu landen, an dem man eingestiegen ist, versteht sich dabei von selbst.

Haltestelle des Auckland Explorers
Direkt zu Füßen des großen Sky Towers befindet sich eine der Haltestellen des Auckland Explorers – deutlich erkennbar an dem gelb-rot-blauen Schild.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Eine für uns passende Zustiegsmöglichkeit ist uns auch bereits bekannt, denn beim Verlassen des Sky Towers tags zuvor waren wir direkt vor diesem in der Victoria Street auf eine Haltestelle des Auckland Explorers gestoßen. Als wir daher unser Hotel an diesem Morgen verlassen, lenken wir unsere Schritte wieder in Richtung des großen Turms, den wir jedoch diesmal links liegen beziehungsweise stehen lassen, um uns zu der Haltestelle zu begeben, die eines der in den Farben Gelb, Blau und Rot gehaltenen Schilder als Haltepunkt des Auckland Explorers kennzeichnet. Darauf steht alles Wesentliche, was man wissen muß: daß man jederzeit ein- und aussteigen kann, so man im Besitz eines gültigen Tickets ist, wann der erste und wann der letzte Bus fährt und daß man alle dreißig Minuten mit einem von ihnen rechnen kann. Auch die Nummer des Stops auf der Route des Busses durch die Stadt ist hier zu lesen: 8.

Der bereits erwähnte Flyer gibt Auskunft über jeden dieser Stops, so daß man hinreichend informiert ist, um entscheiden zu können, ob man den Bus dort verlassen will, um sich genauer umzuschauen, oder ob man doch lieber weiter mitfährt. Das Faltblatt liefert uns auch weiterführende Informationen, die wir auf dem Haltestellenschild nicht finden. Beispielsweise, daß die Busse auf der Route nur in eine Richtung unterwegs sind. Nun, das ist bei einer Linie, die im Kreis fährt, nicht unbedingt eine Überraschung. Auch über den Fahrpreis werden wir informiert. Es gibt Tickets für einen Tag oder für zwei. Erwirbt man eines, kann man während der gesamten Dauer der Gültigkeit mit dem Bus mitfahren und so oft ein- und aussteigen, wie man möchte. Das erscheint uns als ungemein praktische Einrichtung für die ausgiebige Erkundung der Stadt, die wir vorhaben. Zu guter Letzt erfahren wir noch, daß die beiden Routen farblich gekennzeichnet werden. Es gibt eine rote und eine blaue. Oder, wie man sie hier nennt, die Red Route und die Blue Route. Hier am Sky Tower verkehren die Busse der ersteren.

Wir müssen nicht lange warten, da hält auch schon einer der gelb-blauen Busse vor uns und wir steigen ein. Wir erwerben je ein Ticket für zwei Tage, denn schließlich planen wir nicht einfach nur eine Stadtrundfahrt, sondern wollen hier und da auch die Möglichkeit haben, auszusteigen und eingehendere Betrachtungen anzustellen. Und dafür wird ein einzelner Tag aller Voraussicht nach kaum ausreichend sein.

Einen genauen Plan haben wir zu diesem Zweck allerdings nicht ausgearbeitet – jedenfalls keinen, der über das erste Ziel hinausreicht. Zu diesem haben wir an diesem Tag den Mount Eden erkoren, den höchsten Vulkan im Stadtgebiet Aucklands, der uns tags zuvor auf dem Sky Tower so prominent ins Auge gefallen war. Ihn zu erreichen, erweist sich dann allerdings doch als die Art Stadtrundfahrt, die wir so eigentlich gar nicht vorhatten, denn der Berg liegt auf der blauen Tour des Auckland Explorers. Und wie wir schnell herausfinden, gibt es nur eine einzige Möglichkeit, von der Red Route zu dieser zu wechseln: am Auckland War Memorial Museum. Dieses liegt zwar nur vier Stops von unserem Einstiegspunkt entfernt, allerdings in der falschen Richtung. Und so werden wir zunächst etwa drei Viertel der roten Tour absolvieren müssen, um zu dem Umsteigepunkt zu gelangen.

Nun, das soll uns nicht verdrießen. Nach der ausgedehnten Stadtwanderung vom Vortag ist es eigentlich gar nicht so verkehrt, wenn wir nun erst einmal ein wenig durch die Stadt kutschiert werden. Zu sehen gibt es jedenfalls genug.

Zunächst geht es zum uns schon bekannten Viaduct Harbour, wo wir die Waterfront erreichen und in die hier beginnende Quay Street einbiegen, die es nun entlanggeht. Das gibt uns die Gelegenheit, den die einstigen Hafenanlagen begrenzenden Roten Zaun in seiner gesamten Ausdehnung zu betrachten. Als wir das Ferry Building passiert haben und am Queens Wharf vorüberfahren, stellen wir einigermaßen überrascht fest, daß in der Zeit, die seit unserem letzten Besuch an der Waterfront am vorangegangenen Abend vergangen ist, ein Kreuzfahrtschiff daran festgemacht hat. Aus der unmittelbaren Nähe, in der wir daran vorüberfahren, betrachtet, erweist es sich als wahrer Koloß, der, was Höhe und Länge angeht, mit dem Ferry Building mehr als mithalten kann. Auch wenn ich die Gesetze der Physik, die das ermöglichen, durchaus verstehe, wundere ich mich jedesmal, wenn ich solch ein riesenhaftes Schiff sehe, doch auf’s Neue, wie sich ein solcher Kasten überhaupt auf der Wasseroberfläche halten kann, ohne sofort in den Tiefen zu versinken. So aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen, wie ich Menschen für gewöhnlich erlebe, muß der Erste, der einst vorgeschlagen haben mag, Schiffe dieser Größe aus Stahl zu bauen, sicher für komplett verrückt erklärt worden sein…

Auch als das einstige Hafengelände in das heutige übergeht, setzt sich der Rote Zaun fort, nun auch dieses begrenzend. Da es hier jedoch weitaus weniger Zugänge zu den Hafenanlagen gibt, zieht er nun meist als einfacher roter Gitterzaun an uns vorüber. Dahinter wechseln moderne Hafengebäude, große Lagerhallen, scheinbar endlose Reihen übereinandergestapelter Frachtcontainer und riesige Hafenkräne einander ab. Nur die Wasserfläche des Waitematā Harbours ist zwischen all dem nirgends mehr zu erblicken. Diese sehen wir erst wieder, als das zu unserer Linken gelegene Hafengelände am Tamaki Drive, in den die Quay Street inzwischen übergegangen ist, endet.

Hatte ich den Anblick des Wassers bis eben noch vermißt, bekomme ich ihn nun gleich doppelt geboten, denn auch rechts der Straße ist das Land von dieser zurückgetreten und hat einem großen Wasserbecken Platz gemacht. Fast könnte man meinen, wir wären nun auf dem Wasser unterwegs. Tatsächlich führt der Tamaki Drive hier auf einer Art Damm entlang, der den Waitematā Harbour von der Hobson Bay trennt, einer nach William Hobson, dem ersten Gouverneur Neuseelands, benannten Bucht. Als wir deren gegenüberliegende Seite erreicht und den in den 1920er Jahren errichteten Damm verlassen haben, führt der Tamaki Drive als Uferstraße an der Küste des Waitematā Harbours entlang.

Als die Straße, auf der unterwegs sind, kurz darauf der Biegung einer kleinen Bucht namens Okahu Bay folgt, wobei uns nur eine Reihe alter Bäume von einem breiten Sandstrand trennt, verkündet eine der Lautsprecherdurchsagen, mittels derer man uns zu allen wichtigen Sehenswürdigkeiten, die der Bus passiert, Wissenswertes mitteilt, daß wir gerade „Tāmaki Makau Rau“ passieren, die von hundert Liebenden begehrte Landenge, wie die Māori den Isthmus von Auckland nennen – die schmalste Stelle zwischen Pazifik und Tasmanischer See. Ganze elf Kilometer ist Neuseeland hier breit. Leider sind wir am Ufer nicht hoch genug, um beide Meere gleichzeitig sehen zu können. Doch immerhin wissen wir nun, woher der Tamaki Drive seinen Namen hat.

Am Tamaki Drive
Hinter dem segelbootgespickten Waitematā Harbour erhebt sich die Skyline der Innenstadt von Auckland … fast wie eine Fata Morgana.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Weiter und weiter entfernen wir uns von der Innenstadt Aucklands, die nun schon ein ganzes Stück hinter uns liegt. Die Windungen der Küste ermöglichen es uns, den Blick immer wieder in unterschiedliche Richtungen schweifen zu lassen. Mal schauen wir auf Rangitoto Island, die grüne Insel mit dem großen Vulkankegel, der wir nun schon bedeutend näher gekommen sind, dann wieder können wir eine schöne Aussicht auf den mit Segelbooten gespickten Waitematā Harbour und die dahinterliegende Skyline der Innenstadt mit dem sie überragenden Sky Tower bewundern. Auf der rechten Straßenseite ist inzwischen nur noch ein grüner Hang zu sehen, aus dem immer wieder Felsen herausragen. Wir fahren am unteren Ende eines Steilufers entlang.

Als sich kurz darauf ein schmales Asphaltband von der Uferstraße, auf der wir unterwegs sind, löst und den Hang erklimmt, folgt ihm unser Bus und erreicht kurz darauf den am oberen Ende des Steilufers gelegenen Bastion Point. Ganz offensichtlich haben wir den Endpunkt unserer Fahrt entlang des Waitematā Harbours erreicht, denn als sich der Bus nach kurzem Aufenthalt wieder in Bewegung setzt, fährt er schlicht den Weg zurück, den wir gekommen sind. Zunächst denken wir uns nichts dabei, denn schließlich müssen wir aus der Sackgasse, als die sich die Straße hinauf zum Bastion Point erwiesen hat, wieder hinauskommen. Als wir jedoch den Fuß des Steilufers und damit den Tamaki Drive wieder erreicht haben und der Bus die Rückfahrt auf bereits bekannter Strecke unbeirrt fortsetzt, gestatten wir uns doch einen Augenblick der Verwirrung. Sollten wir nicht auf einem Rundkurs unterwegs sein? Hatten wir etwas mißverstanden?

Ein Blick in das Faltblatt des Auckland Explorers und auf den darin enthaltenen Routenplan löst das Rätsel: der Ausflug zum Bastion Point ist ein etwas ausgedehnter, aber planmäßiger Abstecher vom eigentlichen Rundkurs, den wir etwa dort, wo wir die Hafenanlagen hinter uns gelassen hatten, wieder erreichen würden. Und richtig, kaum haben wir die Hobson Bay ein weiteres Mal passiert, biegt unser Bus nach links ab und fährt ins Landesinnere hinein. Es geht zunächst die Gladstone Road und dann die St. Stephens Avenue hinauf, was uns durch einen Teil Aucklands führt, dem ich einen ausgesprochenen Vorstadtcharakter attestieren würde. Kleine, maximal zweistöckige Reihenhäuser flankieren hier die Straße, stets umgeben von mehr oder minder großen, grünen Gärten und von der Straße bis auf wenige Ausnahmen stets durch wenigstens einen blickdichten Zaun, meist aber eine mittelschwer massive Mauer getrennt. Ob man hier wohl schlechte Erfahrungen gemacht hat? Oder will man einfach nur seine Ruhe haben?

Mir bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn plötzlich fahren wir an einem großen Bau mit großer Glasfront und einem eigentümlich geformten Dach vorüber, das auf den ersten Blick wie ein auf dem Kopf stehendes großes W aussieht, bei genauerem Hinsehen dafür aber einen Zacken zuviel besitzt. Die bei bemerkenswerten Sehenswürdigkeiten stets verläßlich ertönende Lautsprecherdurchsage verkündet fröhlich, daß wir die Holy Trinity Cathedral vor uns haben – die Kathedrale der Heiligen Dreifaltigkeit. Ein interessanter Bau. Und einen Routenstop gibt es hier auch. Ich mache mir eine gedankliche Notiz. Verflixt, auf diese Weise wird die Liste der Orte in Auckland, die ich gerne noch aufsuchen möchte, wieder ein Stück länger statt kürzer.

Bis zum nächsten Stop muß unser Bus nun nur noch eine kurze Wegstrecke zurücklegen, auf deren letztem Stück es leicht bergauf geht. Das ist allerdings nicht verwunderlich, denn das Auckland War Memorial Museum, das wir als nächstes erreichen, befindet sich inmitten der Auckland Domain auf einem weiteren der im Stadtgebiet so zahlreich verteilten Vulkanhügel. Wir nähern uns dem großen Museumsbau aus südöstlicher Richtung über die Maunsell Road, wodurch er uns zuerst seine wenig spektakuläre Ostseite und eine große Toreinfahrt im darunter abfallenden Hang zuwendet, über der in großen Lettern „LOADING DOCK“ geschrieben steht. Man könnte auch sagen, wir werden vom Lieferanteneingang begrüßt.

Das muß uns jedoch nicht grämen, denn unser Bus schwenkt nun nach rechts auf eine Straße ein, die um den gesamten Museumsbau herumführt. Auf diesem Ring umrunden wir auf dem Weg zur nächsten Haltestelle einmal das riesige Gebäude. Warum dessen erster Abschnitt den Namen Cenotaph Road trägt, erschließt sich uns sofort, als wir in einer weiten Biegung die Vorderfront des Auckland War Memorial Museums erreichen, wo unser Bus auf Schrittgeschwindigkeit abbremst. Die ihr vorgelagerte große, leicht ansteigende Freifläche ist ganz offensichtlich als Gedenkstätte gestaltet, deren zentrales Element ein Kenotaph ist, ein riesiges Ehrengrabmal, dessen schmale Vorderseite ein großer steinerner Kranz schmückt, unter dem die Worte eingraviert sind:

THE GLORIOUS DEAD

Die glorreichen Toten, denen mit dieser Gedenkstätte gedacht wird, sind die neuseeländischen Soldaten, die in den beiden Weltkriegen ihr Leben lassen mußten. Doch nicht nur der Kenotaph ist ihrer Erinnerung gewidmet, sondern sein gesamtes unmittelbares Umfeld, das als Court of Honour – Ehrenhof – bezeichnet wird und geweihtes Gelände ist. Die langsame Fahrt unseres Busses ist also wohl eher als Ehrbezeigung und Rücksichtnahme zu verstehen denn als uns Fahrgästen eine eingehende Betrachtung ermöglichende Maßnahme.

Die Kriegsgedenkstätte vor dem Auckland War Memorial Museum
Direkt vor dem Auckland War Memorial Museum erhebt sich auf geweihtem Boden ein Kenotaph, der an die Toten der großen Weltbrände erinnert.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als wir die Gedenkstätte und damit die Vorderseite des dahinter aufragenden Museums passiert haben, fährt unser Bus weiter auf der Ringstraße, die nun passenderweise Museum Circuit heißt, um den großen Bau herum, bis wir an dessen jenseitigem Ende angekommen sind, wo sich der Besuchereingang befindet. Hier ist demzufolge auch die Haltestelle plaziert worden, an der unser Bus nun zum Stehen kommt, was uns die Möglichkeit gibt, ihn zu verlassen. Doch bevor wir nun auf die blaue Route umsteigen, nehmen wir uns die Zeit, noch einmal zu der großen Gedenkstätte zurückzulaufen, die wir noch etwas genauer in Augenschein nehmen wollen.

Ihr neben dem Kenotaph vielleicht auffälligstes Merkmal ist ohne Zweifel die sich vor diesem aus dem Boden erhebende, große geneigte Fläche in ehrwürdiger blau-schwarzer Farbe. Bereits von weitem ist zu sehen, daß sich ihre Oberfläche in steter Bewegung zu befinden scheint, ein Effekt, der, wie wir feststellen, als wir nähertreten, von Wasser verursacht wird, das in einem dünnen Film beständig darüberrinnt. Darunter ist ein großes Emblem zu erkennen, das von zwei Farnwedeln gebildet wird. In deren Mitte sind die Worte gesetzt:

LEST WE FORGET

„Damit wir nicht vergessen“. Wie schön wäre es doch, wenn die Menschen dies nicht nur auf Erinnerungstafeln und Denkmäler schrieben, sondern es auch endlich einmal beherzigten.

Als ich genauer hinsehe, bemerke ich, daß die Blattstiele der beiden Farnblätter von Worten gebildet werden. Sie lauten:

They shall grow not old, as we that are left grow old:
Age shall not weary them, nor the years condemn.
At the going down of the sun and in the morning
We will remember them.

Wie ich später herausfinden werde, handelt es sich dabei um die aneinandergereihten Zeilen der vierten Strophe eines Gedichts von Lawrence Binyon, das den Titel „For the Fallen“ – „Für die Gefallenen“ trägt. Binyon schrieb es einst als Erinnerung an die englischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg den Tod gefunden hatten. Jene vierte Strophe findet sich im englischen Sprachraum auf zahlreichen Kriegerdenkmälern und ist selbst als „Ode of Remembrance“ – „Ode des Gedenkens“ bekannt. So ist es kaum eine Überraschung, daß wir sie nun auch hier vorfinden. Eine ungefähre Übersetzung lautet:

Sie werden nicht altern, so wie wir, die übrig sind, alt werden:
Das Alter wird sie nicht ermüden, noch werden die Jahre sie verurteilen.
Im Untergehen der Sonne und am Morgen
werden wir uns ihrer erinnern.

Nun, heutigentags, da die Generationen, die sich noch erinnern können, diese Welt ihren Nachfahren mehr und mehr überlassen müssen, wird ein aufmerksamer Beobachter wohl festzustellen haben, daß diese Erinnerung stetig zu verblassen scheint. Sieht man sich das Weltgeschehen an, könnte man den Eindruck gewinnen, daß Denkmäler wie dieses nur noch steinerne Überreste von Ereignissen sind, die für heutige Generationen weit, weit zurück liegen – vergangen und verblaßt. Kaum jemand scheint sich noch vorstellen zu können – oder es auch nur zu versuchen -, welche Schrecken die beiden großen Kriege einst über die Welt gebracht haben. Allerorten wird provoziert und gezündelt und Krieg als Mittel zur Erreichung irgendwelcher Ziele nicht nur in Betracht gezogen, sondern auch bedenkenlos angewandt. Der nächste große Weltenbrand scheint da längst gar nicht mehr so fern. Und niemanden scheint es zu kümmern, daß danach wohl keiner mehr da sein wird, der noch Denkmäler wie dieses errichten könnte.

Die Kriegsgedenkstätte vor dem Auckland War Memorial Museum
Das Farnblatt-Emblem mit den Worten „Lest we forget“, über das beständig Wasser rinnt, ist ein wahrlich ehrwürdiges Erinnerungsmal.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als ich mich umsehe, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich an diesem Ort in die Erinnerung an die Toten der beiden Weltkriege auch ein gewisses Maß ungesunder Heldenverehrung gemischt hat. Was sonst haben an solch einem Gedenkort zwei große Geschütze verloren? Sie stehen zwar nicht direkt bei dem Kenotaph, wohl aber davor, die große, geneigte Tafel flankierend. Wie ich später herausfinde, hatte man sie in den 1930er Jahren zunächst zwischen dem Museum und dem Ehrenmal aufgestellt. Einen Weltkrieg später empfand man diese Plazierung dann wohl aber doch als unpassend, denn schließlich war das direkte Umfeld des Kenotaphs bereits damals geweihter Boden. So versetzte man die Geschütze in den 1950ern an ihren heutigen Standort vor dem Ehrenmal, zur Linken und Rechten der großen Tafel. Angesichts der Tatsache, daß sie heute immer noch hier stehen, frage ich mich aber dennoch, was man mir damit eigentlich sagen möchte.

Ich wende meinen Blick von diesen beiden unerfreulichen Gegenständen ab und meine Aufmerksamkeit dem großen Museumsgebäude zu, daß sich hinter der Gedenkstätte erhebt. Weil sich diese an dem sanft abfallenden Hang des vulkanischen Hügels befindet, auf dessen Gipfel das Museum steht, ist sie in mehrere Terrassen unterteilt, zwischen denen Stufen den Höhenunterschied überwinden helfen. So erinnert die Gedenkstätte auch ein wenig an eine riesige Freitreppe, die Stück für Stück zu dem großen Bau hinaufführt.

Den klassizistischen Baustil, in dem das Museumsgebäude gehalten ist, erkennt man auf den ersten Blick, erinnert es doch insbesondere mit seinem großen, von acht Säulen (Sind es dorische oder ionische? Ich kann das nie unterscheiden.) getragenen Hauptportal an einen griechischen oder römischen Tempel. Nun, wenn ich allerdings bedenke, daß das Gebäude erst zwischen 1925 und 1929 errichtet wurde, so muß man wohl eher von Neoklassizismus sprechen. Wie dem auch sei, dieser am 18. November 1929 eingeweihte und seitdem zweimal – 1950 und 2000 – erweiterte Bau ist keineswegs der erste, in dem das Museum untergebracht ist. Denn dieses ist sehr viel älter. Und zwar so viel, daß es sogar das älteste Museum Neuseelands ist.

Das Auckland War Memorial Museum
Das Auckland War Memorial Museum kann seinen neoklassizistischen Charakter wahrlich nicht verleugen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Gegründet wurde es nämlich bereits im Jahre 1852 in Grafton, einem Vorort Aucklands. Sein allererstes Gebäude läßt sich allerdings in nichts mit dem heutigen vergleichen, war es doch lediglich ein kleines Bauernhaus mit nur zwei Räumen. Siebzehn Jahre beherbergte es die damals noch sehr kleine Ausstellung, bis man für diese 1869 einen Neubau in der Innenstadt Aucklands errichtete. Diesen nutzte das Museum sechzig Jahre, in denen sich seine Sammlung stetig erweiterte, bis schließlich ein noch größeres Gebäude erforderlich wurde, das dann in den 1920er Jahren in Form des heutigen Baus Gestalt annahm. Bei seiner Errichtung hatte man von vornherein im Auge, daß er nicht nur Museumsgebäude, sondern zugleich Gedenkstätte für die Teilnehmer des zurückliegenden Ersten Weltkrieges sein sollte. Diesen Status behielt er bis zum heutigen Tag, ist er doch die zentrale Kriegsgedenkstätte für die Provinz von Auckland.

Mittlerweile ist die Abfahrtszeit des nächsten Busses der blauen Route nähergerückt. Und so begeben wir uns wieder zurück zur Haltestelle an der gegenüberliegenden, hinteren Seite des Museums, denn wir haben unser eigentliches Ziel natürlich nicht aus den Augen verloren – den Mount Eden.

Unsere Fahrt führt uns noch einmal an der Gedenkstätte mit dem Kenotaph vorüber, bevor es anschließend zum Parkausgang der Auckland Domain geht. Dabei kommen wir an den sogenannten Domain Wintergardens vorüber, zwei großen, gläsernen Gewächshäusern aus den Jahren zwischen 1916 und 1928. Kurz darauf biegen wir in die Park Road ein und verlassen so den großen Park der Auckland Domain.

Unser Bus folgt nun der großen Straße, die ihren Namen alsbald in Mountain Road ändert, was uns als deutlicher Hinweis auf das sich nähernde Ziel unserer Fahrt durch die Stadt erscheint. Als wir kurz darauf den Haltepunkt Eden Garden erreichen, befinden wir uns bereits am Fuße des Mount Eden. Der als „verstecktes Juwel“ Aucklands bezeichnete Eden Garden ist ein im Jahre 1964 in einem ehemaligen Steinbruch angelegter öffentlicher Garten, den zu besuchen sich sicher lohnen würde. Doch leider ist unsere Liste von Zielen, die wir in Auckland nach Möglichkeit besuchen möchten, mittlerweile schon so stark angewachsen, daß ich schweren Herzens darauf verzichte, ihn auch noch darauf zu setzen.

Als sich der Bus wieder in Bewegung setzt, fährt er zu meiner Überraschung den Weg wieder zurück, den er gekommen ist. Schon wieder. Doch glücklicherweise ist das nicht von Dauer, denn als er, die Mountain Road in entgegengesetzter Richtung entlangfahrend, die Clive Road erreicht, biegt er in diese ein. An der von den beiden Straßen gebildeten Ecke liegt ein riesiges Grundstück, das von einer Feldsteinmauer begrenzt wird, hinter der sich eine Reihe großer, alter Bäume befindet, die den Blick weitgehend behindern, so daß von dem Grundstück zunächst nicht viel zu sehen ist. Weil aber die Einfahrt zu dem Areal genau an der Straßenecke liegt, kann ich dennoch einen eingehenden Blick darauf werfen, als unser Bus langsam die Kurve beschreibt, die ihn in die Clive Road führt. Der Zufahrtsweg führt in einer kurzen Biegung zu einem großen, zweistöckigen Haus, das mit seiner weißen, hölzernen Fassade, seinem schrägen Dach und seiner Veranda, die im ersten Stock direkt über dem vorspringenden Eingangsportal liegt, wie ein Wohnhaus wohlhabender Bürger Aucklands wirkt. Tatsächlich wurde es im Jahre 1904 von Frederick Wilson, einem Zeitungsverleger, erbaut. Aufgrund der das Grundstück umgebenden steinernen Mauern nannte man es ursprünglich Kowhatu, was Stein bedeutet. Heute ist es unter dem Namen Tibbs House bekannt und dient der Auckland Grammar School als Wohnheim. Diese 1850 gestiftete und 1869 eröffnete Schule ist eine der ältesten und größten des Landes und ausschließlich Jungen vorbehalten.

Von der Clive Road ist es nun nicht mehr weit, bis wir den nächsten Haltepunkt erreichen, der für uns das Ziel unserer bisherigen Fahrt darstellt. Das letzte Stück geht es bereits leicht bergauf, so daß wir, als wir den Haltepunkt erreicht haben und den Bus verlassen, schon ein kleines Stück der Höhe des Mount Eden erklommen haben. Den weitaus größeren Teil haben wir jedoch noch vor uns. Diesen gilt es nun zu Fuß zu überwinden.

Wir halten uns auch gar nicht lange auf – zu sehen gibt es hier sowieso nichts Besonderes, sieht man einmal von einer öffentlichen Toilette, einem Parkplatz und dem grasbewachsenen, von Bäumen bestandenen Berghang ab, von dem wir auf unserem Weg hinauf allerdings noch genug zu sehen bekommen werden. Dieser legt sich in Form einer asphaltierten schmalen Straße unter unsere Füße, die trotz der Tatsache, daß sie nur eine einzige Fahrspur besitzt, über einen eigenen Gehsteig verfügt. Unser Aufstieg ist somit kaum beschwerlich zu nennen.

Ähnlich wie am Mount Victoria verläuft die Straße in einigen Kurven und Windungen den Berghang hinauf – mit dem Unterschied, daß sie eigentlich gar nicht bis ganz hinauf will, sondern, nachdem sie eine gewisse Höhe erreicht hat, um den ganzen Berg herum und dann wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück führt. Immerhin bringt sie uns innerhalb von nicht einmal einer Viertelstunde soweit hinauf, daß wir bis zum Gipfel nur noch wenige Höhenmeter zu überwinden haben.

Obwohl, einen Gipfel im eigentlichen Sinne gibt es hier eigentlich gar nicht. Denn ganz im Gegensatz zu den Vulkanen, auf denen wir bisher bereits gewesen waren, wie dem Mount Victoria oder dem Albert-Park-Vulkan, oder die wir zumindest schon einmal zu Gesicht bekommen hatten, wie den North Head oder auch den One Tree Hill, besitzt der Mount Eden einen ausgeprägten Krater anstelle eines typischen Berggipfels. Das war mir bereits bei unserem Besuch auf dem Sky Tower aufgefallen, so daß ich denn auch nicht überrascht bin, als wir am Scheitelpunkt einer Rechtskurve unserer Straße plötzlich am nördlichen Rand dieses Kraters stehen, der bedeutend niedriger als sein südliches Gegenüber ist.

Am Krater des Mount Eden
Ein Blick in „Mataahos Schüssel“ – den Krater des Mount Eden.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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An seinem oberen Rand führt ein Fußweg rund um den Krater herum, der hier, wo wir nun stehen, auf die Straße trifft. Dort, wo das Gelände neben dem Weg zum Kraterboden abfällt, befindet sich ein auf zwei niedrigen, etwa zwei Meter voneinander entfernten Holzpfählen angebrachtes Querbrett, dessen Sinn sich mir nicht so recht erschließt. Als Bank taugt es nicht, denn dafür ist es mit seinen rund zehn Zentimetern Breite zu schmal. Außerdem ist direkt daneben eine solche aufgestellt. Als Absperrung ist es aber auch nicht zu gebrauchen, denn dafür müßte es weitaus länger sein als die reichlich zwei Meter, die es mißt. Schließlich führt der Weg den Kraterrand entlang und kommt trotz gleicher Nähe zu diesem links und rechts des Brettes vollkommen ohne Geländer aus. Der einzige Nutzen dieser Konstruktion scheint darin zu bestehen, ein nachtblaues Schild zu halten, das ein mit einem dicken, roten Balken diagonal durchgestrichenes Männchen zeigt, neben dem wir in vier Sprachen – Englisch, Māori und den Schriftzeichen zufolge möglicherweise Chinesisch und Japanisch – aufgefordert werden, den Krater nicht zu betreten, weil das Gelände recht fragil und damit leicht zu beschädigen sei. Außerdem sei es heiliger Boden. Weiteres wird nicht ausgeführt, doch ist anzunehmen, daß insbesondere die Māori das Areal des Berges als sakralen Ort ansehen.

Nun, wir haben auch nicht vor, in den Krater hinabzusteigen. Dazu besteht keinerlei Notwendigkeit. So tief ist er nicht, daß der Boden nicht auch von hier aus zu sehen wäre. Wer sich einen Vulkankrater als eine Art Schüssel vorstellt, wird hier auf dem Mount Eden in dieser Vorstellung vollkommen bestätigt. Wer nun allerdings am Grunde dieser Schüssel ein Loch erwartet, durch das man sich wie in Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ in deren Inneres abseilen könnte, dürfte hingegen bitter enttäuscht werden. Von einem Loch ist dort nämlich weit und breit nichts zu sehen. Der Krater ist einfach nur eine riesige schüsselartige Vertiefung. Mehr nicht. Vulkangestein suchen wir hier übrigens ebenfalls vergeblich. Der gesamte Boden des Kraters ist grasbewachsen.

Das Motiv der Schüssel wird übrigens auch von dem Namen aufgegriffen, den die Māori der großen Vertiefung gegeben haben. Sie nennen ihn Te Ipu-a-Mataaho, was soviel wie „Mataahos Schüssel“ bedeutet. Manchmal findet man auch die Übersetzung „Mataahos Eßschale“. Eine Überlieferung der Māori besagt, Mataaho sei ein Gott, der in dieser Schale lebe und die in der Erde verborgenen Geheimnisse hüte. Und weil es den Göttern zuweilen nicht viel anders als den Menschen geht, wurde Mataaho eines Tages von seiner Frau verlassen, die überdies alle seine Kleider mitgehen ließ. In seiner Verzweiflung, heißt es weiter, habe Mataaho die Göttin Mahuika angerufen, die sich seiner erbarmte und Feuer zu ihm auf die Erde schickte, daß ihn wärmen sollte. Durch eben dieses Feuer seien dann die Ngā Huinga-a-Mataaho entstanden, die versammelten Vulkane von Mataaho oder – in der modernen Sprache – das Auckland Volcanic Field.

Einen eigenen Namen besitzt der Krater nur bei den Māori. Das ist auch nicht verwunderlich, denn die Europäer sind einfach noch nicht lange genug in dieser Gegend ansässig, als daß sie eine eigene Überlieferung dafür hätten entwickeln können. So haben sie nur dem 196 Meter messenden Berg, der damit der höchste im Stadtgebiet Aucklands ist, als Ganzes einen Namen gegeben und ihn zu Ehren des Briten George Eden, dem ersten Earl of Auckland, benannt. Dieser war in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Generalgouverneur von Indien. Die Namensgleichheit mit der Stadt ist durchaus kein Zufall, ist diese doch ebenfalls nach dem Earl benannt worden. Bei den Māori heißt der Berg hingegen Maungawhau, was einen unmittelbaren Bezug zu den örtlichen Gegebenheiten herstellt, denn Maungawhau bedeutet „Berg des Whau-Baums“. Die lateinische Bezeichnung für die Pflanze lautet Entelea arborescens, eine deutsche gibt es nicht.

Da wir uns an unserem gegenwärtigen Standort am niedrigsten Punkt des Randes der riesigen Schüssel befinden, müssen wir, als wir uns auf den Weg machen, diese einmal zu umrunden, zunächst weiter bergauf gehen. Das ist nicht sonderlich beschwerlich, denn der Weg ist gut begehbar – eher ein Parkweg als ein Trampelpfad. Stets haben wir den Krater, der der größte von eigentlich dreien ist, die der Mount Eden besitzt, neben uns. Der Weg entfernt sich von ihm, wenn überhaupt einmal, nur wenige Meter.

Bereits nach kurzer Strecke erreichen wir einen Aussichtspunkt, für den wir, um zu ihm zu gelangen, ein kleines Stück nach links von unserem Pfad abweichen müssen. Obwohl er einen eigenen Namen besitzt – Auckland Lookout – ist er nicht sonderlich hervorgehoben oder befestigt. Eigentlich ist er nur ein kleines, grasbewachsenes Plateau am nördlichen Rand des Kraters, dessen besonderer Reiz darin besteht, daß sich uns von hier oben ein wundervoller Panoramablick in Richtung Norden bietet, der uns den gesamten Waitematā Harbour überschauen läßt und in dessen Zentrum der Central Business District Aucklands mit dem Sky Tower liegt. Damit ist schon einmal der Name dieses Aussichtspunktes hinreichend erklärt. Was den Anblick, den er bietet, betrifft, so möchte ich sagen, daß schon er allein den Ausflug auf den Mount Eden mehr als wert war, übertrifft er doch sogar noch die Aussicht vom Sky Tower, der für einen solches Panorama des großen Naturhafens diesem viel zu nah ist. Wir stehen eine ganze Weile einfach nur da und schauen in die Runde.

Auf dem Mount Eden
Das Waitematā-Harbour-Panorama auf dem Mount Eden – ein phantastischer, ein wundervoller Anblick!
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als wir schließlich unseren Weg fortsetzen, dauert es gar nicht lang, bis wir eine Aussichtsplattform erreichen, die aus einem betonierten, von einem metallischen Geländer eingefaßten Podest besteht, zu dem ein paar Stufen hinaufführen. Von hier oben können wir den Blick in südöstlicher Richtung über die Stadt schweifen lassen. Wie zuvor erweist sich das klare Wetter bei Sonnenschein und strahlend blauem Himmel, auf den wieder nur vereinzelt weiße Wolken hingetupft sind, dabei als besonderer Glücksumstand, haben wir doch eine ausgezeichnete Fernsicht. Fast als hätten wir es für diesen Tag bestellt…

Nur einige Meter weiter sind wir dann auf der gegenüberliegenden Seite des Kraters angekommen. Hier befindet sich eine weitere große, über Stufen erreichbare Plattform, in deren Mitte sich ein eigenartiges pyramidenförmiges Gestell aus Metall befindet, das ein wenig so aussieht, als hätte man ein riesiges, vierbeiniges Stativ aufgestellt, dann aber vergessen, die Kamera darauf zu montieren. Eingefaßt ist es von einer niedrigen, aus drei übereinanderliegenden Steinreihen bestehenden Mauer in der Form eines Achtecks, an der außen eine umlaufende hölzerne Bank angebracht ist. Zwei schmale Öffnungen – eine an der Ost- und eine an der Westseite, die Mauer und Bank gleichermaßen unterbrechen, gewähren den Zugang zu dem Gestell, dessen Zweck sich mir jedoch nicht so recht erschließen will.

Direkt vor der östlichen Öffnung ist ein kleiner steinerner Obelisk plaziert, an dem mehrere Tafeln angebracht sind, die an ein Stück Technik- und Wissenschaftsgeschichte erinnern, mit dem der Mount Eden eng verbunden ist. Die erste dieser Erinnerungstafeln faßt in aller Kürze die Geschichte ihres Trägers zusammen[1]Der originale Text lautet: This obelisk was first erected by Stephenson Percy Smith, Chief Geodetic Surveyor, on the 17th day of August 1872 as initial station for the triangulation of the Auckland … [Weiterlesen]:

Dieser Obelisk wurde zuerst errichtet von
Stephenson Percy Smith,
leitender geodätischer Vermesser,
am 17. Tag des Augusts 1872
als Ausgangsstation für die Triangulation
der Provinz Auckland, eingeleitet von
Captain Theophilus Heale
Inspektor der Vermessungsbehörde.

„Prudens Futuri“

Dieser Obelisk hier auf dem Mount Eden war also einer von drei Punkten, die man für die Vermessung des Landes der Provinz Auckland verwendete. Weil nun aber diese rein sachliche Feststellung eines historischen Fakts auf einer Erinnerungstafel doch etwas zu nüchtern ausfallen würde, hat man darunter eine zweite angebracht, mit der das Wirken der frühen Landvermesser gebührend gewürdigt werden soll[2]Der Text dieser zweiten Tafel lautet im Original: May this obelisk re-erected in 1933 serve as a memorial to the Pioneer Surveyors who played so worthy a part in the transformation of a … [Weiterlesen]:

Möge dieser 1933 wiedererrichtete Obelisk
eine Gedenkstätte sein für die
Pioniere der Vermessungsingenieure,
die eine so würdige Rolle spielten bei
der Verwandlung einer Wildnis
in das lächelnde Land, das
vor Ihnen liegt.
Denn ihr Werk besteht fort,
weit über das, was sie kannten, hinaus.

Nun, das liest sich doch sehr schön. Etwas pathetisch vielleicht, aber das dürfen ehrenvolle Würdigungen ja durchaus sein. Ich frage mich allerdings, ob den Initiatoren dieser Tafeln wohl bewußt war, daß ihr Text das Leben und Wirken der Bevölkerungsgruppe der Māori gleichzeitig doch arg herabwürdigt. Sie hatten die Inseln Neuseelands bereits lange vor dem Eintreffen der ersten Europäer besiedelt, lebten in Stämmen, jagten, fischten, bebauten das Land, errichteten Siedlungen. Sie kooperierten und trugen Konflikte aus. Sie hatten eigene Musik und Geschichten, sie pflegten ihre Überlieferungen. Und wie man nicht zuletzt an den Māori-Namen der Orte, Landmarken und Landschaften in Neuseeland ablesen kann, waren sie eng mit der Mitwelt, in der sie lebten, verbunden. Kurz: die Māori hatten eine eigene Kultur etabliert, in der sie ihr Leben lebten und es gestalteten. Es ist schon bemerkenswert, wie all dies in dem kurzen Text auf der Tafel mit nur einem einzigen Wort beiseitegewischt wird: wilderness – Wildnis. Und damit nicht genug, geht der Verfasser des Textes noch einen Schritt weiter und behauptet, erst das segensreiche Wirken der – und hier darf man, denke ich, ruhig etwas verallgemeinern – Europäer habe aus dieser Wildnis ein „smiling land“ – ein „lächelndes Land“ geformt. Nun, wenn ich vom Mount Eden hinab und über das sich zu seinen Füßen ausbreitende Land schaue, dann bemerke ich heute in erster Linie eine sich in alle Richtungen dehnende Stadt. Von einem „lächelnden Land“ ist eigentlich nicht viel zu sehen. Und doch muß ich konstatieren, daß diese Tafel hier dringend hängenbleiben sollte, kann sie doch völlig zu Recht als Mal der Erinnerung bezeichnet werden. Vordergründig würdigt sie Leistungen der frühen europäischen Landvermesser, die, was Wissenschaft und Technik anbelangt, durchaus bemerkenswert gewesen sein mögen. Doch um vieles wichtiger empfinde ich den anderen – ursprünglich ganz sicher nicht beabsichtigten – Aspekt, der mit dieser Tafel und dem Text darauf verbunden ist: die Erinnerung an die unvergleichliche Arroganz der Europäer, mit der sie überall in der Welt, egal, wohin sie kamen, den eingeborenen Völkern begegnet sind – und zum Teil bis heute begegnen.

Wenn man nun, so mag man sich irgendwann gedacht haben, schon einmal einen der Trigonometrie und dem Vermessungswesen gewidmeten Obelisken hier auf dem Mount Eden hat, dann kann man ihn auch für die eine oder andere weitere Erinnerung an Ereignisse verwenden, die mit diesen wissenschaftlichen beziehungsweise ingenieurstechnischen Gebieten in Verbindung stehen. Und so finden sich an dem Obelisken noch weitere Tafeln, die nach und nach aus verschiedenen Anlässen daran angebracht worden waren. Den Anfang hatte am 26. November 1947 eine Plakette gemacht, mit der des hundertsten Todestages des ersten neuseeländischen Generalvermessungsingenieurs, Felton Matthew, gedacht wurde[3]Auf der Tafel ist zu lesen: This tablet was erected by the N.Z. Institutes of Surveyors and Survey Draughtsmen on 26 November 1947, the centenary of the death of the first Surveyor-General of N.Z., … [Weiterlesen]. Ihr folgte am 22. Juni 1965 eine Tafel, die an die Gründung der Vereinigung der Vermessungsingenieure der Provinz Auckland genau einhundert Jahre zuvor erinnert[4]Der Text der Tafel lautet: To commemorate the founding, on 22nd June 1865, of the Auckland Provincial Surveyors Association. This plaque was placed by the Auckland branch of the New … [Weiterlesen]. Eine weitere feiert das dritte Jahrhundert des Vermessungswesens in der Region Auckland, das mit Beginn der zweitausender Jahre angebrochen war und zu dessen Ehren man den kleinen Obelisken im März 2001 restaurierte[5]Auf der Tafel ist zu lesen: This plaque is to celebrate the third century of surveying in the Auckland area. In this coming century, the Auckland Branch of the NZ Institute of Surveyors will strive … [Weiterlesen].

Eine hübsche Geschichte erzählt, daß man für die Errichtung der Plattform, auf der der Obelisk steht, auf einen außergewöhnlichen Helfer zurückgriff. Als man im Jahre 1870 mit den Arbeiten begann, hielt sich gerade Prinz Alfred, Sohn von Königin Victoria und Prinz Albert, für einen Monat in Auckland auf. Auf der Fahrt hierher, vermutlich in Indien, war ihm ein Elefant namens Tom geschenkt worden, der sich also nun ebenfalls in der Stadt befand und in den Albert Barracks untergebracht war. Mit dem Einverständnis des Prinzen ergriff man die einmalige Gelegenheit, einen solch starken Helfer für die Arbeiten einzusetzen, und ließ das große Tier Lasten aus Basalt auf den Gipfel des Mount Eden hinaufschleppen. Um ihn bei Laune zu halten, belohnte man Tom, der mit der Kraft von zwanzig Männern arbeiten konnte, indem man ihn mit Lutschern, Brötchen und Bier verwöhnte.

Auch von dieser Plattform ist der Ausblick einfach phantastisch. Da sie den höchsten Punkt auf dem Mount Eden markiert, haben wir von hier oben nun in praktisch alle Richtungen eine gleich gute Fernsicht, sieht man einmal vom Nordosten ab, wo ein paar Bäume den Weitblick behindern. Aber das ist nicht weiter schlimm, entgeht uns doch so nur der Blick auf Rangitoto Island, dessen Anblick wir ja schon andernorts hinreichend würdigen konnten. Der Waitematā Harbour, der One Tree Hill, der Manukau Harbour, die grünen Hänge der Waitākere Ranges und nicht zuletzt der Central Business District Aucklands mit dem Sky Tower – von hier oben ist alles wie in einem riesigen Rundpanorama zu sehen. Langsam drehe ich mich im Kreis und schaue in die Weite, über die große Stadt…

Am Krater des Mount Eden
Nah und Fern in direkter Kombination – der Blick über den Krater des Mount Eden auf die Innenstadt Aucklands.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
Creative Commons Lizenzvertrag

Die Aussicht von diesem höchsten Punkt auf dem Vulkan ist noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Hier oben kombinieren sich Nähe und Ferne zu einem beeindruckenden Bild, als ich über den großen Krater zu meinen Füßen hinüber zur Innenstadt Aucklands schaue. Das von den urgewaltigen Kräften der Natur geschaffene, weite Rund dehnt sich vor der weiten Ebene, die mit den in die Höhe strebenden, doch fragil wirkenden Werken der Menschen besetzt ist. Was davon würde wohl überdauern, wenn eben jenes Rund – und welcher Experte würde das wohl mit absoluter Gewißheit ausschließen wollen – wieder aufbräche und Lava spie?

An der westlichen Seite der Plattform schließt sich ein kleiner Parkplatz an diese an, von dem ein kurzer asphaltierter Fahrweg ausgeht, der an der Westseite des Kraters entlang zu jener Straße zurückführt, auf der wir den Berg hinaufgekommen waren. Langsam schlendern wir ihn entlang, immer wieder stehenbleibend und die sich stetig ändernde Aussicht genießend. Als wir die Straße schließlich erreichen, endet unser Rundgang um den großen Krater. Ein letzter Blick zum Boden der großen Schüssel des Mataaho, dann wandern wir auf dem Weg, den wir gekommen waren, den Berg wieder hinab zur Haltestelle des Auckland Explorers.

Lang müssen wir nicht warten, da kommt auch schon einer der gelb-blauen Busse an und sammelt uns ein. Unser nächstes Ziel für diesen Tag, so haben wir inzwischen beschlossen, ist eines, an dem wir heute schon waren: das Auckland War Memorial Museum. Trotz des schönen Wetters wollen wir den Nachmittag nutzen, ihm einen eingehenderen Besuch abzustatten. Denn schließlich möchten wir Neuseeland nicht nur sozusagen von außen kennenlernen. Wenn wir schon einmal hier sind, am anderen Ende der Welt, dann wollen wir auch etwas über die Kultur und die Geschichte dieses Landes erfahren, und zwar jenseits dessen, was sich in Büchern lesen läßt. Und dabei, bin ich mir sicher, wird uns dieses Museum bestimmt eine Hilfe sein.

Doch zunächst müssen wir unsere Stadtrundfahrt fortsetzen. Tatsächlich ist „müssen“ hier das richtige Wort, denn eine Wahl haben wir nicht, sind doch auch auf der blauen Route die Busse nur in eine Richtung unterwegs. Und so sind wir gezwungen, die komplette Runde mitzufahren, um wieder zum Auckland War Memorial Museum zu gelangen. Nun, es gibt definitiv Schlimmeres, als bequem in einem Bus zu sitzen, sich durch die große Stadt kutschieren zu lassen, aus dem Fenster zu sehen und die vorüberziehenden Häuser, Straßen, Parks und Gärten zu betrachten. Und etwas Interessantes ist eigentlich immer irgendwo zu sehen.

Zunächst führt uns die Fahrt durch das den Mount Eden umgebende Stadtviertel gleichen Namens. Wieder ziehen kleine und große, ein- und zweistöckige, von grünenden Gärten umgebene Einfamilienhäuser an uns vorüber. Man könnte meinen, außerhalb des Central Business Districts sei Auckland seine eigene große Vorstadt. Mal grenzen Zäune die Grundstücke von der Straße ab, mal sind es Hecken, dann wieder kleine Mauern. Und manchmal sind auch Kombinationen davon anzutreffen, beispielsweise, wenn sich auf einer niedrigen Mauer eine Hecke erhebt. Was mir auffällt, ist, daß die Straßen hier fast immer von Hochleitungen auf einer ihrer Straßenseiten begleitet werden, so daß in regelmäßigen Abständen Masten an uns vorüberziehen. An nahezu jedem von ihnen zweigen zahlreiche Drähte ab, die zu den Häusern in der Umgebung des jeweiligen Mastes führen – zu beiden Straßenseiten. Offenbar werden die Häuser hier durchgängig auf diese Weise mit Strom versorgt.

Unser Bus durchquert das hiesige Stadtgebiet, wobei er scheinbar willkürlich mal rechts, mal links abbiegt. Zumindest kann ich kein unmittelbares Ziel erkennen. Flankiert werden alle Straßen nicht nur von den allgegenwärtigen Strommasten, sondern auch zahlreichen Bäumen. So manches Mal scheinen wir durch eine Allee zu fahren. Hinter den Bäumen ziehen weiterhin einzelne Häuser auf eigenen Grundstücken vorüber, ab und zu unterbrochen von Spielplätzen, Sportanlagen, einer Schule und was sonst noch so zum städtischen Leben gehört. Was ich allerdings vermisse, sind Geschäfte jeglicher Art. Die scheint es hier überhaupt nicht zu geben. Wo die Leute hier wohl einkaufen?

Als wir eine große Straße erreichen und überqueren, die den Namen Dominion Road trägt, hören die Einzelgrundstücke für kurze Zeit auf und machen aneinandergereihten Stadthäusern Platz, die allerdings auch nicht mehr als zwei Stockwerke besitzen. Immerhin gibt es an dieser Straße und ein Stück weit in die Seitenstraße, aus der wir kommen, hinein nun doch ein paar Geschäfte. So muß ich mir um die Versorgung der Bewohner dieses Stadtviertels wohl doch keine Gedanken mehr machen.

Wir überqueren die Dominion Road. Als wir die gegenüberliegende Straßenseite erreichen, werde ich an der Ecke eines kleinen Restaurants gewahr, über dessen Eingangstür der Name „Murder Burger“ steht. Mörder-Burger? Ganz schön makaber. Über dem Seitenfenster kann ich gerade noch den Satz „End the Hunger Games now“ – „Beendet die Hungerspiele jetzt!“ – lesen, dann sind wir auch schon daran vorbeigefahren. Jetzt würde mich ja schon interessieren, ob die Inneneinrichtung dieses Burgerladens tatsächlich auf die Hunger-Games-Bücher oder -Filme Bezug nimmt. Nun, das werde ich nicht herausfinden. Also wende ich mich wieder dem Geschehen vor den Busfenstern zu.

Kurz darauf ist es, als hätten wir die Dominion Road nie passiert. Häuser, Gärten, Bäume, Strommasten – hier sieht es genauso aus wie zuvor. Doch diesmal ist das nicht von Dauer. Wir sind noch nicht weit gefahren, da kommen wir an eine Straßenkreuzung, hinter der sich auf der linken Seite ein riesiges Areal anschließt, das ganz offensichtlich keinen Wohnzwecken dient. In einem weiten Bogen nähert sich darauf ein Gebäude unserer Straße, das zwar auch nicht über zwei oder drei Stockwerke hinauskommt, doch dafür auch nicht aufhört. Stattdessen fahren wir nun ununterbrochen daran entlang. Daß das Areal, auf dem es steht, riesig ist, kann ich genaugenommen an dieser Stelle noch gar nicht wahrnehmen, doch ist die Kennzeichnung einer Einfahrt, die wir gleich zu Beginn passieren, als „Entry D“ ein deutlicher Hinweis darauf, daß wir hier etwas Großem auf der Spur sind. Etwas, das wenigstens vier Einfahrten hat.

Kurz darauf gelangen wir zu etwas, das man als Empfangsbereich bezeichnen könnte. An dem Gebäude ist nun eine Art Haupteingang zu sehen, gebildet aus drei Türen, über denen sich ein großes Glasfenster über die gesamte Höhe des Baus zieht, das nach oben hin durch einen angedeuteten Dreiecksgiebel abgeschlossen wird. Dies ist, wie ich lesen kann, Entry C. Und weil er mehr als eine Tür besitzt, sind die beiden äußeren als C1 und C2 markiert. Damit ich in Bezug auf mein Rätselraten, um was es sich bei diesem Bau wohl handele, nicht allzu ungeduldig werde, erhalte ich noch zwei Hinweise. Im Zaun, der das Gelände zur Straße hin abgrenzt, befinden sich zwei Einfahrtstore, die ein breiter, steinerner Mauersockel voneinander trennt. Auf diesem ist eine Skulptur zu sehen, die außerordentlich lebendig wirkt. Auf einem hochkant stehenden steinernen Quader liegt eine große Kugel, die von einem Mann mit beiden Händen, die Arme lang ausgestreckt, umfaßt wird. Offenbar handelt es sich bei dieser Kugel um einen Ball. Der Mann, mit einem kurzärmeligen Hemd und einer kurzen Hose bekleidet, scheint dabei der Länge nach ausgestreckt über dem Quader und dem darauf liegenden Ball in der Luft zu schweben. Tatsächlich kann ich keinerlei Stütze, die den Körper des Mannes halten würde, erkennen.  Auf den ersten Blick wird deutlich, daß sich dieser in einer Art Flug – einem Hechtsprung? – auf den Ball zubewegt und ihn mit beiden Händen gefangen hat. Beim Betrachten dieser Skulptur – ich habe dafür ausreichend Zeit, da unser Bus aufgrund irgendeines Hindernisses auf der Straße direkt davor angehalten hat – habe ich aufgrund ihrer lebensechten Gestaltung, die das Kraftvolle der Bewegung, den angespannten Gesichtsausdruck des Sportlers und seinen unbändigen Willen, den Ball zu erhaschen, überzeugend zum Ausdruck zu bringen vermag, unwillkürlich das Gefühl, einem in der Zeit eingefrorenen Moment eines realen Spiels beizuwohnen.

Gibt mir diese Skulptur zu verstehen, daß das Gebäude hinter ihr irgendetwas mit sportlichen Ereignissen und Ballspielen insbesondere zu tun hat, so ist der zweite Hinweis, der sich direkt unter ihr an dem Mauersockel befindet, weit weniger subtil. „Eden Park“ ist dort zu lesen. Daß dies der Name des größten Stadions Aucklands ist, weiß ich bereits, denn ich hatte es schon bei unserem Besuch auf dem Sky Tower am Tag zuvor in der Ferne sehen können. Nun fahren wir also direkt daran vorüber. Der Eindruck, hier etwas Großes vor mir zu haben, hatte mich also nicht getrogen. Immerhin bietet das Stadion 50.000 Besuchern Platz, die hier das ganze Jahr über Gelegenheit haben, Spielen beizuwohnen, im Winter Rugby Union, im Sommer Cricket.

Wir fahren weiter am Stadion entlang und passieren als nächstes den Eingang B, wo unser Bus einen Haltepunkt erreicht, was mir wieder Gelegenheit gibt, den Eingang eingehender zu betrachten. Er ist ein mehr oder weniger exaktes Ebenbild des vorigen, mit einer Ausnahme: anstelle des Ballfängers ziert diesen Eingang das Standbild eines Sportlers, der einen Rugby-Ball in Händen hält. Es ist dies ein Denkmal für Dave Gallaher, den ersten Kapitän der All Blacks, wie Neuseelands Rugby-Union-Nationalmannschaft genannt wird. Nach dem Ende seiner Spielerkarriere, in der er in den Jahren 1903 bis 1906 für die All Blacks spielte, war er als Trainer tätig, eine Zeitlang auch für die Nationalmannschaft. Als Freiwilliger nahm er im Ersten Weltkrieg an den Kämpfen in Europa teil und fiel am 4. Oktober 1917 in der Schlacht von Broodseinde in Belgien. Mit ihm wurden im Laufe dieses Weltenbrands insgesamt dreizehn Mitglieder der All Blacks getötet.

Nachdem unser Bus die Nordseite des Stadions passiert hat, biegt er ab und wir bekommen auch noch dessen Westseite zu sehen, was mir nun auch den wirklichen Eindruck seiner Größe vermittelt. Hier ist ein großes Transparent angebracht, auf dem weithin sichtbar „ICC Cricket World Cup 2015“ zu lesen ist. Das Stadion ist wohl einer der Austragungsorte. Ich registriere überrascht, daß es ganz offensichtlich auch Weltmeisterschaften gibt, von denen wir in Deutschland praktisch gar nichts mitbekommen. Nun, da bei uns niemand Cricket spielt, ist das so verwunderlich dann auch wieder nicht. Unser Bus setzt seine Reise jetzt auf der Sandringham Road fort, was uns am Rande des Mount Eden genannten Stadtviertels entlangfahren läßt. Es geht eine Weile unablässig geradeaus, und vor den Fenstern bietet sich ein weiteres Mal der Eindruck einer anhaltenden Fahrt durch eine Vorstadt. Als wir den Gribblehirst Park erreichen – der sich mir allerdings nicht sonderlich einprägt –  verlassen wir Mount Eden endgültig und fahren hinüber in ein ebenfalls nach einem Berg benanntes Viertel: Mount Albert.

Nachdem wir den Park durchquert haben, mangelt es dem weiteren Verlauf der Fahrt ein wenig an Abwechslung. Vorstadt ist Vorstadt – einen eigenen Charakter haben wohl die wenigsten. Ein Haltepunkt an einem Shopping Centre ist noch das Bedeutendste, was in diesem Abschnitt der Blue Route zu verzeichnen ist. Als ich mich angesichts der stellenweise immer lückenhafter werdenden Bebauung schon zu fragen beginne, ob wir Auckland wohl gleich ganz verlassen werden und warum man uns eigentlich hier hinausbringt, überqueren wir einen großen Highway und erreichen eine ausgedehnte Grünanlage – den Western Springs Park. An diesem führt eine Straße entlang, die wir nun westwärts fahren.

Als ich rechts aus dem Busfenster sehe, bemerke ich neben der Straße ein Gleis, das mit einer Oberleitung versehen ist. Nun ist das an sich nichts Ungewöhnliches, doch hier in Auckland habe ich dergleichen bisher nicht zu sehen bekommen und daher angenommen, daß es in dieser Stadt keine Straßenbahnen gibt. Ob das falsch war? Nun, wir werden sehen. Das Gleis folgt jedenfalls beharrlich dem Verlauf unserer Straße, und als wir nach nicht allzu langer Strecke schließlich rechts abbiegen, tut es das auch. Kurz darauf begibt sich unser Bus in eine Wendeschleife, die rechts neben der Straße einen großen Parkplatz umschließt, und hält schließlich vor einem langgestreckten niedrigen Bau mit spitzem Dach, auf dessen Schräge in großen Lettern „Auckland Zoo“ zu lesen ist. Aha, dafür also die lange Fahrt durch die Vorstädte. Nun, der 1922 eröffnete zoologische Garten der Stadt wäre sicher auch ein mögliches Ausflugsziel, wenn wir uns länger in Auckland aufhalten würden. Allerdings stehen solche Einrichtungen nicht unbedingt ganz oben auf meiner Prioritätenliste, wenn ich in fremden Gefilden unterwegs bin, gibt es in meiner Heimatstadt Berlin doch gleich zwei davon – einen Zoo und einen Tierpark -, in denen ich Tiere aus allen Teilen der Welt bewundern kann. Und da unser Aufenthalt in der Stadt dann doch begrenzt und die Liste der Orte, die wir gerne noch aufsuchen würden, schon lang genug ist, bleibt der Zoo erst einmal außen vor.

Und so steigen wir auch nicht aus, sondern warten darauf, daß unser Bus die Fahrt fortsetzt, was er kurz darauf auch tut. Wir verlassen die Wendeschleife und fahren den Weg zurück, den wir gekommen sind. Das Gleis, das uns nun linkerhand begleitet, tut dies auch, als wir schließlich die Stelle passieren, an der wir vorher den Highway überquert hatten und auf den ausgedehnten Western Springs Park getroffen waren. Hier geht es nun auf neuer Strecke weiter. Inzwischen bin ich mir sicher, daß es sich bei unserem beständigen Begleiter tatsächlich um eine Straßenbahnlinie handelt, sind wir doch bereits an mehreren Haltestellen vorübergekommen. Nur einen entsprechenden Zug habe ich noch nicht entdecken können. Leider wird das auch so bleiben. Wie ich beim späteren Nachlesen erfahre, handelt es sich bei dieser Linie um die Western Springs Tramway, die jedoch keine reguläre Straßenbahnlinie im eigentlichen Sinne ist, sondern eher als Museumsbahn gelten muß. Folgerichtig verbindet sie zwei Standorte des Museums für Verkehr und Technik – Museum of Transport and Technology (MOTAT) – in Auckland, dessen einem wir uns nun nähern. Unser Bus hält erneut, und als wir die Fahrt schließlich fortsetzen, ist das Gleis neben uns verschwunden.

Mit dem Verkehrs- und Technikmuseum verhält es sich genauso wie mit dem Zoo – es wäre bei längerem Aufenthalt in der Stadt durchaus von Interesse für mich, steht aber eher am unteren Ende meiner Prioritätenliste. Denn auch ein solches haben wir in Berlin, das wieder einmal zu besuchen ich mir immerhin vornehme, als wir das hiesige hinter uns zurücklassen. Unser Bus biegt nun rechts in eine Straße ein, die sich nach weiter Kurve als Auffahrt auf den bereits erwähnten Highway erweist. Interessiert nehme ich noch den Umstand wahr, daß wir aufgrund des Linksverkehrs auch von links auf die Autobahn auffahren, doch dann erlahmt mein Interesse schnell. Autobahnen sind aus meiner Perspektive als Mitfahrer eher langweilige Verkehrswege, was auch auf diese Stadtautobahn zutrifft. So prägt sich mir von der Fahrt zurück in Richtung Innenstadt nahezu nichts ein, obwohl ich die ganze Zeit aus dem Fenster sehe. Dafür sind wir nun recht schnell unterwegs und erreichen in einem Bruchteil der Zeit, die wir vom Mount Eden bis zum Zoo benötigt hatten, die Auckland Domain, wo wir den Highway verlassen. Die Ausfahrt, die wir dafür nehmen, führt übrigens direkt zur Wellesley Street. Wir müßten nur in Richtung des Central Business Districts abbiegen und ein vergleichsweise kurzes Stück fahren, dann hätten wir unser Hotel erreicht. Doch das ist gar nicht unsere Absicht, ganz davon abgesehen, daß wir dem der blauen Route folgenden Bus momentan völlig ausgeliefert sind. So geht es stattdessen direkt zwischen die grünen Bäume der weitläufigen Auckland Domain, die wir auf kurvenreicher schmaler Straße durchqueren, bis wir schließlich eine ausgedehnte, ansteigende Rasenfläche neben uns haben, an deren anderem, oberen Ende wir das Ziel unserer Fahrt bereits erkennen können: das Auckland War Memorial Museum.

Unser Bus bringt uns wieder bis zur Haltestelle am Besuchereingang des Museums, der sich, wie wir bereits wissen, an dessen hinterem Ende befindet. Wir steigen aus – und halten kurz inne, uns bewußt werdend, daß wir damit den gesamten Rundkurs der Blue Route absolviert haben. Dann begeben wir uns über die Straße, hinüber zum Eingangsbereich. Der große Museumsbau wird, soviel ist von außen zu sehen, an diesem Ende durch einen großen Halbrund abgeschlossen, der ein wenig wie die Apsis einer großen Kathedrale wirkt, sieht man einmal davon ab, daß am oberen Ende keine Kuppel erkennbar ist.

Daß eine solche jedoch durchaus vorhanden ist, davon können wir uns kurz darauf überzeugen. Als wir das Innere betreten, finden wir uns in einem großen Foyer wieder, das – der außen bereits wahrgenommenen Form entsprechend – ein Halbrund ist. Wenn wir erwartet hatten, aufgrund des neoklassizistischen Äußeren des Gebäudes ein ebenso gestaltetes Inneres vorzufinden, werden wir – je nach Einstellung – enttäuscht oder überrascht. Der hier vorherrschende Stil ist – nun, nicht gerade futuristisch, wohl aber modern zu nennen. Die gewölbten Wände des Eingangsbereichs sind eigentlich nicht als solche zu erkennen, hat man sie doch wie die Fassaden von Häusern gestaltet, die einen runden Platz umgeben. Das schließt natürlich Fenster mit ein. Ich vermute, daß man dahinter befindlichen Büroräumen der Museumsverwaltung auf diese Weise zu natürlichem Licht verholfen hat. Dieses ist hier reichlich vorhanden, da der Eingangsbereich an seinem oberen Ende von einer großen gläsernen Kuppel überwölbt wird, die eine Art riesiges Oberlicht bildet und reichlich Tageslicht einläßt. So vermittelt das Foyer den Eindruck eines riesigen Atriums, aber auch eines Stadtplatzes. Und weil ein solcher auch Geschäfte und Cafés benötigt, sind in die ihn umgebenden „Häuser“ die Ticketschalter, der Museumsshop und das Atrium Café integriert. Dieses hat sogar Tische im „Freien“ aufgestellt. Hier kann man sogar bei Regen „draußen“ sitzen, ohne naß zu werden.

Einst war dieses Atrium der zentrale, runde Innenhof des Museums. Zu Beginn der 2000er Jahre machte man sich jedoch daran, diesen in seine heutige Form zu verwandeln, indem man ihn mit der großen Glaskuppel überwölbte. Steht man am Grund dieses nunmehr großen Innenraums, kann man ihn allerdings dennoch nicht komplett überschauen, denn wie bereits gesagt, ist trotz seiner eigentlich kreisrunden Form nur ein Halbkreis zu sehen. Begrenzt wird dieser durch in die andere Hälfte des Kreises hineingesetzte Bauten, über die der Zugang zum Hauptteil des Museumsgebäudes möglich ist. Als ich nach oben schaue, stelle ich fest, daß ich auch die Kuppel nicht in Gänze sehen kann. Verhindert wird das durch eine riesige Kugel, die darunter im Raum zu schweben scheint. Dreißig Meter soll ihr Durchmesser betragen, was mir bei ihrem Anblick durchaus glaubhaft erscheint. Außen komplett mit Kauriholz verkleidet, beherbergt diese Sphäre ein Veranstaltungszentrum. Direkt darunter ist ein Informationsschalter plaziert.

Im Auckland War Memorial Museum
Häuser in einem Haus und eine schwebende Kugel – im Atrium des Auckland War Memorial Museums ist beides zu finden.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
Creative Commons Lizenzvertrag

Der Boden des Atriums ist komplett mit Teppich ausgelegt, was die Schritte der Besucher dämpft, von denen wir allerdings nur einige wenige bemerken. Glücklicherweise herrscht gerade kein großer Andrang. Nun, das soll uns recht sein. Große Menschenmengen sind in einem Museum ja doch eher störend. Nachdem wir das Foyer ausgiebig bewundert haben, begeben wir uns zum Ticketschalter, denn schließlich wollen wir ja noch ein bißchen mehr sehen als nur den Eingangsbereich des Museums. Nachdem wir unsere Eintrittskarten erfolgreich erworben haben, machen wir uns auf den Weg zu den Ausstellungsräumen. Eine halbrunde Treppe lädt uns ein, in den ersten Stock hinaufzusteigen, doch sind an ihrem oberen Ende nur Räumlichkeiten für das Personal zu finden. Wir müssen stattdessen an der Treppe vorbei zur linken Seite des Halbrunds gehen, wo sich der Eingang ins Museum befindet.

Seinem Namen zufolge ist das Auckland War Memorial Museum den Erinnerungen an neuseeländische Kriege gewidmet. Nun, das ist nicht falsch, denn bei dem Museum handelt es sich, wie ich bereits weiß, auch um eine Kriegsgedenkstätte, die sich seit ihrer Entstehung in den 1920er Jahren zur zentralen Kriegsgedenkstätte für die Provinz von Auckland entwickelt hat. Und so gibt es hier auch eine umfangreiche Ausstellung, die sich mit den Neuseelandkriegen, den internen Kolonialkriegen im 19. Jahrhundert sowie mit den internationalen militärischen Auseinandersetzungen, an denen sich Neuseeland beteiligt hat, beschäftigt. Doch dies macht nur einen kleinen Teil der Sammlungen und der Ausstellung aus. Weitaus bedeutender sind die anderen Bereiche, denen sich das Museum widmet und die es zum größten kulturhistorischen und naturkundlichen Museum in Auckland machen. Warum diese in seinem Namen jedoch keinen Ausdruck finden, bleibt ein ungelöstes Geheimnis – zumindest für mich. Tatsächlich sind es jedoch gerade diese Sammlungsteile, die uns bei unserem Besuch am meisten interessieren. Sie beschäftigen sich mit der Geschichte des Landes und mit den Kulturen der Völker – des pazifischen Raumes im allgemeinen und der Māori im besonderen. Desweiteren ist hier die größte kunstgewerbliche Sammlung des Landes ebenso zu finden wie eine historische und eine Kunstsammlung. Auch eine naturkundliche Sammlung gehört zum Museum, die aus rund eineinhalb Millionen Objekten besteht, die Fauna, Botanik, Entomologie und Geologie Neuseelands abdecken. Ergänzt werden all diese Sammlungen durch eine umfassende Bibliothek. Natürlich können wir von vornherein davon ausgehen, daß wir dies nicht alles an diesem Nachmittag werden besichtigen können. Dafür bräuchte man sicher mehrere Tage. So konzentrieren wir uns auf das, was uns am meisten interessiert, und begeben uns ins Erdgeschoß des Museums, um unsere Besichtigung in der Abteilung zur Kultur der Māori zu beginnen.

Nach der Betrachtung nur der ersten Vitrinen und der darin ausgestellten Sammlungsstücke wird mir klar, daß ich hier Werke einer menschlichen Kultur vor mir habe, die mir absolut fremd ist. Was ich hier zu sehen bekomme, ist so vollständig anders als alles, was mir aus der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte bisher bekannt ist, daß ich im Angesicht dieses nur kleinen Ausschnitts der riesigen Sammlung von Māori-Schätzen, die das Museum besitzt, gleichzeitig ratlos und fasziniert bin. Ratlos, weil ich auf viele der ausgestellten Stücke nur mit völliger Verständnislosigkeit schauen kann. Und fasziniert, weil ich das Gefühl habe, einen Schritt durch die geöffnete Tür zu einer komplett anderen Welt zu machen, in der es so unendlich viel Neues und gleichzeitig Rätselhaftes zu entdecken gibt.

So finde ich mich vor einer kleinen, hölzernen Skulptur wieder, deren Gesicht von zahlreichen eingekerbten Linien und Ornamenten vollständig bedeckt ist, die so aussehen, als sollten sie Tätowierungen darstellen. Merkwürdig ist, daß aus dem Kopf der Skulptur ein hölzerner Pfahl ragt, der sie in der Länge um ein Vielfaches übertrifft. Weil ich mir keinen Reim darauf machen kann, versuche ich das Schild zu lesen, das eine Erklärung für das bereithält, was ich da sehe. Ganz einfach ist das nicht, denn zum einen erweist sich, wie ich feststellen muß, mein Englisch für historische Beschreibungen wie diese als nur bedingt gerüstet, zum anderen ist der Text mit vielen Begriffen der Māori-Sprache durchsetzt, mit denen ich nicht allzu viel anfangen kann. Ich habe seine ersten beiden Abschnitte einmal dem Versuch einer Übersetzung unterzogen[6]Im englischen Original lautet der zitierte Text: This poutokomanawa (central house-post) represents the ancestor Iwirākau holding his mere pounamu. When Edward Walker of Port Awanui obtained it at … [Weiterlesen]:

Dieser Poutokomanawa (zentraler Hauspfosten) stellt den Vorfahren Iwirākau dar, der seinen bloßen Pounamu hält.

Als Edward Walker aus Port Awanui ihn in den 1890er Jahren im Tikapa Marae erhielt, sagte ihm Karaitiana Wharehinga, daß es sich bei der Figur um Iwirākau handele, einen Vorfahren, der zehn Generationen zuvor dort gelebt hatte. Die Schnitzerei stammt von einem früheren Haus, das auf dem Tikapa Marae stand, wo heute das Pōkai-Versammlungshaus steht. Iwirākau ist berühmt als Begründer des Waiapu-Stils der Schnitzerei, der manchmal auch als Iwirākau-Schule bezeichnet wird.

Auch wenn ich das meiste der hier vermittelten Informationen durchaus verstehe, habe ich doch das Gefühl, daß mir aufgrund meiner unzureichenden, ach was, meiner nicht vorhandenen Kenntnisse der Kultur und Geschichte der Māori gewisse Teile des Erklärten entgehen. Was ist ein Pounamu? Und wer mag wohl Karaitiana Wharehinga sein? Wo befand sich das Tikapa Marae? Und was ist das eigentlich? Ich weiß es nicht, wie so einiges, was im weiteren Text der Erklärung noch erwähnt wird. Und leider muß ich mich für den Augenblick damit abfinden. Ich mache mir im weiteren Verlauf meines Rundgangs durch die Ausstellung dennoch die Mühe, die einzelnen Beschreibungstafeln zu lesen, auch wenn ich dabei die Erfahrung, nicht alles zu verstehen, was dort geschrieben steht, mehrfach wiederholen muß. Und doch: mit jeder Erklärung, die ich im folgenden lese, gewinne ich – zumindest ist das mein Gefühl – kleine Teile an Erkenntnis, beginnt – ein wenig zumindest – Verständnis zu wachsen. Und obwohl ich manches Mal auch verständnislos den Kopf schüttle, macht mir das Ganze doch ziemlich viel Spaß, dieses Eintauchen in eine völlig fremde Welt, Sprache und Kultur. Und geht es nicht genau darum, wenn einander fremde Kulturen aufeinandertreffen? Um das Kennenlernen, um die Erkenntnis, um das Verstehen? Hätte ich unendlich viel mehr Zeit und wäre nicht nur im Rahmen einer Urlaubsreise hier, wäre es natürlich viel ergiebiger, dies durch direkten persönlichen Kontakt mit der fremden Kultur und den Menschen, die sie leben und schaffen, herzustellen beziehungsweise zu gewinnen als nur im Zuge der Besichtigung einer Ausstellung ihrer leblosen Artefakte und Zeugnisse. Doch besser als nichts ist es allemal. Und irgendwo muß ich ja anfangen.

Der Pfosten mit der eingearbeiteten  Skulptur ist nicht das einzige Beispiel für die vortreffliche Schnitzkunst der Māori. Viele andere Stücke geben Zeugnis für das beeindruckende Können der Künstler unter den Ureinwohnern Neuseelands. Zierleisten mit reliefartigen Darstellungen oder auch nur Ornamenten, Rahmen von Türen und Toren sowie auch Alltagsgegenstände sind in den Räumen und Vitrinen auf- beziehungsweise ausgestellt und entfalten das Bild einer Kultur, in der die Vorfahren in steter Erinnerung behalten und in künstlerischen Darstellungen im unmittelbaren Lebensumfeld der Menschen verewigt werden, wo man andernorts und in anderen Kulturen Götter verehrte.

Doch nicht nur Schnitzkunst ist es, die hier präsentiert wird. Eines der beeindruckendsten Stücke der Sammlung ist Te Toki a Tapiri, das letzte der großen Kriegskanus der Māori. Es stammt aus dem Jahr 1836 und ist ein Einbaum, was bedeutet, daß dieses ganze fünfundzwanzig Meter lange Kanu, in dem bis zu einhundert Krieger Platz finden konnten, aus einem einzelnen Stamm des Tōtara-Baumes geschlagen wurde. Doch auch wenn das Kanu als Ganzes kein Werk der Schnitzkunst ist, haben seine Erbauer nicht darauf verzichtet, sie zu seiner Verzierung einzusetzen. Und wieder ist das Motiv der Ehrung der Vorfahren präsent, wurde das Gefährt doch nach Tapiri benannt, der ein Ahne eines seiner beiden Eigner  – Waaka Tarakau – war. So steht es auf der dem Kanu beigegebenen Erklärungstafel geschrieben.

Das Wasserfahrzeug ist so gewaltig, daß es nicht in einem einzigen Raum Platz findet. So befinde ich mich, als ich es seiner Länge nach abgeschritten habe, nunmehr in einem großen Saal, der eher einer großen Halle ähnelt, wird er doch von einer gewölbten Decke überspannt, in deren Mitte ein Oberlicht eingelassen ist. An einer der beiden Längsseiten dieser Halle ist in deren Mitte der Eingangsbereich eines hölzernen Māori-Hauses nachgebildet, das ein spitz zulaufendes Dach besitzt. Als ich interessiert nähertrete, stelle ich fest, daß sich in der hinteren Wand dieses Vorbaus ein kleiner Durchgang befindet. Ein Schild weist mich darauf hin, daß ich durchaus eingeladen bin einzutreten, mich dafür aber bitte meines Schuhwerks entledigen müsse. Da ich neugierig genug bin, wissen zu wollen, was sich denn wohl dahinter verbergen möge, schnüre ich meine Schuhe auf und ziehe sie aus. Dann trete ich hindurch.

Was ich nun vor mir sehe, verschlägt mir fast den Atem. Nein, das ist keine Nachbildung. Das ist das ganze komplette Haus! Eingebaut in das Museum. Was aber noch viel beeindruckender ist: Nahezu jeder Quadratzentimeter dieses ganz aus Holz errichteten Gebäudes ist über und über mit detailreichen Schnitzereien und Malereien bedeckt, wobei rote Farbtöne vorherrschen. Der Raum, in dem ich stehe, umfaßt das gesamte Innere des Hauses, was bedeutet, daß ich Boden, Wände und Dach zur Gänze vor mir sehe – nicht zuletzt auch deswegen, weil der Raum komplett leer ist. In seiner Mitte befindet sich ein einzelner dünner Holzpfeiler, der vom Boden bis zum Dach reicht und dieses, das sich ansonsten offenbar komplett selbst trägt, stützt. Die Wände werden durch in sie eingelassene Pfeiler in mehrere Felder unterteilt. Während die Oberflächen der Pfeiler komplett mit geschnitzten Bildmotiven bedeckt sind, trifft das für die zwischen ihnen liegenden Wandfelder nicht zu. Diese hat man mit bunten Teppichen verkleidet, nur über dem Fußboden sind hölzerne Leisten mit geschnitzten Motiven zu finden. Die Wandpfeiler gehen an ihrem oberen Ende unmittelbar in Dachbalken über, die an der Dachspitze aufeinandertreffen, wo sie durch einen die gesamte Länge des Daches messenden Längsbalken zusammengehalten werden. Sämtliche Dachbalken weisen in den Farben Rot, Weiß und Schwarz gehaltene Ornament-Malereien auf, wobei sich nach meinem Eindruck keines der Motive irgendwo wiederholt. Es ist wohl unnötig, darauf hinzuweisen, daß auch der einzelne, das Dach stützende Pfeiler in der Mitte des Raumes vollständig mit Schnitzereien bedeckt ist. Der Boden besteht ebenfalls aus Holz und ist auf Hochglanz poliert, was erklärt, warum Schuhwerk tragende Besucher hier nicht erwünscht sind.

Langsam durchwandere ich den gesamten Raum, der in meinen Augen als ein einziges Kunstwerk zu gelten hat. Es muß dies ein ganz besonderes Gebäude sein, denke ich bei mir. Ein gewöhnliches Wohnhaus der Māori ist dieses mit so außerordentlicher Handwerkskunst verzierte Gebäude ganz sicher nicht. Daß ich mit dieser Vermutung richtig liege, bestätigt mir, als ich wieder draußen bin, eine im Vorbau aufgestellte Tafel. Sie preist das Hotunui, wie das Gebäude genannt wird, als bedeutendes Stück in der Sammlung des Museums und erklärt, daß es sich dabei um ein komplett erhaltenes, traditionelles Marae handelt – ein Versammlungshaus der Māori. Und wieder rückt ein Stück Erkenntnis in meinem Kopf an seinen Platz. Nun weiß ich, was ein Marae ist. Das Hotunui, so lese ich weiter, wurde im Jahre 1878 in der Region um Thames, einer Stadt südöstlich von Auckland, errichtet. Das gesamte Gebäude besteht aus Holz und ist innen wie außen mit bemalten Schnitzereien bedeckt. Nun, das habe ich bereits selbst festgestellt und eingehend betrachtet und bewundert. Interessant ist jedoch noch eine weitere Geschichte. Als das Museum das Hotunui im Jahre 1925 erhielt, versah es dieses – aus welchem Grund auch immer – mit einem roten Anstrich. Die ursprüngliche Bemalung geriet so in Vergessenheit, was sich in einer Erneuerung der roten Übermalung in den 1950er Jahren ausdrückte. Es sollte noch einmal rund dreißig Jahre dauern, bis an dem Gebäude beschäftigte Restauratoren erkannten, was sich unter der roten Farbe verbarg. Die ursprüngliche Gestaltung des Hotunui wurde wiederentdeckt und seitdem Stück für Stück wiederhergestellt.

Auch an seiner Außenseite ist das Versammlungshaus mit zahlreichen Schnitzereien verziert. Das gilt für den Rahmen des Durchgangs ins Innere ebenso wie für die Vorderseiten der äußeren Wandpfosten und die Schlußleisten an den Dachschrägen. Dort, wo diese an der Spitze aufeinandertreffen, ist eine geschnitzte Maske befestigt, unter der sich ein kleines Holzdreieck befindet, auf dem das Wort „HOTUNUI“ zu lesen ist – ein Detail, das mir erst später beim Betrachten eines entsprechenden Fotos auffällt. Manchmal frage ich mich, ob wir alle wohl aufmerksamer durch die Welt gingen, wenn wir uns nicht auf unsere allgegenwärtigen Fotokameras verlassen könnten.

Neben dem Hotunui verfügt das Auckland War Memorial Museum noch über zwei weitere komplette Holzgebäude der Māori, von denen eines in seiner unmittelbaren Nähe in dem großen Saal aufgebaut ist. Von weitem könnte man es für ein übergroßes Zelt halten, das jemand mitten in dieser Ausstellungshalle aufgestellt hat, wären da nicht die reichhaltigen Schnitzereien an seiner Vorderfront, die jene des Hotunuis noch um ein Vielfaches übertreffen. Auch hier ist die Farbe Rot vorherrschend. Als ich näherkomme, stelle ich fest, daß sich mit jedem Schritt, den ich mich darauf zu bewege, mehr und mehr Details in den Schnitzereien herausbilden. Als ich mich schließlich unmittelbar vor dem Gebäude befinde, ist daraus ein regelrechtes Meer filigraner Muster geworden, die aus Myriaden kleinster, teils nur millimetergroßer Elemente zusammengesetzt sind. Hier waren grandiose Meister am Werk. Doch nicht nur Muster prägen das Bild. In die Pfosten sind Figuren eingearbeitet, die meinen bisherigen Erfahrungen zufolge vermutlich Vorfahren der einstigen Hausbewohner zeigen. Wie bei der Skulptur des Iwirākau in dem Hauspfosten, den ich am Anfang der Ausstellung betrachtet hatte, weisen einzelne Gesichter auch hier eingekerbte Linien und Ornamente auf, die zudem mit schwarzer Farbe nachgezeichnet sind. Nun bin ich mir sicher, daß es sich dabei um die Darstellung von Tätowierungen handelt. Wieder drängt sich mir der Eindruck auf, die Zeugnisse einer mir völlig fremden Kultur zu betrachten. Sie strahlen eine ganz eigenwillige Form der Ästhetik aus, die in mir, wie ich überrascht feststelle, widerstreitende Gefühle hervorruft. Einerseits bin ich nicht gerade ein Fan von Tätowierungen jeglicher Art, schon gar nicht im Gesicht, doch andererseits komme ich bei den hier gezeigten Darstellungen nicht umhin, eine gewisse Schönheit darin zu sehen. Wie so oft im Leben gibt es eben auch hier nicht nur Schwarz und Weiß. Die Welt ist differenzierter, komplexer, vielfältiger. Und so kann man Schönheit auch dort finden, wo man sie überhaupt nicht vermutet.

Von dem Ausstellungsteil, der sich mit den kulturellen Errungenschaften der Māori befaßt, gelangen wir schließlich in den Bereich, in dem es um ihre Geschichte geht. Hier bekommen wir eines der Boote zu sehen, mit dem die Polynesier sich dreihundert Jahre, bevor die ersten Europäer Neuseeland erreichten, auf den Weg über den Ozean machten, um neues Land zu suchen, das sie dann schließlich in den beiden großen Inseln Neuseelands auch fanden. Als ich mir allerdings den schmalen Kahn mit den Auslegern und dem kleinen Segel so ansehe und mir vorstelle, wie er auf den unendlichen Weiten des großen Weltmeeres, genannt Pazifik, zwischen den Wellen dahintreibt, kommt mir die Bezeichnung Nußschale dafür auf einmal sehr zutreffend vor. Wieviel Wagemut und Vertrauen müssen diese Menschen damals aufgebracht haben, ein solch zerbrechliches Gefährt zu besteigen und sich ihm für die Fahrt über das große Wasser auf Gedeih und Verderb anzuvertrauen, ohne dabei genau zu wissen, wo sie ankommen, ja, ob sie überhaupt Land finden werden, bevor ihnen Nahrung und Wasser ausgehen. Wenn heutige Zeitgenossen davon sprechen, wie ungemein schwer es doch gewesen sei, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich auf den Weg zu machen, um Neuland zu betreten, machen sie sich, verglichen mit diesen Menschen, nachgerade lächerlich. Das Gewohnte verlassen? Neuland suchen und betreten? Die Polynesier haben es getan. Buchstäblich. Und haben sich dafür zahllosen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt. Dagegen haben wir heute absolut nichts auszustehen.

Ein Stockwerk höher wechselt das Thema der Ausstellung komplett. Nun geht es um die Naturgeschichte des Inselstaates. Wir treten durch einen Durchgang – und finden uns in einer Versammlung von Sauriern wieder. Nicht, daß sie Angst in uns hervorrufen würden. Eher Grusel. Zu behaupten, sie bestünden nur aus Haut und Knochen, wäre geprahlt. Es sind nur Knochen. Skelette, um genau zu sein. Kleine, große, fliegende – hier scheinen die wichtigsten Saurierarten versammelt zu sein. Daß es sie auch in Neuseeland gegeben hat, ist keine Überraschung. Daß ihnen hier die Säugetiere nicht nachgefolgt sind, schon. Die Erklärung liefert die Ausstellung ebenfalls. Ich lerne, wie Neuseeland vor vielen Jahrtausenden vom einstigen Urkontinent Gondwana abbrach und daß aufgrund dieses Vorgangs Säugetiere die Inseln nie erreichten. Statt ihrer wurden die Vögel hier zur dominanten Lebensform und füllten die Rolle der Säugetiere aus. In der Folge wurden viele Arten flugunfähig. Ihr prominentester Vertreter ist der Vogel, der den heutigen Bewohnern der Inseln zu ihrem Spitznamen verhalf: der Kiwi. Einige dieser vielfältigen Laufvogelarten entwickelten sich zu enormer Größe. Davon können wir uns selbst überzeugen, als wir in einer übergroßen Vitrine einen Moa antreffen. Wahrscheinlich ist es eine Nachbildung und kein ausgestopftes Exemplar, denn der Moa ist heutzutage ausgestorben. Bis zu drei Metern konnte er groß werden. Nun, dieser hier ist es auf jeden Fall. Gut, daß er in der Vitrine steckt. Und nicht echt ist. Einem realen Moa hätte ich wohl nicht unbedingt persönlich begegnen wollen. Immerhin befindet sich in der Höhe meines Kopfes gerade mal das obere Ende seiner Beine!

Ausgestopfte oder nachgebildete Vögel bekommen wir im weiteren Verlauf der Ausstellung noch einige zu sehen. Manche stehen einfach so in den Vitrinen, andere werden in Nachbildungen ihrer jeweiligen Lebensräume gezeigt. Als wir das Ende dieses Museumsteils erreichen, machen sich unsere Mägen inzwischen deutlichst bemerkbar. Irgendwie haben wir das Mittagessen vergessen, und das nehmen sie uns jetzt doch ein wenig übel. Zeit, etwas Eßbares zu suchen.

Nun, wirklich suchen müssen wir natürlich nicht. Daß sich am Eingang des Museums ein Café befindet, ist uns noch gut in Erinnerung. Also machen wir uns kurzerhand dorthin auf den Weg. Dadurch entgeht uns allerdings der für das Museum namensgebende Ausstellungsbereich, der sich mit all den Kriegen beschäftigt, die in der Menschheitsgeschichte in irgendeinem Zusammenhang mit den beiden Inseln stehen. Nun, das kann ich gut verschmerzen. Mein Interesse an kriegerischen Auseinandersetzungen war nie besonders ausgeprägt.

Das Essen im Café – meine Erinnerung weiß dazu nichts zu sagen. Es hat wohl keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wir beschließen, daß wir für diesen Tag genug gesehen und erlebt haben und uns nach dem Marathonprogramm vom Vortag etwas Ruhe gönnen wollen. Wir verlassen also das Museum und fahren mit der roten Route des Auckland Explorers zurück in die Innenstadt.

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Referenzen

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1 Der originale Text lautet:

This obelisk was first erected by
Stephenson Percy Smith,
Chief Geodetic Surveyor,
on the 17th day of August 1872
as initial station for the triangulation
of the Auckland province, instituted by
Captain Theophilus Heale
Inspector of Surveys.

„Prudens Futuri“

2 Der Text dieser zweiten Tafel lautet im Original:

May this obelisk re-erected in 1933
serve as a memorial to the
Pioneer Surveyors
who played so worthy a part in
the transformation of a wilderness
into the smiling land which
lies before you.
For their work continueth
great beyond their knowing.

3 Auf der Tafel ist zu lesen:

This tablet
was erected by the
N.Z. Institutes of Surveyors
and Survey Draughtsmen
on 26 November 1947, the
centenary of the death of
the first Surveyor-General
of N.Z., Felton Matthew.

Die deutsche Übersetzung lautet:

Diese Tafel
wurde vom neuseeländischen
Institut der Vermessungsingenieure
und Vermessungszeichner
am 26. November 1947 aufgestellt,
dem hundertsten Jahrestag des Todes
des ersten Generalvermessers
von Neuseeland, Felton Matthew.

4 Der Text der Tafel lautet:

To commemorate the founding,
on 22nd June 1865, of the
Auckland Provincial
Surveyors Association.
This plaque was placed
by the Auckland branch
of the New Zealand
Institute of Surveyors
22nd June 1965

Übersetzt heißt das:

Zum Gedenken an die Gründung der
Vereinigung der Vermessungsingenieure
der Provinz Auckland
am 22. Juni 1865.
Diese Gedenktafel wurde angebracht
durch den Auckland-Zweig
des neuseeländischen
Instituts der Vermessungsingenieure.
22. Juni 1965

5 Auf der Tafel ist zu lesen:

This plaque is to celebrate the third century of
surveying in the Auckland area. In this coming
century, the Auckland Branch of the NZ Institute of
Surveyors will strive to contribute to the growth
and prosperity of our region.

This Historic Monument was restored in March 2001 by the
Auckland Branch of the NZ Institute of Surveyors, in
Partnership with the 1998-2001 Eden Albert Community Board.

Übersetzt heißt das:

Diese Gedenktafel feiert das dritte Jahrhundert der
Vermessung in der Region Auckland. In diesem kommenden
Jahrhundert wird Auckland-Zweig des neuseeländischen Instituts der Vermessungsingenieure
bestrebt sein, einen Beitrag zum Wachstum
und Wohlstand unserer Region zu leisten.

Dieses historische Monument wurde im März 2001 vom
Auckland-Zweig des neuseeländischen Instituts der Vermessungsingenieure, in
Partnerschaft mit dem Eden Albert Community Board 1998-2001, restauriert.

6 Im englischen Original lautet der zitierte Text:

This poutokomanawa (central house-post) represents the ancestor Iwirākau holding his mere pounamu.

When Edward Walker of Port Awanui obtained it at Tikapa marae in the 1890’s, he was told by Karaitiana Wharehinga that the figure was Iwirākau, an ancestor who lived there ten generations earlier. The carving is from an earlier house, which stood on Tikapa marae where the Pōkai meeting house now stands. Iwirākau is famous as the founder of the Waiapu style of carving, sometimes known as the Iwirākau school.

Die Stadt der Victoria

Dieser Beitrag ist Teil 5 von 10 der Beitragsserie "Reise nach Neuseeland & Singapur"
Wie ich einen ganz und gar der Königin Victoria gewidmeten Ort besuchte

Als wir am Ferry Building ankommen, fällt mir etwas auf, was mir bei unserem gestrigen Besuch hier entgangen war: das Gebäude ist streng symmetrisch gestaltet. Der Uhrenturm befindet sich genau in der Mitte und wird von der Gebäudefassade aufgenommen und als Mittelrisalit mit einer einzigen Fensterachse bis zum Boden geführt. Zu beiden Seiten schließen sich jeweils fünf Fensterachsen an, deren zwei mittlere wiederum als Risaliten ausgeführt sind. Während der mittlere oben durch einen dreieckigen Giebel abgeschlossen wird, weisen die beiden seitlichen Risaliten an ihrem oberen Ende Rundbögen auf, die im Erdgeschoß in großen Torbögen ihre Entsprechung finden. Bei diesen wird dann die Symmetrie allerdings durchbrochen. Während der linke dieser Torbögen den Eingang zu dem Restaurant „Botswana Butchery“ bildet, das mir bereits am Vortag durch seine martialischen Türgriffe in Form von Fleischerbeilen aufgefallen war, gewährt der rechte einem öffentlichen Weg Durchlaß, der zu den hinter dem Ferry Building liegenden Fährterminals führt. Diesen Weg nehmen nun auch wir, denn wir wollen eine der Fähren besteigen. Angeregt durch unsere aus der luftigen Höhe des Sky Towers angestellten Betrachtungen der rund um den Waitematā Harbour ausgedehnten Stadt haben wir uns kurzerhand dazu entschlossen, den restlichen Nachmittag für einen Ausflug nach Devonport zu nutzen, einem Ortsteil Aucklands, der auf der gegenüberliegenden Seite des großen Naturhafens liegt.

Damit man uns an Bord der Fähre läßt, müssen wir zunächst Tickets erwerben. Das ist am Fahrkartenschalter schnell erledigt, wobei wir allerdings daran denken müssen, sie für die Rückfahrt gleich mitzukaufen, denn wir wollen ja nachher auch wieder zurück und haben keine Ahnung, wie lange die Ticketausgabe an unserem Ziel geöffnet hat, ob es dort Ticketautomaten gibt und ob diese funktionieren. Sicher ist also sicher. Anschließend begeben wir uns zum Pier, an dem die Fähren nach Devonport abgehen. Lange müssen wir nicht warten, denn der Fahrplan sieht jede halbe Stunde eine Fahrt vor. Offenbar ist Devonport ein beliebtes Ziel.

Tatsächlich ist die Fähre einigermaßen gut ausgelastet, allerdings auch nicht so sehr, daß wir Schwierigkeiten hätten, einen Platz zu finden. Wir sind allerdings gar nicht so sehr daran interessiert, uns zu setzen. Wir begeben uns stattdessen sofort zum hinteren Ende des Schiffes, wo wir auf dessen Deck im Freien stehen können und eine wunderbare Aussicht haben, die sich allerdings im Augenblick noch auf das Ferry Building beschränkt, da wir ja noch nicht abgelegt haben. Das Schiff ist eine reine Personenfähre, nicht gerade klein, aber auch nicht übermäßig groß. Es besitzt drei Decks, deren zwei den Passagieren zur Verfügung stehen, während das dritte – obere – nur den Führerstand beherbergt. Betrieben wird unsere Fähre von Fullers Ferry, einem Unternehmen, das den Nahverkehr zu Wasser in Auckland fest in der Hand zu haben scheint, denn soweit ich sehen kann, tragen alle Fähren hier seinen Namenszug. Was Schiffstypen angeht, habe ich nur ausgesprochen rudimentäre Kenntnisse. Sie reichen jedoch soweit aus, um festzustellen, daß unsere Fähre ein Katamaran ist. Zu erfahren, daß er auf den Namen „Kea“ hört, erfordert hingegen kein besonderes Vorwissen. Dafür muß ich nur lesen können, denn der Name steht am Heck. Oder zumindest an dem, was ich für das Heck halte. Denn wie ich später herausfinden werde, ist unser Schiff der Länge nach symmetrisch gebaut, was es ihm ermöglicht, in beide Richtungen gefahren werden zu können, ohne wenden zu müssen. Das spart enorm Zeit und erlaubt es, den halbstündigen Fährbetrieb zwischen dem Fährterminal und Devonport nur mit diesem einen Schiff zu bewerkstelligen. Die Überfahrt selbst dauert nämlich nicht einmal eine Viertelstunde. Der Name „Kea“ ist im übrigen ganz passend für ein Schiff, das in den Gewässern Aucklands verkehrt, denn der Kea ist ein in Neuseeland beheimateter Vogel, der vorwiegend in alpinen Regionen lebt und daher gelegentlich auch als Bergpapagei bezeichnet wird. Leider ist er – wie so viele andere Tierarten auf der Welt auch – vom Aussterben bedroht.

Abfahrt vom Fährterminal in Auckland
Auch von seiner „Seeseite“ bietet das Ferry Building einen wunderschönen Anblick, wie man vom Heck einer gerade ablegenden Fähre sehen kann.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Nun, da ich also den Namen des Schiffseigners ebenso kenne wie den des Schiffs, steht aus meiner Sicht der Fahrt nichts mehr im Wege. Der Steuermann sieht das offenbar genauso, denn just in diesem Augenblick geht es los und unser Schiff legt ab. Solange wir uns noch in den Gewässern des Fährterminals befinden, bewegen wir uns recht gemächlich. Das läßt mir genug Zeit, nacheinander mehrere Fotos in Richtung der Innenstadt Aucklands zu schießen, die sich langsam von uns entfernt – oder wir uns von hier, je nachdem, welche Perspektive man einnimmt. Während das Ferry Building nach und nach kleiner wird, weitet sich unser Blickfeld und wir können nun auch die Hochhäuser sehen, die unmittelbar hinter ihm stehen. Kurz darauf kommen links und rechts weitere hinzu. Stück für Stück formt sich so, je weiter wir uns entfernen, eine Skyline der Central Business District genannten Innenstadt. Und gerade als hinter den Hochhäusern der sie überragende Sky Tower zum Vorschein kommt und die Skyline vervollständigt, sind wir offenbar weit genug in den Waitematā Harbour hinausgefahren, um nun richtig Fahrt aufnehmen zu können. Unser Schiff beschleunigt, und jetzt geht es zügig vorwärts in Richtung Osten, während wir eine breite Spur aufgewühlten Wassers hinter uns herziehen, von der sich mit weißem Schaum gekrönte Wellen keilförmig nach links und rechts entfernen. Das Ganze hat gerade einmal vier oder fünf Minuten gedauert, und wir haben nun ein atemberaubendes Stadtpanorama vor unseren Augen. Auf die Anlagen des Frachthafens mit den großen Hafenkränen und den Lagerhallen ganz links folgt die Skyline der Innenstadt, dominiert von Wolkenkratzern, die den schlanken, eleganten und sie alle überragenden Sky Tower in ihre Mitte genommen haben. Dort, wo die Hochhäuser enden, schließt sich das Wynyard Quarter an, hinter dem die Auckland Harbour Bridge emporsteigt, um – nun schon in weiter Entfernung zu uns – den Waitematā Harbour zu überspannen. Rechts, wo die Brücke schließlich wieder Land erreicht, sehen wir die grünen Ufer von North Shore City. Vor all dem dehnt sich die weite, blau-grüne Wasserfläche des großen Naturhafens, und darüber wölbt sich ein strahlend blauer Himmel, an dem nur ganz vereinzelt ein paar weiße Wölkchen zu sehen sind. Wie hingetupft sehen sie aus. Wir stehen an dem Ende des Schiffs, das aufgrund unserer aktuellen Fahrtrichtung gerade das Heck abgibt, und blicken andächtig auf dieses prächtige Panorama, das sich da vor unseren Augen förmlich entrollt hat.

Ein Auckland-Panorama
Von den Wassern des Waitematā Harbours bietet sich dieses wahrlich beeindruckende Panorama Aucklands, das mit dem Sydneys durchaus vergleichbar ist.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Schiffe verkehren zwischen Auckland – beziehungsweise der heutigen Innenstadt von Auckland – und Devonport schon seit dem Jahr 1840. Anfangs waren es einfache Segelkutter, offen und ohne jeglichen Komfort, die von einheimischen Seeleuten gesteuert wurden. Zwanzig Jahre später hielt die Technik Einzug und die Segelschiffe wurden von Schaufelraddampfern abgelöst.  Mehr als vierzig Jahre darauf, im Jahre 1904, stellte man dann Fähren mit Schiffsschraubenantrieb in Dienst. Mit dem Aufkommen des Autos als Verkehrsmittel erweiterten die Fährenbetreiber ihr Transportangebot auch auf die neuartigen fahrbaren Untersätze. So blieb es bis zum Jahr 1959. Mit der Eröffnung der Auckland Harbour Bridge wurden die Fähren zur Beförderung von Fahrzeugen als überflüssig angesehen und man stellte ihren Betrieb ein. Auch den Betrieb der Passagierfähren reduzierte man drastisch, einige Linien wurden ganz aufgegeben. Doch totzukriegen war der Fährbetrieb nicht. Denn trotz der neuen Brücke blieb die Verbindung zwischen nördlicher und südlicher Seite des Waitematā Harbours für einige Bereiche der sich ausdehnenden Städte Auckland und North Shore City ausgesprochen umständlich und zeitintensiv. Und das verstärkte sich noch, weil sich die Brücke schnell zu einem verkehrstechnischen Nadelöhr entwickelte. So behielt man einige Fährverbindungen bei, die allerdings weniger Fahrten anboten als bisher und auch keine Autos mehr transportierten. Und so verkehren heute zwischen der Innenstadt Aucklands und Devonport nur noch Personenschiffe.

Und dann sind die nicht einmal fünfzehn Minuten, die unsere Fahrt dauert, auch schon wieder fast um. Wir werden langsamer und legen kurz darauf am Fährterminal in Devonport an, dem sogenannten Devonport Wharf. Dieser lehnt sich an den benachbarten Victoria Wharf an, der einst die Anlegestelle für die Autofähren war. Beide Piere sind so angeordnet, daß sie gemeinsam ein großes F bilden. Weil aber beide auch ihren eigenen Zugang zum Festland haben, sieht dieses F so aus, als habe es noch eine Stütze, die es am Umfallen hindert[1]Auf Google Maps kann man sich das sehr schön ansehen..

Als wir das Schiff verlassen haben und über den Pier an Land gegangen sind, finden wir uns auf einem großen Parkplatz wieder. Und weil der nicht sonderlich attraktiv ist, verlassen wir ihn schnell. Rechts liegt eine kleine Grünanlage, die mit ihrer Rasenfläche, vor der einige alte Bäume stehen, wesentlich ansehnlicher wirkt, so daß wir auf sie zugehen. Als wir sie erreicht und damit den Parkplatz, dem man den Namen Marina Square verpaßt hat, hinter uns gelassen haben, bietet sich uns bereits ein ganz anderes, wesentlich verlockenderes Bild. Unmittelbar vor uns beschreibt eine Straße, parallel zum Ufer aus westlicher Richtung kommend, eine Kurve und führt in nördlicher Richtung direkt in den Ort hinein. An der Ecke, um die sie herumführt, steht ein Gebäude, das, seiner äußeren Erscheinung nach zu urteilen, direkt aus einem Seebad stammen könnte. Seine beigefarbene Fassade mit in Ockertönen abgesetzten Kanten, Pilastern und Fenstereinfassungen beschreibt eine ebensolche Kurve wie die Straße vor ihm, wobei sie allerdings nicht perfekt rund, sondern vorn abgeflacht ist, so daß sich eine Hauptfront ergibt, die direkt auf die Straßenecke hinausgeht. Bekrönt mit einem oben abgerundeten, von zwei kleinen Ziertürmchen flankierten Scheingiebel, in dessen Mitte ein tiefblaues Schild mit der weißen Aufschrift „The Esplanade Hotel“ prangt, bietet sie Besuchern im Erdgeschoß den Haupteingang des Gebäudes dar. Und damit diesen der Zweck des Hauses auch keinesfalls entgeht, ist der Zugang mit einer ebenso tiefblauen Markise versehen, auf deren Blende der Name des Hotels in großen weißen Lettern wiederholt wird.

The Esplanade Hotel in Devonport
Direkt vom Fähranleger in Devonport kommend, wird man als erstes vom Esplanade-Hotel begrüßt, einem mehr als einhundert Jahre alten Seehotel.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Dieses Esplanade-Hotel sieht nicht nur so aus, es ist tatsächlich ein typisches Seehotel aus der Zeit des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert. Vor seiner Errichtung hatte es mit dem alten Flagstaff Hotel bereits ein solches Etablissement gegeben, das im Jahr 1900 seinen Besitzer wechselte. Die lokale Firma Northern Property Limited, die es erwarb, hatte allerdings kein Interesse daran, es weiterzubetreiben. Da sie vielmehr Pläne für einen Neubau im Stile der aus den englischen Küstenstädten Brighton und Blackpool bekannten Kurhotels hatte, ließ sie es kurzerhand abreißen. 1901 begann man mit dem Neubau, zwei Jahre später war er fertiggestellt. Dem neu errichteten Hotel gab man ganz folgerichtig den Namen des damals bekanntesten Kurhotels im englischen Brighton: The Esplanade Hotel. Schnell entwickelte sich das Etablissement, da es gut geführt wurde, zu einem beliebten Hotel im damaligen Seebad Devonport. Es wechselte im Laufe der Zeit mehrfach den Besitzer, blieb aber stets als Hotel erhalten – bis zum heutigen Tag, an dem wir nun davorstehen und es betrachten.

Wir setzen unseren Weg in die kleine Grünanlage fort, die den Namen Windsor Reserve trägt. Unser Ziel ist der kleine Sandstrand, der sich direkt an den Park anschließt. Es ist der erste, den wir seit unserer Ankunft in Auckland finden. Dort angekommen, werfen wir nicht nur einen andächtigen Blick hinaus auf die weite Fläche des Waitematā Harbour und das jenseitige Ufer, sondern nutzen auch die Gelegenheit, endlich einmal wenigstens die Füße ins Wasser zu halten. Wenn man schon einmal am Pazifik steht… Der Vollständigkeit halber sei berichtet, daß es recht kalt ist – baden wollen wir also nicht nur wegen fehlender Badesachen lieber nicht. Obwohl das ohne weiteres möglich gewesen wäre, denn wir sind heute die einzigen Menschen hier. So werden wir bei unserem Tun lediglich von einer Schar Möwen beobachtet, die die beiden Besucher, die da so einfach über ihren Strand laufen, argwöhnisch beäugen.

Leider schenken wir in unserem Bestreben, den Strand zu erreichen, der kleinen Grünanlage kaum nennenswerte Beachtung. Nun, außer der bereits erwähnten Rasenfläche und den Bäumen, einem Spielplatz und einer öffentlichen Toilette hat sie dem Auge auch nicht sonderlich viel zu bieten. Meinen wir jedenfalls. So entgeht uns allerdings ein Detail, von dem ich leider erst später erfahre, das ich aber gerne gesehen hätte. Denn irgendwo im Boden dieses überschaubar großen Parks ist eine kleine Tafel eingelassen, die folgende einfache Inschrift trägt:

On this site in 1897 nothing happened.

Die Übersetzung lautet:

An dieser Stelle ist 1897 nichts passiert.

Es heißt, diese Tafel sei eines Nachts unverhofft hier aufgetaucht, also – wohl heimlich – angebracht worden. Sie sei ein Beweis für den Humor des in Devonport geborenen Terry Sheehan, der wohl für sie verantwortlich zeichnete. Sheehan, der sich einst scherzhaft zum „König von Devonport“ in der „Republik des Flaggenmasts“ erklärt hatte, war allerdings nicht einfach nur ein Witzbold.  2013 neunundsiebzigjährig verstorben, ist Sheehan bis zum heutigen Tage für seine Wohltätigkeit und sein Engagement in den Bereichen Verlagswesen, Werbung und Rugby ebenso bekannt wie für sein Talent zum Witzeerzählen. Die Tafel, sagt man, sei somit auch ein Denkmal für ihn und seinen Humor. Und dieser ist in diesem Zusammenhang durchaus hintergründig, denn der Erinnerungstext auf der Tafel, der zunächst einmal vollständig der Wahrheit entspricht, bezieht sich mit der Jahresangabe 1897 ziemlich sicher auf die Furcht der damaligen Neuseeländer vor einer Invasion der russischen Pazifikflotte, die zur Absicherung gegen den erwarteten Angriff in der Gegend um Auckland Waffen aufstellten und militärische Einrichtungen etablierten. Wir waren bereits im Albert Park darauf gestoßen, doch auch in Devonport, das schon damals ein Marinestützpunkt war, hatte man entsprechende Vorkehrungen getroffen. Passiert war dann allerdings, wie es auch die Erinnerungstafel feststellt, nichts. Wie sagt man so schön: genau mein Humor!

Die Geschichte des kleinen Devonports beginnt bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, was es zu einem der ältesten Vororte Aucklands macht. Bereits um etwa 1840 war das Gebiet der Stadt besiedelt worden, wobei man bei dieser Jahresangabe nur die Landnahme durch eingewanderte Europäer berücksichtigt. Māori-Siedlungen hatte es auf der Halbinsel, auf der Devonport sich befindet, bereits lange vorher gegeben. Zunächst gab man dem Ort den Namen Flagstaff, was auf Deutsch Flaggenmast bedeutet. Tatsächlich war zu jener Zeit auf dem nahegelegenen Berg ein solcher aufgestellt worden, der der Kommunikation mit den Schiffen im Waitematā Harbour diente. Folgerichtig nannte man den Berg zunächst einfach Flagstaff Hill, gab ihm aber noch in den 1840ern den neuen Namen Mount Victoria, zu Ehren der seit 1837 regierenden englischen Königin. 1859 benannte man dann auch den Ort um, wobei man die gleichnamige englische Stadt als Namenspatron wählte. Der erwähnte Marinestützpunkt war bereits in den Anfangstagen der Stadt westlich von ihrem Zentrum als Reede für die Schiffe der Royal Navy entstanden. Aus dieser entwickelte sich die noch heute bestehende Devonport Naval Base, die die größte Basis der Royal New Zealand Navy ist. Bis 1989 blieb der Ort selbständig. Dann wurde er Teil von North Shore City, das, wie wir bereits wissen, die einst viertgrößte Stadt Neuseelands war. Gemeinsam mit dieser wurde Devonport dann 2010 in Auckland eingemeindet. Heute ist der Ort bei den Einwohnern der Großstadt für seinen altertümlichen Charme bekannt und beliebt. Es heißt, sie kämen abends nach Feierabend gerne mit der Fähre herüber, zu einem gemütlichen Abendessen in einem der zahlreichen Restaurants und Cafés des Ortes.

Nun, von diesem Charme wollen wir uns nun höchstpersönlich überzeugen, und so überlassen wir, als wir unsere Strümpfe und Schuhe wieder an den Füßen haben, den Möwen ihren Strand wieder für sich und machen uns auf den Weg zu der in den Ort hineinführenden Straße, die wir auf unserem Weg hierher bereits bemerkt hatten.

Die Victoria Road, wie diese Straße heißt, wurde ebenfalls zu Ehren der britischen Königin, die dreiundsechzig Jahre das Oberhaupt des britischen Empires war, benannt – wie übrigens auch der Victoria Wharf, den wir schon bei unserer Ankunft in Devonport kennengelernt hatten – und kann als die Hauptstraße des Zentrums Devonports angesehen werden. Gesäumt von zahlreichen Cafés und Restaurants, die ebenso zum Verweilen einladen wie die vielen kleinen Läden, deren Angebote von Papierwaren über Schmuck und Spielzeug bis hin zu Büchern und Kleidern reichen, ist sie ein wahres Paradies für Bummler.

The Arcade in Devonport, Auckland
Ein langgestreckter historischer Bau mit nur einem Obergeschoß, in der Mitte ein bogenförmiger Eingang, in dessen Wölbung der Name der Einkaufspassage steht – das ist „The Arcade“ in der Victoria Road in Devonport.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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In dieses Paradies treten nun auch wir ein, als wir gegenüber der Windsor Reserve in einem langgestreckten Gebäude durch einen bogenförmigen Eingang hindurch eine Einkaufspassage betreten, die sich einfach „The Arcade“ nennt. In den 1870er Jahren errichtet, verbindet sie die Victoria Road mit der parallel verlaufenden Wynyard Street. Dem Gebäude mit der hellen bläulich-grauen Fassade, in dem ihr Eingang liegt, sieht man deutlich an, daß es wie die meisten Häuser in dieser Straße aus einer anderen Zeit stammt. Hohe, schmale Bogenfenster reihen sich im einzigen oberen Stockwerk nebeneinander, darüber krönt eine Balustrade die Fassade, die direkt über dem Eingang dessen Bogen wiederholt. In ihrem Inneren ist die Einkaufspassage – ganz im Gegensatz zu anderen Vertretern ihrer Art, die ich beispielsweise in den australischen Städten Sydney, Melbourne oder Adelaide kennengelernt habe – völlig unprätentiös. Sie kommt gänzlich ohne den Glanz und Glamour aus, den ich dort angetroffen habe; sicher eine direkte Folge dessen, daß Devonport niemals eine Großstadt war, sondern immer eher den Charakter eines Seebades hatte. Tatsächlich möchte ich die Arkade, die wir hier durchwandern, in ihrer inneren Ausgestaltung rustikal nennen, wirkt sie doch in ihrem hinteren Teil sogar so, als hätte man einfach einstige Hinterhöfe und Durchgänge überdacht, um eine Arkade zu schaffen. So finden wir uns unverhofft in einem Restaurant oder Café wieder, dessen Wände so aussehen, als seien es früher die aus Ziegeln erbauten Außenwände von Häusern mit spitz zulaufenden Dächern gewesen. Diese Form wird von dem Glasdach über dem Lokal aufgenommen, was den Eindruck verstärkt, das wir uns hier in einem früheren Hof befinden. Am anderen Ende der Arkade, dort, wo sie die Wynyard Street erreicht, ist es dann mit dem altertümlichen Charme allerdings ganz vorbei. Als wir dort ins Freie treten, stehen wir noch ein Stück von der Straße entfernt auf einem kleinen Parkplatz – schon wieder -, der an drei Seiten von eingeschossigen Bauten umgeben ist, die eher an provisorische Baracken erinnern als an Häuser. Kehren wir lieber wieder um.

Durch die Passage zurückgelangt zur Victoria Road, wandern wir diese weiter in Richtung Norden, dem Berg entgegen, der sich an ihrem hinteren Ende erhebt und ihr dort ein natürliches Ende zu bereiten scheint. Das muß der Mount Victoria sein. Schauen wir mal.

Auf der anderen Straßenseite, dort, wo sich hinter der in die Victoria Road einmündenden King Edward Parade der kleine, Windsor Reserve genannte Park fortsetzt und ein Flachbau die städtische Bibliothek beherbergt, schimmert unter den Blättern der Bäume etwas Knallbuntes hervor. Neugierig wechseln wir die Straßenseite, um uns das einmal anzuschauen. Als wir dort ankommen, bleiben wir zunächst kurz vor einer Statue stehen, die auf einem Sockel aus Feldsteinen steht und einen uniformierten Soldaten zeigt, der seinen Hut in der Hand trägt und ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett über der Schulter hängen hat. Dieses von Francis Ennis Lynch geschaffene Denkmal erinnert, wie eine an seinem Fuße befindliche Plakette mitteilt, an die Männer aus Devonport, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben verloren. Die Namen der Getöteten sind auf einer großen Tafel, die vorn am Sockel angebracht ist, aufgelistet. Eine weitere Sammlung von Namen ist in späterer Zeit an der Seite des Denkmals ergänzt worden. Sie führt die Namen der Einwohner Devonports auf, die der kleine Ort im Zweiten Weltkrieg verloren hat. Unwillkürlich kommt mir der Gedanke in den Sinn, daß zu hoffen bleibt, daß nicht in Zukunft eine weitere Ergänzung dieses Denkmals erforderlich sein wird und daß, sollte das doch der Fall sein, möglicherweise niemand mehr da sein wird, der diese vornehmen könnte.

Schnell schüttele ich diese düsteren Gedanken ab und wende mich einem großen Baum zu, der hinter einer ausladenden, hölzernen Bank mit steinerner Rückwand steht, die einen weiten Halbkreis formt und das Denkmal an seiner hinteren Seite förmlich umarmt. Dieser Baum, aus dessen Basis riesigen Umfangs bereits in einem Meter Höhe drei sehr dicke Stämme herauswachsen, ist in einen bunten Flickenteppich eingehüllt, der bis in eine Höhe von wenigstens zwei Metern, wenn nicht mehr, hinaufreicht und somit sowohl die Basis als auch die drei Stämme jeweils einzeln umhüllt. Flickenteppich ist dabei keineswegs despektierlich gemeint, sondern soll lediglich die Art der Umhüllung illustrieren, die wahrlich aus vielen einzelnen, unterschiedlich großen Flicken in allen möglichen Farben und Mustern zusammengesetzt ist. Alle sind gestrickt oder gehäkelt. Hier sind bunte Blumen zu sehen, dort scheinen Wellen hin und her zu schwappen. An einer Seite blickt mich eine rote Maske an, deren Nase und – sind das Stoßzähne? – sogar aus ihr herausragen. Dreidimensionale Strickkunst sozusagen. Hier bunte Sterne, vielleicht Seesterne, kleine Häuser und Blumen, dort schrille farbige Streifen. Und an einer Seite steht sogar etwas – „tearoha“ entziffere ich. Damit kann ich gerade nichts anfangen, werde aber später herausfinden, daß Te Aroha der Name eines Berges und auch eines Ortes ist, die sich nicht allzuweit von Auckland entfernt befinden. Das müssen aber fleißige Stricklieseln gewesen sein, die diese wunderhübsche Baumumhüllung zusammengestellt haben; die Strickfranzeln natürlich nicht zu vergessen, die es möglicherweise auch gegeben haben mag. Während ich mir dieses farbenprächtige Zeugnis leidenschaftlicher Handarbeitskunst recht verwundert anschaue, versuche ich, hinter den Sinn, der sich darin verbergen mag, zu kommen, was mir zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht so recht gelingt. Tatsächlich, so lerne ich bei meinen späteren Recherchen, hat sich Derartiges weltweit zu einem gewissen Trend entwickelt, der mit Urban Knitting bezeichnet wird, was man mit „Städtischem Stricken“ nur unzureichend ins Deutsche übersetzen kann. Eine andere Bezeichnung ist Guerilla Knitting – „Guerilla-Stricken“. Dabei geht es wohl darum, Gegenstände, die sich im öffentlichen Raum befinden, durch Stricken so zu verändern, daß sie aus ihrer Unscheinbarkeit heraustreten und auffallen. Das kann durch das Anbringen gestrickter Accessoires geschehen oder aber auch – wie hier – bis zum Einstricken ganzer Stadtmöbel reichen. Und Bäume, möchte ich angesichts unserer Entdeckung hier in Devonport ergänzen. Was es nicht alles gibt…

Baumschmuck in der Windsor Reserve in Devonport, Auckland
Ein wahrlich meisterhaftes Beispiel für Urban Knitting finden wir in Devonport.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Wir wandern weiter die Victoria Road entlang, wobei wir auf der rechten Straßenseite bleiben. Am Ende des Parks überqueren wir eine weitere Straße, die den Namen Flagstaff Terrace trägt – geschichtsbewußt scheint man ja hier zu sein -, dann beginnt auch auf unserer Seite der Victoria Road die Bebauung. Hinter einem unspektakulären modernen Flachbau weckt gleich das zweite Haus mein Interesse. In einem knalligen Gelb gehalten, das im Licht der hell strahlenden Sonne vielleicht noch stärker leuchtet als sonst, fällt es dem vorüberschlendernden Passanten zwangsläufig ins Auge. Architektonisch ist es eher schlicht. Ein quaderförmiger Bau mit einem Obergeschoß, der Eingang ganz links, die Fenster rechteckig und aus mehreren kleinen, ebenfalls rechteckigen Scheiben zusammengesetzt, die durch Leisten miteinander verbunden werden. Von weitem sieht es aus, als wären die Fenster mit Querstreben vergittert. Das ist durchaus kein Zufall, denn dieses Querstrebenmotiv setzt sich im Mauerwerk links und rechts der Fenster direkt fort. In der Mitte, zwischen dem Erd- und dem Obergeschoß, ist das Gebäude mit einer Art Sims versehen, der – so mittig, wie er angeordnet ist – wie eine Banderole wirkt, die das Haus umhüllt. In der Mitte dieses Simses ist an der Vorderseite in großen Buchstaben „POST OFFICE“ zu lesen. Insgesamt wirkt das Gebäude recht nüchtern. Einziger Schmuck sind ein in die Fassade eingelassenes Wappen über der Eingangstür, zwei Fahnenmasten, die links und rechts über dem Dach in die Höhe ragen, an denen jedoch keine Flagge im Winde flattert, sowie ein in der Mitte auf das Obergeschoß aufgesetzter, achteckiger Minipavillon, der mir jedoch nicht so recht dorthin zu passen scheint, wirkt er doch viel zu verspielt, um mit der sonstigen Nüchternheit des Baus zu korrespondieren.

Das frühere Postamt von Devonport, Auckland
Das alte Postamt in der Victoria Road in Devonport nimmt heute niemandem mehr Pakete ab. Es ist eine Einkaufspassage.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Errichtet wurde das Haus 1938. Daß es ein Gebäude aus Stahlbeton ist, sieht man zwar nicht auf den ersten Blick, erklärt mir aber den nüchternen Eindruck, den es mir vermittelt. Natürlich gab es zu jener Zeit schon ein Postamt in Devonport. Dieses befand sich in einem älteren Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Daß man trotzdem ein neues baute, geht auf ein landesweites Bauprogramm zur Errichtung neuer Postämter zurück, das die erste Labour-Regierung Neuseelands ins Leben gerufen hatte und das Bestandteil eines sogenannten Expansionsprogramms war. Dessen Zweck bestand darin, die Umsetzung der großen Sozialreformen nach der Großen Depression zu unterstützen. Den Entwurf lieferte der Architekt Norman Wade, der sich des Baustils der sogenannten Stromlinienmoderne bediente. Davon hatte ich vor diesem alten Postamt und meiner Beschäftigung mit seiner Geschichte noch nie etwas gehört. Reisen bildet eben tatsächlich.

Im Inneren, so lese ich, besaß das Postamt im Erdgeschoß eine zur Victoria Road gelegene Hauptvorhalle, einen großen öffentlichen Raum, ein Arbeitszimmer für den örtlichen Postmeister und eine geräumige Poststelle. In der oberen Etage hatte der Postmeister eine Wohnung für sich und seine Familie. Ein Gebäude ganz im Dienste der neuseeländischen Post also. Und dennoch können wir hier keine Briefmarken mehr kaufen, denn bereits im Jahr 1991 hatte man dieses Postamt aufgegeben. Stattdessen kam nun ein privates Museum hier unter: Jackson’s Muzeum of Automobilia, Sounds, Victoriana and Collectables. Hier wurden also in erster Linie Sammlerstücke präsentiert – solche, die im Zusammenhang mit Automobilen standen, Erinnerungsstücke aus viktorianischer Zeit und überhaupt alles, was sich irgendwie sammeln ließ. Im Unklaren bin ich mir allerdings darüber, was man wohl in Verbindung mit Sounds ausgestellt haben mag. Klänge? Vielleicht alte Schallplatten? Wie auch immer, wenn das Museum auch nur halb so interessant war wie sein Name lang, dann war es bestimmt großartig. Im Zuge seiner Einrichtung wurde übrigens erst jetzt der kleine Pavillon auf der Vorderfront errichtet, was den etwas fremdartigen Eindruck erklärt, den er dort hinterläßt. Als wir nun vor dem Gebäude stehen, gibt es das Museum allerdings auch schon wieder nicht mehr. 2008 hatte man aus dem alten Postgebäude eine Einkaufspassage gemacht. Kommerz schlägt Kultur.

Ein Haus weiter stoßen wir gleich auf eine weitere, ebenso ehemalige Einrichtung des öffentlichen beziehungsweise geschäftlichen Lebens einer Stadt. Im Gegensatz zum Posthaus hebt sich hier die Frontseite architektonisch deutlich vom Rest des Gebäudes ab. Mit ihren vier Pilastern, die oben in mit Voluten versehenen Kapitellen enden, über denen ein Architrav angedeutet ist, folgt diese Fassade klassizistischen Architekturelementen. Schaut man jedoch nicht nur von vorn auf das Gebäude, sondern wirft einen Blick auf dessen Seiten, stellt man fest, daß es sich lediglich um eine Scheinfassade handelt. Bereits in zwei Metern Tiefe wechseln plötzlich Farbe und Höhe des Gebäudes. Vorn in dunklem Grüngrau gehalten, ist das Gebäude im hinteren Teil weiß getüncht, ohne jeden architektonischen Schmuck. Auch die Höhe gibt gut einen Meter nach. Tatsächlich ist dieses vom Architektenbüro Edward Mahoney and Son entworfene und in den Jahren 1925/26 errichtete Gebäude ein einfacher Ziegelbau, dessen Frontseite mit aufwendig gestaltetem Putz geschmückt ist. Will man wissen, für wen man sich denn eigentlich diese Mühe gemacht hat, das Gebäude mit einer solchen Scheinfassade auszustatten, muß man nur einen Blick auf den Architrav werfen. Dort steht heute noch deutlich zu lesen:

BANK OF NEW ZEALAND

Die frühere Filiale der Bank of New Zealand in Devonport, Auckland
Ein Pub mit der Aufschrift „Bank of New Zealand“ – für den zufällig vorbeikommenden Touristen verwirrend, doch wenn man die Geschichte des Hauses kennt, versteht man den Zusammenhang.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Eine Bank also. Nun, das Bankgewerbe dürfte sich in den 1920er Jahren eines gewissen Wohlstands erfreut haben. Da muß es auch nicht verwundern, daß man diesen Aufwand bereits für eine Bankfiliale betrieben hat. Denn um eine solche handelt es sich bei dem Gebäude, das wir uns gerade ansehen. Die Bank of New Zealand hatte im Jahre 1925 einen Pachtvertrag für das Grundstück erhalten, was aber an die Bedingung geknüpft war, daß sie darauf ein großes Gebäude errichtete, daß für Bankzwecke genutzt würde. So entstand dieses im klassizistischen Stil verputzte Ziegelsteingebäude, das im vorderen Teil des Erdgeschosses die Bankräume beherbergte, während im hinteren Teil und im ersten Stock die Wohnung des örtlichen Geschäftsführers untergebracht war. Die Bankfiliale hatte in dem Gebäude bis 1975 Bestand, dann zog sie an einen anderen Ort in der Straße um. Seitdem wurde das Gebäude als Restaurant und als Bar genutzt. Daß es einst eine Bank war, sieht man daher heute nur noch an der bereits erwähnten Aufschrift an der Frontseite.

Wir wandern weiter die Victoria Road entlang und betrachten die Häuser links und rechts der Straße. Hier und da hat sich auch einmal ein Gebäude neueren Datums zu den älteren Bauten hinzugesellt. Erfreulich ist, daß man dies hier nur dann zu erlauben scheint, wenn sich die Neuankömmlinge in Höhe und Stil ihrem Umfeld anpassen. Jedenfalls begegnen uns keine gröberen Bausünden, die den Charme, den Devonport – zumindest in seiner Hauptstraße – ausstrahlt, stören oder gar zerstören würden.

Nach einer Weile und dem Überschreiten einer weiteren Querstraße kommen wir schließlich an ein Gebäude, das seine Kollegen in der Victoria Road dann doch deutlich überragt. Ganz offensichtlich handelt es sich jedoch nicht um einen Bau aus heutiger Zeit. Die Art-déco-Fassade deutet vielmehr auf eine viel frühere Entstehungszeit hin. Wie bei vielen Gebäuden in den Geschäftsstraßen Aucklands und damit auch Devonports wird der Gehweg von einem über dem Erdgeschoß angebrachten Vordach überschattet, das am Haupteingang auf der linken Seite des Hauses eine leichte Wölbung besitzt. Diese wird von dem daran befindlichen Schriftzug nachgeahmt. Wir lesen:

Victoria Picture Palace / Theatre

Abgesehen davon, daß man sich nicht ganz sicher zu sein scheint, ob das Gebäude nun eher ein Filmpalast oder ein Filmtheater sein soll, treffen wir hier erneut auf die große Königin als Namenspatronin. Victoria Wharf, Mount Victoria, Victoria Road und nun der Victoria Picture Palace oder das Victoria Picture Theatre – die Verehrung für die englische Monarchin scheint hier wahrlich grenzenlos zu sein. Ich wage die Vermutung, wir werden in diesem Ort nicht zum letzten Mal auf ihren Namen gestoßen sein.

Der Victoria Picture Palace in Devonport, Auckland
Victoria Picture Palace oder Victoria Picture Theatre – das ist hier die Frage. Im besten Falle einfach beides.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Erbaut hat das Filmtheater der Amerikaner John Leon Benwell im Jahre 1912 – also noch in der Stummfilmzeit. 965 Plätze hat es damals gehabt – eine stolze Anzahl, wenn man bedenkt, daß Devonport zu jener Zeit noch ein selbständiger und nicht gerade großer Ort war. Seitdem hat dieses Gebäude, sieht man einmal von notwendigen Phasen der Renovierung ab, ununterbrochen genau dem Zweck gedient, zu dem es errichtet worden war: Filmtheater zu sein. Es ist damit das älteste noch existierende und betriebene Kino der südlichen Hemisphäre. Eine der erwähnten Renovierungs- bzw. Umbauphasen fand im Jahr 1929 statt, während der man das Kino äußerlich im Art-déco-Stil umgestaltete und inwendig zu einem modernen Kino für die Aufführung von Tonfilmen aufrüstete. Als kurz nach der Jahrtausendwende, im Jahre 2001, die Schließung und darauffolgende Umwandlung in ein Apartmenthaus drohten, setzten sich lokale Bürgerinitiativen für den Erhalt des Kinos ein und erreichten fünf Jahre später, daß es vom Stadtrat von North Shore City erworben wurde und seine Bestimmung als Filmtheater behielt.

Kurz hinter dem Kino haben wir den Punkt erreicht, den wir aus der Ferne für das Ende der Straße und den Beginn des Berges gehalten hatten. Jetzt, wo wir hier angekommen sind, ist dieser allerdings immer noch ein Stück entfernt, auch wenn das Gelände bereits anzusteigen beginnt. Die Victoria Road ist folglich hier auch nicht zu Ende, sondern beschreibt stattdessen eine weite Kurve nach links, um den Berg zu umgehen. Geradeaus führt nun lediglich eine schmale Straße weiter, die allerdings eine gewisse Steigung aufweist. An ihrem Beginn entdecken wir ein Schild, daß eine kleine Karte des vor uns liegenden Geländes zeigt und darüber verkündet:

Mount
Victoria

Wir haben also tatsächlich den nach der Königin benannten Berg vor uns. Dieser ist, wie sollte es in Auckland auch anders sein, ein weiterer Vulkan des Auckland Volcanic Fields. 87 Meter ist er hoch. Die Māori, die einst auf seinem Hang siedelten und von deren Dorf sich noch einige Reste von Erdbefestigungen erhalten haben, nennen den Berg Takarunga, was „Hügel, der oben steht“ bedeutet.

Weil die sich abwendende Victoria Road nun in ein reines Wohngebiet zu führen scheint und uns die Aussicht vom Gipfel des Berges mehr interessiert, beginnen wir kurz entschlossen mit dem Aufstieg. Nun, das klingt gewaltiger, als es ist. Zunächst wandern wir die schmale Straße entlang, die sich wohl noch keinen eigenen Namen verdient hat, wobei wir eher gemächlich bergauf zu gehen haben. Es folgt eine Rechtskurve, hinter der es weiter hinaufgeht, bis wir nach wenigen Schritten schließlich an einem Gatter stehen, das die Straße für Autos absperrt – zumindest, soweit es den allgemeinen Publikumsverkehr betrifft. Für uns Fußgänger ist es natürlich ein Leichtes, darum herumzugehen, und so folgen wir der Straße weiter den Berg hinauf.

Es geht nun erst in eine Linkskurve und dann weiter gemächlich in die Höhe. Wieder sind wir nur einige Meter gegangen, als wir links neben der Straße ein großes einstöckiges Gebäude mit Spitzdach entdecken. Es scheint ein hübsches Wohnhaus zu sein, ganz aus Holz errichtet, mit einer um die uns zugewandte Ecke herumlaufenden Veranda. Ein Schornstein verspricht einen Kamin im Inneren des Hauses, was mich sofort an heimelige Abende am flackernden Kaminfeuer denken läßt. In einem Schaukasten an der Straße bemerke ich drei große Tafeln mit Texten und Fotos, auf deren einem ich das Gebäude wiederzuerkennen glaube. Neugierig trete ich näher. Was mag wohl an einem einfachen Wohnhaus an einem Berghang so besonders sein, daß man dazu derart viel Information aushängen muß?

Die mittlere der drei Tafeln klärt mich darüber auf, daß es sich bei dem Haus mitnichten lediglich um irgendein Domizil irgendeiner Familie handelt. Was ich hier vor mir habe, ist das sogenannte Signalman’s House – das Haus des Signalmanns. Neugierig lese ich weiter und bekomme gleich noch eine Lektion in Devonports Geschichte.

Es war im Jahre 1842, als man auf dem Gipfel des Berges, an dem das Gebäude steht, eine Signalstation zur Kommunikation mit den Schiffen im Waitematā Harbour einrichtete, deren wichtigstes Utensil ein Flaggenmast war. Nun, das weiß ich schon. Dieser Mast war ja zunächst auch der Namensgeber für den Berg und den Ort zu seinen Füßen gewesen. Von dort oben, heißt es weiter, hatte man nicht nur einen weiten Blick auf den Naturhafen, sondern auch auf den Hauraki-Golf, denn Devonport und der Mount Victoria liegen auf einer Halbinsel zwischen beiden. Somit war der Berg der ideale Standort für eine solche Signalanlage. Und diese war für die Einwohner und insbesondere die Kaufleute Devonports, aber auch Aucklands von immenser Bedeutung. Zu jener Zeit konnte es, wenn ein einlaufendes Schiff das erste Mal gesichtet wurde, schon einmal drei Tage dauern, bis es in Auckland auch tatsächlich ankam. Heute ist das kaum noch vorstellbar.

Natürlich mußte eine solche Signalstation auch betreut und gewartet werden. Diese Aufgabe übernahmen sogenannte Signalmen – Signalmänner. Zunächst lebten diese lediglich in einem Zelt oder einer einfachen Reethütte auf dem Gipfel. Doch weil das auf Dauer nicht als angemessene Unterbringung durchgehen konnte, baute man schließlich in der Nähe des Gipfels für sie ein festes Haus, für das sich die Bezeichnung „Signalman’s House“ einbürgerte. 1898 mußte der amtierende Signalmann dann umziehen, Man errichtete ihm ein neues Haus, das weiter unten am Hang plaziert wurde. Dieses vom Architekten Edward Bartley entworfene Wohnhaus – Bartley war übrigens ein Einwohner Devonports – sehen wir heute vor uns.

Signalman's House am Mount Victoria in Devonport, Auckland
Ein idyllisches Wohnhaus am Hang des Mount Victoria – das alte Signalman’s House, in dem heute das Michael King Writers‘ Centre untergebracht ist.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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1930 legte man die Signalstation schließlich aus wirtschaftlichen Erwägungen still. Der letzte Signalmann durfte mit seiner Frau allerdings weiterhin in dem Haus wohnen bleiben. Nachdem er 1943 verstorben war, lebte seine Witwe noch bis 1968 darin. Danach übernahm die Stadt das Haus.

Wie mir nun die erste Tafel erläutert, wurde im Jahre 2004 das Michael King Writers‘ Centre ins Leben gerufen und erhielt das Signalman’s House von der Stadt North Shore City, die es nach der Eingemeindung Devonports nun besaß, langfristig zur Verfügung gestellt. Auf der Tafel lese ich:

The Michael King Writers‘ Centre is the first full writers‘ facility and literary centre in New Zealand.

The national facility aims to support writers and to promote all aspects of New Zealand literature, both fiction and non-fiction.

Übersetzt heißt das:

Das Michael King Writers‘ Centre ist die erste umfassende Einrichtung für Schriftsteller und ein Literaturzentrum in Neuseeland.

Ziel dieser nationalen Einrichtung ist es, Schriftsteller zu unterstützen und alle Aspekte der neuseeländischen Literatur, sowohl der Belletristik als auch der Sachliteratur, zu fördern.

Klingt ehrgeizig. Doch unwillkürlich drängt sich mir die Frage auf, was ein solches Zentrum wohl mit diesem Wohnhaus anfängt. Darauf liefert mir der Text sogleich die Antwort. Das Zentrum stellt dieses Haus jedes Jahr Schriftstellern zur Verfügung, die es für die Arbeit an einem ganz konkreten Projekt als Gäste nutzen können. So eine Art Schriftsteller in Residence also. Extra dafür hat man das Haus 2006 einer umfassenden Renovierung unterzogen. Nun gibt es hier zwei Schlafzimmer mit jeweils eigenem Bad, ein separates Arbeitsstudio für den Gastautor sowie einen Aufenthaltsraum und einen Verwaltungsraum. Diese stehen für literarische Veranstaltungen zur Verfügung, während das zweite Schlafzimmer für kurzfristige Aufenthalte  an Schriftsteller oder aber als Arbeitsraum vermietet werden kann. Für aufstrebende Schriftsteller ist das bestimmt eine großartige Unterstützung, zumal sie, wenn sie und ihr Projekt ausgewählt werden, die Unterkunft kostenlos und überdies ein Stipendium erhalten.

Natürlich wäre es nun auch interessant zu wissen, wer denn nun eigentlich Michael King ist oder war, nach dem dieses Zentrum benannt ist. Natürlich hat man mit diesem meinem Interesse gerechnet und extra dafür die dritte Tafel in den Schaukasten gehängt. Sie verrät mir, daß Michael King 1945 geboren wurde und einer der bedeutendsten Biographen und Historiker Neuseelands war, dessen großer Beitrag zur schriftlichen Geschichte Neuseelands darin bestand, sie zugänglich gemacht zu haben. Er schrieb Biographien über führende Māori und bedeutende Pakeha-Schriftsteller und wird insbesondere von den Nachfahren der Moriori dafür verehrt, daß er die Geschichte dieser Volksgruppe von den Chatham-Inseln erforscht und aufgeschrieben hat. Als Schriftsteller, der sich nach erfolgreicher Karriere in Wissenschaft und Journalismus 1976 entschieden hatte, das Schreiben zu seinem Hauptberuf zu machen, wußte er aus eigener Erfahrung, wie schwer es unter Umständen sein konnte, von dieser Tätigkeit leben zu müssen. Aus diesem Grunde befürwortete er stets die Idee eines Zentrums, das neuseeländische Schriftsteller unterstützen sollte. Als er im Jahre 2004 zusammen mit seiner Frau bei einem Autofall ums Leben kam, setzten einige seiner Freunde und literarischen Weggefährten diese Idee in die Tat um und riefen das Writers‘ Centre ins Leben, dem sie ihm zu Ehren seinen Namen verliehen.

Ich bin beeindruckt. Dieses Zentrum und sein ehrgeiziges Projekt nötigen mir Respekt ab. Während auf staatlicher Seite heutzutage oft genug Mittel zur Förderung von Kunst und Kultur zusammengestrichen werden, leistet man hier – auf hauptsächlich privater Ebene, denn das Zentrum wird durch einen Förderverein geführt – echte kulturelle Unterstützung und trägt zu ihrer Förderung bei, wobei allerdings nicht unerwähnt bleiben soll, daß die Städte North Shore City und heute Auckland dazu einen gewichtigen Beitrag leisten, indem sie das historische Signalman’s House zur Verfügung stellen. Was man so alles finden und lernen kann, wenn man doch eigentlich nur einen Berg hinaufsteigen will…

Dieser Beschäftigung wenden wir uns nun aber wieder zu und setzen unseren Weg fort. Weit müssen wir nicht mehr gehen, da sehen wir den Gipfel schon ganz nah vor uns, sind aber beständig im Schatten von Bäumen unterwegs, so daß sich die Aussicht sehr in Grenzen hält. Schließlich macht die Straße eine Biegung nach rechts und geht kurz danach in eine Kehre. An deren Scheitelpunkt führt ein Weg – eigentlich ist es eher ein Trampelpfad – geradeaus weiter.  Wir sind ihn nur ein paar Meter gegangen, da führt er aus dem Schatten heraus und wir finden uns auf einem baumlosen Abschnitt des Berghanges wieder. Von hier aus haben wir eine uneingeschränkte Sicht nach Osten. Zu unseren Füßen reihen sich die Häuser von Devonport aneinander, rechts dehnt sich der Waitematā Harbour, links der Rangitoto Channel, der bereits Teil des Hauraki-Golfes ist. Dort, wo beide schließlich zusammentreffen, erhebt sich ein weiterer, doch nicht ganz so hoher Berg, der die Spitze der Halbinsel markiert, auf der sich Devonport befindet: der North Head oder Nordkopf. Die Māori nennen diesen Berg Maungauika – Berg von Uika.

Ein wahrlich schöner Blick. Und doch ist er rein gar nichts im Vergleich zu der Aussicht, die sich uns bietet, als wir den Berghang ein wenig höher steigen. Noch immer stehen wir hier knapp unter dem baumlosen Gipfel, doch können wir nun schon über die Kronen der Bäume hinwegsehen, unter denen wir auf der Straße eben noch entlanggewandert waren. Was sich uns nun darbietet, ist ein sagenhaftes 180-Grad-Panorama. Ganz links, im Nordosten, blinkt die weite Wasserfläche des Hauraki-Golfs im Sonnenlicht. Über den Rangitoto Channel, der die gleichnamige Insel von uns trennt, wandert unser Auge zum North Head, den wir von weiter unten schon erblickt hatten. Doch nun schweifen wir weiter über den großen Waitematā Harbour, dessen jenseitiges Ufer das Stadtgebiet Aucklands einnimmt. Gegenüber dem North Head liegt der Bastion Point, an den sich die Hobson Bay anschließt, auf die der Hafen von Auckland folgt. Und an dessen Ende erkennen wir im Südwesten dann die uns nun bereits wohlbekannte Skyline der Innenstadt Aucklands, aus der der Sky Tower wie eine Nadel heraussticht. Direkt zu Füßen des Berges, auf dem wir stehen, breitet sich Devonport aus, das, wie wir nun feststellen, sehr viel größer ist, als wir dachten. Wir erkennen die Victoria Road, über die wir hergekommen sind und die nun, von hier aus betrachtet, vom Berg zum Fähranleger führt, vor dem wir rechts die grünen Baumwipfel des kleinen Parks namens Windsor Reserve erblicken. Minutenlang stehen wir nur schweigend da und schauen und schauen und schauen…

Ein Auckland-Panorama vom Mount Victoria
Dieses wundervolle 180-Grad-Panorama von Auckland bietet sich dem Betrachter auf dem Mount Victoria. Es ist zu klein? Klicken Sie hier!
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Es ist ein Anblick, von dem sich abzuwenden wahrlich schwer fällt. Das blaue Wasser des Meeres, auf dem sich winzig kleine, weiße Segelboote tummeln und ebenso weiße Schnellboote, deren vermutlich dröhnendes Motorengebrumm wir hier oben nicht mehr hören können, lautlos ihre schaumgekrönte Bahn ziehen, dehnt sich unter einem Himmel, dessen Blau schon fast unwirklich scheint. Abgesehen von einer kleinen Ansammlung, die sich genau im Osten über dem Horizont plaziert hat, ist keine Wolke am Firmament zu sehen. Wir sind genau zur richtigen Zeit hier oben, um dieses prachtvolle Panorama zu bestaunen, denn die Sonne nähert sich nun langsam dem Ende ihres Tageslaufs und steht hinter uns im Westen, so daß sie die sich vor uns ausbreitende Szenerie beleuchtet, ohne uns zu blenden.

Schließlich gelingt es uns aber doch, uns von dem Anblick loszureißen, und wir steigen die letzten Meter den Berghang hinauf, um den Gipfel zu erreichen. Dort angekommen, stehen wir auf einem grasbewachsenen Plateau, das, großzügig betrachtet, eine Dreiecksform hat. An seiner westlichen Seite windet sich die Straße, die wir vorhin verlassen hatten, herauf und endet hier in einem kleinen Parkplatz. Von diesem führt ein schmaler, befestigter Weg zu einem Gebäude, das auf seiner Ostseite an die Kommandobrücke eines Schiffes erinnert, während es vor allem durch die große Anzahl aller Arten von Antennen auf seinem Dach auffällt. Offenbar ist es von einiger Wichtigkeit, denn das quadratische Grundstück, auf dem es sich befindet, ist von einem hohen, sehr massiv wirkenden Metallzaun umgeben. Tatsächlich ist dieses Bauwerk der moderne Nachfahre der einstigen Signalstation. Als sich die Technik weiterentwickelte, hatte man 1954 einen neuen Signalturm auf dem Gipfel errichtet, der später um eine Radaranlage ergänzt wurde. Seit dem Jahr 2000 ist die Signalstation vollständig automatisiert, was erklärt, warum wir an und in dem Gebäude keine Menschenseele erblicken können. Ansonsten ist das Plateau weitgehend eine grüne Wiese. Mit zwei Ausnahmen.

Die erste besteht darin, daß hier und da kleine Kästen oder Sockel aus dem Boden ragen, die aus solidem Beton bestehen und deren Zweck uns zunächst nicht so recht klar ist. Diese werden an der nördlichen Ecke des dreieckigen Plateaus durch drei Reihen von übergroßen metallenen Fliegenpilzen ergänzt, deren Sinn sich uns auch nicht so recht erschließen will. Verwundert blicken wir auf diese merkwürdige Ansammlung über das Plateau verteilter Aufbauten und sind einigermaßen ratlos. Was soll das?

Auf dem Mount Victoria
Fliegenpilze auf dem Mount Victoria? Was da wohl daruntersteckt?
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Vorerst finden wir darauf keine Antwort. Wir wenden uns daher der zweiten der beiden Ausnahmen zu. Diese besteht in einem befestigten Kreisrund, in dessen Mitte eine große Vertiefung besteht. Was sich darin befindet, läßt sich von hier oben nicht feststellen. Wir entdecken jedoch einen Zugangsweg, der von dem kleinen Parkplatz zu diesem Kreis hinführt, sich dabei jedoch kontinuierlich absenkt, so daß er schließlich am Boden der Grube endet. Was wir dort vorfinden, ist einerseits unerwartet und andererseits auch wieder nicht.

Vor uns steht: eine riesige Kanone! Massiv, stählern, nietenbesetzt, schwer und unverrückbar. Ein wahres Monstrum, das ich so hier nicht erwartet habe, hatte es doch bei unserem Aufstieg zum Mount Victoria keinerlei Anzeichen für militärische Anlagen gegeben. Andererseits ist mir ja bereits bekannt, daß Devonport seit seinen Anfangstagen ein Marinestützpunkt war. Da ist schon damit zu rechnen, daß man nicht darauf verzichtet haben würde, im Laufe der Zeit auch den Berg für Waffenstellungen zu nutzen. So stehe ich nun also vor diesem gewaltigen Metallrohr auf seiner riesigen stählernen Lafette, das hier am Boden dieser Grube aufgestellt wurde, die so tief ist, daß es trotz seiner Größe vollständig darin verschwindet. Das erscheint mir nicht sehr zweckmäßig, wenn man doch sicher vorhatte, damit zu schießen. Worin besteht hier also der Trick?

Das verrät mir eine Tafel, die sich am Eingang zu der Grube befindet. Sie erzählt die Geschichte des Forts Victoria. Natürlich, wie sonst hätte diese militärische Einrichtung hier auch heißen können. Zunächst erfahre ich, daß der Mount Victoria bereits von den Māori zu Verteidigungszwecken befestigt wurde, lange bevor die Europäer in diesem Gebiet eintrafen, daß ihre vergleichsweise primitiven Verteidigungsanlagen, als dies im 19. Jahrhundert dann geschah, jedoch längst Geschichte waren. Als sich gegen Ende des Jahrhunderts dann die Russenangst in der jungen Kolonie breitmachte, begann man 1885 damit, erste Küstenbefestigungen auf dem Berg zu errichten. Dazu schleppte man zunächst einfach ein paar Schiffskanonen hier hinauf, die man an der Nordseite aufstellte. Ergänzt um eine Brüstungsmauer für Musketiere bildete sie die Anfänge des Forts Victoria. Bereits acht Jahre später galten die Kanonen nur mehr als „Salutbatterie“. 1904 erklärte man sie endgültig für veraltet und räumte sie nach und nach ab. Die letzten beiden verbrachte man dann 1911 in den kleinen Park namens Windsor Reserve an der Küste von Devonport. Dort hatten wir sie jedoch nicht bemerkt. Allerdings waren sie uns nicht auch einfach entgangen, sondern sie werden heute im Marinestützpunkt Devonport aufbewahrt.

Kanone im Fort Victoria in Devonport, Auckland
Am Grunde einer Grube auf dem Mount Victoria verdämmert eine riesige Kanone die Tage. Das ist auch besser so.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Die riesige Kanone, die wir gerade eingehend betrachtet hatten, wird auf der Tafel auch beschrieben. Es handelt sich um ein Acht-Zoll-Geschütz, das einst auf dem North Head gelagert wurde. 1898 stellte man es auf Fort Victoria auf, da man sich durch die größere Höhe des Berges versprach, daß die Kanone von hier aus sowohl den inneren als auch den äußeren Teil des Waitematā Harbours schützen konnte. Möglicherweise war das der Grund, warum der Signalmann in jenem Jahr vom Berggipfel hinab an den Hang umziehen mußte. An der Grube, in der das Geschütz heute steht, baute man ein ganzes Jahr. Doch wozu hob man sie aus? Was hat diese große Waffe hier unten verloren? Nun, bei dieser Kanone handelt es sich um ein sogenanntes „disappearing gun“ – eine dank Verschwindlafette versenkbare Kanone. Diese brachte nach dem Schuß das Geschütz in die Vertiefung hinab, wo die Bedienungsmannschaften besser vor direktem Beschuß geschützt waren. Diese Kanone ist eine der letzten dieser Art, die es auf der Welt noch gibt.

Bereits in den Anfangstagen des Forts entstanden auch erste unterirdische Bunkeranlagen, die später immer wieder einmal ausgebaut wurden. Dies erklärt uns sowohl die merkwürdigen Betonaufbauten als auch die Fliegenpilze, die wir zuvor auf dem Gipfel so verwundert bestaunt hatten. Bei letzteren handelt es sich um Abdeckungen von Lüftungsschächten. Als Studenten in den 1980er Jahren einen Ulk veranstalteten und diese Kappen als Fliegenpilze anmalten, fand das bei den Besuchern des Berges schnell Anklang, so daß man sich entschied, diese Verzierung beizubehalten.

Während das Fort Victoria im Ersten Weltkrieg keine Rolle spielte und anschließend für einige Zeit zur Lagerung von Munition genutzt wurde, befand man das in den 1930er Jahren für zu unsicher und verfüllte das alte Fort mit Schlacke. Doch schon im Zweiten Weltkrieg reaktivierte man es wieder, stellte ein Flugabwehrgeschütz mit einem Beobachtungsposten auf und grub einige Bunker-Kammern aus, um darin Wohnungen für die Besatzung einzurichten. Nach dem Ende des Krieges wurde das Fort endgültig überflüssig, so daß man es wieder stillegte. Zu Beginn des neuen Jahrtausends unternahm man eine umfassende Restaurierung, so daß das Fort heute der Öffentlichkeit zugänglich ist. Einer der Bunker wird vom Devonport Folk Club als Spielstätte genutzt, was zeigt, daß man selbst aus destruktiven militärischen Einrichtungen Orte der Kultur machen kann.

Wir wandern nun die vom Parkplatz ausgehende und sich den Berg hinabwindende Straße wieder abwärts, wobei wir an der Westseite des Mount Victoria noch einmal die phänomenale Aussicht auf den Central Business District genießen, die hier den inneren Waitematā Harbour und die Auckland Harbour Bridge einschließt. Als wir schließlich die Stelle erreichen, wo wir bei unserem Aufstieg die Straße verlassen hatten, fällt mir am Berghang ein merkwürdiger Stein ins Auge, den ich zuvor offenbar übersehen hatte, weil mein Blick angesichts des weiten Panoramas nur in die Ferne gerichtet war. Neugierig gehe ich darauf zu. Als ich näherkomme, entpuppt sich der Stein, an dem ich von weitem ein Gesicht wahrgenommen zu haben glaubte, tatsächlich als die steinerne Skulptur eines Gnomes, der da vor mir im Gras zu hocken scheint und ein recht verkniffenes Gesicht zieht. Ob er mit irgendetwas unzufrieden ist? Doch was sollte das sein, wo doch das Wetter heute gar nicht besser sein könnte und dies der ideale Tag ist, um am Berghang im Gras zu sitzen und sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen? Vielleicht stören ihn ja die vielen Besucher, wie ich einer bin, die hier stets und ständig an ihm vorüberziehen und seinen schönen Berg bevölkern…

Die "Anx"-Skulptur auf dem Mount Victoria in Devonport, Auckland
Am Hang des Mount Victoria kann man unverhofft dem Anx begegnen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Tatsächlich wird es später nicht ganz einfach sein herauszubekommen, was diese Skulptur genau darstellen soll. Nach einigem Suchen werde ich schließlich in einer alten Ausgabe des „Devonport Flagstaff“[2]The Devonport Flagstaff vom 12. Februar 2016, Seite 31. Wer aktuelle Ausgaben dieser Zeitung sucht, wird auf ihrer Homepage fündig. – ja, Devonport hat eine eigene Zeitung und wie sonst sollte sie wohl heißen? – auf einen Hinweis stoßen. Viele Besucher, heißt es, halten sie für eine Māori-„Schnitzerei“. Damit liegen sie allerdings völlig falsch. Die „Anx“ genannte Steinskulptur, die eine ganz offensichtlich stark überzeichnete Mannsperson zeigt, wurde von Allan Williams geschaffen und zunächst im Western Park im Ponsonby genannten Stadtteil von Auckland aufgestellt, von wo man sie, nachdem sie dort einem Akt des Vandalismus zum Opfer gefallen war, 1987 auf den Mount Victoria brachte. Es heißt, sie sei als Karikatur des ehemaligen neuseeländischen Premierministers Sir Robert Muldoon gedacht. Ob dieser das nun als Ehre betrachtet hat oder aber diese Darstellung seiner Person ablehnte, konnte ich allerdings nicht ergründen…

Hinab geht es immer schneller als hinauf. Ob das wirklich nur daran liegt, daß man aufgrund der Hilfe der Schwerkraft mit höherer Geschwindigkeit bergab geht als bergauf, oder ob das auch etwas damit zu tun hat, daß man so wie wir beim Weg hinauf öfter einmal stehenbleibt, um sich im unbekannten Terrain umzusehen und die von Mal zu Mal bessere Aussicht zu genießen, sei einmal dahingestellt. Nach vergleichsweise nur wenigen Minuten erreichen wir jedenfalls wieder die Victoria Road, der wir anschließend geradewegs zurück zum Hafen folgen, denn so langsam nähert sich die Sonne nun dem Horizont. Bald wird die Dämmerung einsetzen.

Als wir schließlich wieder am Fähranleger ankommen, dauert es nicht lange, da trifft die uns nun schon wohlbekannte Fähre ein und wir gehen an Bord. Als sie schließlich ablegt, werfen wir einen letzten Blick auf die Strandpromenade Devonports.  Hinter dem Ort erhebt sich der Mount Victoria wie ein großer, gütiger Beschützer. Besieht man es genau, haben wir an diesem einen Nachmittag eigentlich gar nicht soviel von dem Ort gesehen: im wesentlichen nur die Hauptstraße des Zentrums und den Mount Victoria. Doch allein dabei sind wir auf einiges gestoßen, was geschichtsträchtig, wissenswert und überaus interessant ist. Dafür muß man keine großen Touren unternehmen. Es genügt, mit offenen Augen und wachen Sinnes durch die Welt zu gehen und sich die Zeit zu nehmen, um hinzuschauen.

Keine Viertelstunde später gehen wir am Ferry Building wieder an Land und begeben uns in unser Hotel. Und auch wenn wir nach all der Lauferei kreuz und quer durch Stadt und Vorstadt ein klein wenig geschafft sind, so sind wir doch munter genug, um am Abend noch einen kleinen Bummel hinüber zum Aotea Square zu unternehmen – einerseits für ein kleines Abendbrot und andererseits, um noch einmal das Rathaus der Stadt zu besuchen, dessen sanfte, bunte Beleuchtung uns am gestrigen Abend so gut gefallen hatte.

Der Name des Platzes nimmt auf Motu Aotea Bezug, den Māori-Namen für die Great-Barrier-Insel, der größten der Neuseeland vorgelagerten Inseln. 1979 angelegt und 2010 neu gestaltet, wird die Freifläche häufig für öffentliche Veranstaltungen genutzt. Deren Bandbreite ist groß, reicht sie doch von Musikfestivals und Rockkonzerten über Messen bis hin zu Protestkundgebungen.

Der Sky Tower in Auckland am Abend
Der abendliche Sky Tower, für das Chinesische Neujahrsfest in majestätisch rot-goldenem Glanze angestrahlt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Als wir schließlich – nun zum zweiten Mal an diesem Tag – auf dem Rückweg in unser Hotel sind, fällt uns der Sky Tower ins Auge, wie er, in rot-goldenem Lichte erstrahlend, vor uns hoch in den dunklen Nachthimmel aufragt. Ein wahrlich majestätischer Anblick. Die Farben, in denen der Turm illuminiert wird, sind dabei keineswegs zufällig, sondern werden zu verschiedenen Anlässen sorgsam ausgewählt. Die Farben Rot und Gold, in denen er sich uns heute präsentiert, weisen auf das Chinesische Neujahrsfest am morgigen 19. Februar hin. Für uns schließt sich damit gewissermaßen der Kreis, hatten wir doch diesen Tag mit dem Besuch des Sky Towers begonnen. Und das ist dann doch ein irgendwie angemessener Ausklang für diesen ersten, mit einer Vielzahl wunderbarer Erlebnisse und schöner Eindrücke angefüllten Tag in Auckland…

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Referenzen

Referenzen
1 Auf Google Maps kann man sich das sehr schön ansehen.
2 The Devonport Flagstaff vom 12. Februar 2016, Seite 31. Wer aktuelle Ausgaben dieser Zeitung sucht, wird auf ihrer Homepage fündig.

An Aucklands Waterfront

Dieser Beitrag ist Teil 2 von 10 der Beitragsserie "Reise nach Neuseeland & Singapur"
Wie ich Aucklands Waterfront und die Hauptgeschäftsstraße der Stadt inspizierte

Als wir das Flugzeug verlassen, ist es Mittag. Von hier bis zum Terminal zu gelangen und die Einreiseformalitäten zu erledigen – all das dauert nicht sehr lange. Der Flugplatz ist eher übersichtlich und alles geht seinen geordneten Gang. Im Nu stehen wir am Gepäckband und warten auf unsere Rucksäcke, die auch schon nach kurzer Zeit auf uns zufahren. Puh. Alles gut gegangen. Seit meinem Trip nach Kanada bin ich an Gepäckbändern auf Zielflughäfen immer etwas nervös und erwarte irgendwie, daß mein Rucksack so wie damals den Weg nicht gefunden hat und ich vergeblich nach ihm Ausschau halte.

A 380 auf dem Auckland Airport
Unser Flugzeug auf dem Flughafen in Auckland. Dieser selbst ist doch eher überschaubar.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Diesmal kann ich ihn jedoch erleichtert vom Band heben und mir auf den Rücken hieven. Los geht’s. Draußen wartet ein ganzes Land darauf, von mir entdeckt zu werden. Die Einreiseformalitäten sind schnell erledigt, und es gibt auch kein so großes Bohei wie bei unserer Einreise in Australien vor etwas mehr als zwei Jahren. Da war jeglicher Form von Nahrungsmitteln der Zutritt zum fünften Kontinent verwehrt. Und weil ich den Fehler begangen hatte anzugeben, daß meine Schuhe nicht neu waren, hatten sie sogar meine Schuhsohlen aufs genaueste untersucht. Ich könnte ja ein Krümel Irgendwas ins Land schleppen, was da nicht hingehört.

Hier in Auckland verzichtet man auf all das und so stehen wir schon bald vor dem Flughafengebäude und schauen uns in der Mittagssonne um. Na gut – in der Stadt sind wir schon mal nicht. Das war aber auch nicht zu erwarten. Weil direkt vor uns eine Bushaltestelle ist, schauen wir zuerst da mal nach. Glück gehabt – hier fährt ein Bus in die Stadt. Tickets gibt’s an einem kleinen Kiosk nebenan.

Wenig später sitzen wir entspannt im Bus und rollen gen Auckland. Gefahren wird hier wie in England – auf der falschen Seite. Ich werde mich also für den Rest des Urlaubs wieder daran gewöhnen müssen, beim Überqueren der Straße zuerst nach rechts zu sehen. Das wird voraussichtlich die ganzen vier Wochen dauern – und wenn ich’s dann endlich drauf habe, geht’s zurück nach Deutschland, wo ich’s mir dann wieder abgewöhnen muß. Immer vorausgesetzt, ich überlebe die Momente, wo ich in die gewohnte Richtung schaue und dann die Straße betrete, weil offensichtlich nichts kommt…

Der Bus ist recht flott unterwegs, und so sind wir nach nicht allzulanger Fahrt am Ziel. Während sie andauert, finden wir heraus, daß der Bus uns fast bis an unser Hotel bringt. So viel Glück auf einem Haufen hat man auch nicht alle Tage…

Als wir an einer belebten Straßenkreuzung mitten im Zentrum Aucklands aussteigen, müssen wir nur noch wenige Meter laufen, um zu unserem Hotel zu gelangen. Es ist das einzige, das wir vorab schon von Deutschland aus gebucht haben. Es macht einfach keinen Spaß, nach so langen Flügen noch mit dem schweren 18-Kilogramm-Rucksack auf dem Rücken auf der Suche nach einem freien Hotelzimmer durch die Stadt zu tigern. Da ist es doch viel angenehmer, genau zu wissen, wo man die ersten Nächte schlafen wird. Alles andere findet sich dann, wenn sich der weitere Reiseverlauf sukzessive ergibt.

Kurz darauf stehen wir am Eingang zum EconoLodge City Central Hotel. Ein gewaltiger Name. Diese Nächtigungsanstalt befindet sich an der Ecke der Wellesley Street West und der Albert Street, in unmittelbarer Nähe vom Sky Tower. Den haben wir schon zu uns herabgrüßen sehen, uns aber noch nicht eingehender mit ihm beschäftigt. Von außen wirkt das Hotel mit seiner Quaderform und der Ziegelfassade mit den langen Fensterstrecken eher nüchtern, hinterläßt aber einen ordentlichen ersten Eindruck.

Der bestätigt sich auch, als wir das Innere betreten. Die Anmeldung ist unkompliziert, denn die Reservierung ist – dem Internet sei Dank – zuverlässig hier eingetroffen und schnell aufgefunden, und so sind wir wenig später auf dem Weg nach oben in unser Zimmer. Der Fahrstuhl ist klein, fast schon winzig, und als wir aussteigen, stehen wir auf einem ziemlich engen Flur. Und das ist nicht als kurze Umschreibung für „etwas schmaler als gewöhnlich“ zu verstehen! Hier können wir tatsächlich nur hintereinander gehen. Unser Zimmer ist dafür recht geräumig und hell. Auch ist es auffallend ruhig, obwohl es direkt über der Straßenkreuzung liegt. Als ich testen will, wie groß der Lärm bei offenem Fenster ist, muß ich feststellen, daß sich die Fenster nicht öffnen lassen. Belüftet wird hier per Klimaanlage. Nun ja, ich ziehe zwar ein offenes Fenster vor, aber es gibt Schlimmeres. Solange die Klimaanlage jetzt im Sommer nicht heizt, ist alles in Ordnung. Nicht lachen – auch das habe ich auf Reisen schon erlebt, damals in Montreal…

Zwei Betten, recht bequem, ein Schrank, ein Tisch, zwei Stühle und ein kleines Badezimmer mit Badewanne – das ist die Ausstattung unserer Bleibe für die nächsten fünf Nächte. Nichts Luxuriöses, aber es erfüllt seinen Zweck und ist sauber. Hier läßt sich’s bequem aushalten. Was will man mehr…

Wir richten uns ein und strecken uns gleich mal auf den Betten aus. Eigentlich ganz schön. Insbesondere nach dem Dauersitzen im Flugzeug und dem Nachschlag im Bus. Und doch: lange hält es uns nicht. Draußen ist schließlich noch heller Nachmittag. Und den wollen wir nutzen und schon mal ein wenig die Stadt erkunden. Wir sind ja schließlich neugierig! Also stehen wir kurz darauf wieder auf der Wellesley Street West und schauen uns um. Für den Anfang vielleicht erst einmal etwas Bekanntes. Gut, davon gibt’s für uns in Auckland nicht wirklich viel, denn hier waren wir noch nie. Aber einen Ort kennen wir immerhin doch: die Bushaltestelle, an der wir ausgestiegen sind. Die Kreuzung dort war, so schien uns, recht lebendig. Also gehen wir die paar Schritte dorthin zurück und stellen fest, daß sich hier die Wellesley Street West mit der Queen Street trifft.

Für mich ist es eine gute Tradition, daß ich, wenn ich an Orte mit Meeresanschluß reise, dem jeweiligen Gewässer noch am Tag der Ankunft einen ersten Besuch abstatte. Man will sich mit den Göttern der Fluten schließlich gut stellen. Und da hilft Höflichkeit schon einmal ungemein. Wir wenden uns also nach Norden und spazieren die Queen Street entlang. An deren Ende soll laut Reiseführer der Hafen liegen.

Diese Straße kann man mit Fug und Recht als die Hauptgeschäftsstraße von Auckland bezeichnen. Und genauso sieht sie auch aus. Geschäft reiht sich hier an Geschäft, Laden folgt auf Laden. Größere, mittlere, kleine – alles bunt gemischt. Nur Kaufhäuser in der Größenordnung, wie wir sie aus der Heimat kennen, scheint es hier nicht zu geben. Ich kann allerdings nicht behaupten, daß ich sie vermissen würde…

Die Gehsteige sind sämtlich von Vordächern überschattet, so daß hier niemand Gefahr läuft, sich beim Einkaufsbummel einen Sonnenbrand zu holen. Allerdings sind diese bei vielen der die Straße säumenden Häuser nicht wirklich einer ihrer Bestandteile, sondern sehen eher wie an sie angehangen aus. Tatsächlich ist wohl auch genau das der Fall.

Die Häuser sind eine bunte Mischung aus allen möglichen Baustilen und vermutlich auch Jahrzehnten. Hier ein Bau, der gut und gerne hundert Jahre alt sein könnte, daneben einer, der höchstens die Hälfte auf dem Buckel hat, gefolgt von einem Niegelnagelneubau. Hochhäuser gibt es natürlich auch, aber die stattliche Höhe, wie man sie aus amerikanischen Großstädten oder auch aus Sydney oder Melbourne kennt, erreichen sie nicht. Auch wenn sie ihre Nachbarn weit überragen, scheinen sie sie doch nicht niederdrücken zu wollen. Ich finde das sehr rücksichtsvoll von ihnen.

Heiß ist es nicht, aber doch sommerlich warm, und so kommt uns ein Starbucks gerade recht, um uns einen Eiscafé zu gönnen. Diese Kette gibt’s wirklich überall auf der Welt. Und darin läuft alles auch genau so ab wie bei uns zu Hause. Deshalb können wir uns trotz fremdem Land sofort zurechtfinden. Systemgastronomie eben. Genial, wenn man sich erstmal nicht gar so fremd vorkommen will, aber nichts, um in die fremden Welten auch einzutauchen. Die einschlägigen Verwandten vom Burgerladen mit dem großen gelben M bis zum Fettkringelgeschäft gibt’s hier natürlich auch alle. Wir werden sie weitestgehend meiden, doch der Eiscafé geht in Ordnung.

Jetzt wird die Straße von kleinen Palmen gesäumt. Wir bummeln weiter an Geschäften vorüber, die sich mir jedoch nicht einprägen. Ich hab’s nicht so mit Einkaufsbummeln und besehe mir lieber die Hausfassaden links und rechts. In der Ferne vor uns ragt ein Hochhaus auf, an dessen oberer Kante der Schriftzug Deloitte prangt. Ein solches Haus gibt’s offenbar in jeder größeren Stadt der westlichen Welt. Berlin hat auch eins. Beratungshäuser sind eine boomende Branche. Komischerweise muß ich immer, wenn ich eines dieser Häuser sehe und den Schriftzug lese, an ein WC denken. Woran das wohl liegt?

Die rechte und die linke Straßenseite haben sich die Häuser jetzt aufgeteilt – die hohen, neuen hat die linke übernommen, die alten, kleinen stehen auf der rechten. Als wir das Hochhaus passiert haben, daß sich die Berater hier haben errichten lassen – sie haben natürlich die falsche Straßenseite dafür genommen, so daß ihr hoch aufragendes, Bedeutung einforderndes Bauwerk rechts von uns herumlungert -, stehen wir kurz darauf an einer großen Straßenkreuzung. Dahinter beginnt auf der linken Seite ein langgezogenes Glasdach über dem Bürgersteig, an dem viele Busse hintereinander stehen. Das ist ganz offensichtlich der Busbahnhof der Stadt. Ihm gegenüber steht ein altes, ehrwürdiges, irgendwie amtlich aussehendes Gebäude. Im Augenblick habe ich keine Ahnung, um was es sich dabei handelt, doch ich merke es mir vor. Später werde ich herausfinden, daß dieses Gebäude einst das Hauptpostamt der Stadt war, seit 2003 jedoch als Empfangsgebäude für das Britomart Transport Centre dient, einen Bahnhof und Knotenpunkt des öffentlichen Nahverkehrssystems Aucklands, zu dem auch besagter Busbahnhof gehört.

Das Britomart Transport Center in der Queen Street in Auckland
Ein Blick in die Queen Street, Aucklands Hauptgeschäftsstraße. Im Vordergrund ist der Busbahnhof des Britomart Transport Centres zu sehen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Für mehr ist gerade keine Zeit, denn schon zieht ein anderes Gebäude meine Aufmerksamkeit auf sich. Es steht schräg links vor uns hinter dem Busbahnhof. Mit ihm haben wir auch das Ende der Queen Street erreicht. Sie trifft hier auf die Quay Street; und deren Name ist nicht zufällig gewählt, denn sie verläuft parallel zu den Hafenanlagen beziehungsweise zu Aucklands Waterfront. Zu dieser gehört auch das Gebäude, das mir ins Auge sticht.

Gelbbraun ist seine Fassade, in die Gesimse, angedeutete Säulen mit Kapitellen, Bögen und Fenster mit dreieckigen und runden Bekrönungen integriert sind. In der Mitte ragt ein Turm auf, der an allen Seiten Uhren besitzt und dessen Dach spitz zuläuft. Die Architektur deutet auf ein Alter von wenigstens einhundert Jahren hin, nur die oberste Etage hinterläßt einen etwas moderneren Eindruck. Offenbar wurde sie später aufgesetzt. Weil sie jedoch recht flach ist, stört sie nicht weiter.

Das Ferry Building in Auckland
Das Ferry Building, 1912 errichtet, ist das Fährterminal der Stadt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Daß ich mit meiner Schätzung gar nicht so schlecht liege, erfahre ich später, als ich mehr über das Gebäude herausfinden will. Der Baustil wird als Edwardianischer Barock bezeichnet und war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts groß in Mode, zu der Zeit, als König Edward VII. das britische Empire regierte. Und aus dieser Zeit stammt das Ferry Building, vor dem wir hier stehen. Genauer gesagt, von 1912. Es ist das Fährterminal der Stadt. Von hier starten die Fährschiffe in die Vorstädte Aucklands und zu den vorgelagerten Inseln. Tatsächlich ist der Wasserweg in Auckland durchaus ein Konkurrent zur Straße, liegt Auckland doch an den Ufern des Waitematā Harbour, der ein Teil des großen Hauraki Golfs ist, dessen Buchten mitunter tief ins Land einschneiden. Um diese mit dem Auto herumzufahren, ist mitunter bedeutend zeitaufwendiger, als die Fähre zu benutzen.

Während wir das Gebäude einer näheren Betrachtung unterziehen, fällt mir an der Quay Street ein über einem Eingang angebrachtes, über dem Bürgersteig hängendes Schild ins Auge. „Botswana Butchery“ steht darauf. Hm, ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß das zugehörige Etablissement irgendetwas mit Fleisch zu tun hat. Wörtlich übersetzt bedeutet der Name auf dem Schild „Botswana-Metzgerei“. Oder auch „Metzgerei in Botswana“, wie man möchte. Eine Metzgerei in einem Fährterminal? Eigenartig. Als ich durch die Glasscheiben der doppelflügeligen Eingangstür ins Innere spähen will, bemerke ich die Türgriffe. Sie sind als Fleischerbeile gestaltet. Allerliebst. Und auf jeden Fall sehr martialisch. Hier mag jemand Fleisch. Definitiv. Das Rätsel löst sich, als ich die ausgehängte Speisekarte entdecke. Aha, ein Restaurant also, wohl eine Art Steakhaus.

Da wir gerade keinen Hunger haben, erkunden wir das Restaurant nicht weiter, sondern schlendern lieber rechts am Ferry Building vorbei. Dabei passieren wir einen auffällig roten Metallzaun mit einem großen Tor. Die Torpfosten sind ebenfalls metallisch und mit großen Laternen bekrönt, an deren Sockeln an allen vier Ecken kleine bärtige Männerköpfe etwas grimmig in die Umgegend blicken. In der Mitte des Tores ist ein großes, wappenartiges und ebenfalls metallisches Siegel angebracht, an dessen Seiten sich zwei ebenfalls bärtige, fischschwänzige Männer entlangwinden, die auf ihren Schultern und Armen ein Segelschiff tragen. In der Mitte des Wappens prangen in schöner Schreibschrift die Initialen AHB.

Am Queens Wharf Gate des Red Fences an Aucklands Waterfront
Am Queens Wharf begann man 1913 mit der Errichtung des heute berühmten Roten Zauns.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Ein an diesem Zaun angebrachtes Schild weist uns darauf hin, daß wir – wer hätte es gedacht – vor dem sogenannten Red Fence, dem Roten Zaun, stehen. Er wurde in den Jahren 1913 bis 1923 errichtet und trennt den Hafenbereich von der Quay Street. Seinen Anfang nahm er genau an der Stelle, an der wir gerade stehen – als Zaun zur Abgrenzung des Queens Wharfs, einem Pier des Hafens. In den 1920er Jahren ließ der Hafenbetreiber, das Auckland Harbour Board (daher die Initialen AHB), dann den Zaun verlängern, um auch andere Hafenbereiche zu sichern. Obwohl der Schiffsanlegeplatz – heute Neuseelands größter Hafen und der drittgrößte Containerumschlagplatz in Australien und Asien – in späterer Zeit immer weiter aus dem Stadtzentrum heraus in Richtung Osten verschoben wurde – und zum Teil auch noch heute wird -, so daß man das freiwerdende Hafengelände neu gestalten und dem Stadtleben zuführen konnte, haben große Teile des Roten Zauns bis heute überlebt. Er gilt mittlerweile als eine der Sehenswürdigkeiten Aucklands und wird als solche auch erhalten und gepflegt.

Die Piere am Zentrum der Stadt sind heute öffentlich zugänglich, so daß der Zaun hier Lücken läßt und seine Tore, so sie noch vorhanden sind, offenstehen. Das nutzen auch wir und spazieren auf den Queens Wharf. Ihn gibt es, wenn auch nicht in der heutigen Form, seit 1852. War er früher aus Holz, so besteht er nun aus Beton. Er ist gewissermaßen die direkte Fortsetzung der Queen Street auf’s Wasser hinaus. Von ihm haben wir einen schönen Blick auf die benachbarten Piere – im Osten beispielsweise den Bledisloe Wharf. Als wir weiter auf den Queens Wharf hinauskommen, können wir auch die Auckland Harbour Bridge sehen. Sie erinnert in ihrer Form ein wenig an die gleichnamige Brücke in Sydney. Mit ihrer Länge von mehr als einem Kilometer verbindet sie den zentralen Teil von Auckland mit einer durch den Waitematā Harbour von der Stadt getrennten Landzunge und kürzt so eine andernfalls erforderliche, etwa fünfzig Kilometer lange Fahrt um den Naturhafen herum ab.

Bledisloe Wharf im Hafen von Auckland
Ein Blick vom Queens Wharf auf den Bledisloe Wharf im Hafen von Auckland.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Vom Ende des Queens Wharfs ist der Waitematā Harbour sehr schön zu überblicken, und so stehen wir eine Weile lang andächtig hier herum und lassen beeindruckt unsere Blicke über’s Wasser schweifen. Als wir uns schließlich umdrehen, um zurückzulaufen, sind wir gleich ein zweites Mal beeindruckt – diesmal von der nahen Skyline des Zentrums Aucklands, vor der sich das Ferry Building unseren Blicken präsentiert. Auch wenn die Wolkenkratzer hier nicht so hoch sind wie anderswo – eine machtvolle Skyline geben sie allemal ab. Und natürlich finden sich hier auch all die anderen Firmennamen an den Gebäudeoberkanten, die man in allen großen Städten der westlichen Welt so findet. Ist es ein Wunder, daß sich der Eindruck aufdrängt, die Welt befinde sich in der Hand einiger weniger den Globus umspannender Firmen und Konzerne? Ist aber bestimmt nur eine Verschwörungstheorie…

Wir gehen weiter an der Uferwand des Piers entlang, die uns schließlich wieder zum Ferry Building und der Quay Street zurückführt. Noch haben wir nicht genug vom Spazieren in der fremden Stadt am anderen Ende der Welt, weshalb wir noch ein wenig die Quay Street in Richtung Westen weiterwandern. Der Rote Zaun begleitet uns weiter. Und auch wenn hier nun die eigentlichen Zaunfelder fehlen, die alten Zaunpfeiler mit den sie bekrönenden Laternen gibt es noch. Daß auf dem alten Hafengelände dahinter mittlerweile keine technischen Anlagen und Container mehr zu finden sind, sondern stattdessen Hotel- und Gewerbebauten mit Restaurants und Unterhaltungseinrichtungen darin, läßt die Überbleibsel des alten Hafenzauns manchmal ein wenig aus der Zeit gefallen erscheinen, doch verleiht das der Gegend, die wir hier durchstreifen, auch einen ganz eigenen Charme.

Während wir entspannt die Auckland Waterfront entlangschlendern, verschwenden wir keinen Gedanken daran, wie merkwürdig es doch eigentlich ist, daß dieser Begriff die Gegend, in der wir uns gerade befinden, so eindeutig kennzeichnet. Denn wenn man sich das Stadtgebiet auf einer Karte genau besieht, stellt man fest, daß Auckland eigentlich zwei Waterfronts besitzt: die hiesige am Waitematā Harbour und eine weitere im Südwesten, die auf der anderen Seite der neuseeländischen Nordinsel an der großen Bucht des Manukau Harbour liegt, der immerhin Neuseelands zweitgrößter Naturhafen ist. Doch weil sich der Hafen von Auckland nun einmal hier am Waitematā Harbour entwickelt hat, hat sich für dieses Areal der Name Auckland Waterfront durchgesetzt. Den anderen Küstenstreifen der Stadt bezeichnet tatsächlich niemand hier so.

Als wir das Ende der Quay Street erreichen, führt ein Weg weiter geradeaus auf einen molenartig in ein Hafenbecken hineinreichenden Pier. Links und rechts schaukeln Segelboote in großer Zahl im Wasser. Ich schaue ihnen zu und mir wird im wahrsten Sinne des Wortes anschaulich, warum Auckland den Beinamen „City of Sails“ beziehungsweise „Stadt der Segel“ trägt. Am Ende des kleinen Piers schließt sich eine schmale Fußgängerbrücke an. Sie grenzt das Viaduct Bassin genannte Hafenbecken gegen den großen Waitematā Harbour ab, ist jedoch als Klappbrücke gestaltet, damit die Segelboote herein- und hinausfahren können. Wir spazieren hinüber und erreichen ein kleines Viertel namens Wynyard Quarter, das der Brücke auch zu ihrem Namen verholfen hat: Wynyard Crossing. Wir sind hier am westlichen Ende von Aucklands Waterfront angekommen.

Skyline am Viaduct Bassin in Auckland
Dieser Blick auf die schöne Skyline Aucklands bietet sich vom Ufer des Viaduct Bassins im Wynyard Quarter.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Der Blick über das Viaduct Bassin zurück auf die Innenstadt Aucklands ist ein weiteres Mal atemberaubend. Dominiert wird die Skyline der Stadt auf dieser Seite vom Sky Tower. Die vielen schlanken Masten der Segelboote scheinen bestrebt, ihm hinsichtlich der Höhe Konkurrenz zu machen, können mit ihm aber nur perspektivisch und aufgrund ihrer größeren Nähe zu uns mithalten. Die weißen Wolkenberge, die sich im tiefblauen Himmel über der Stadt auftürmen, verleihen der Szenerie eine ruhige Schönheit.

Diese Schönheit ist noch weitaus mehr zu würdigen, wenn man bedenkt, daß wir sie in gewisser Weise nur einem gescheiterten Projekt verdanken, dessen Überbleibsel das Viaduct Bassin ist. In den frühen 1920er Jahren hatte die hiesige Hafenbehörde geplant, die infolge der technischen Entwicklung immer größer werdenden Schiffe im Waitematā Harbour ankern zu lassen. Die Waren sollten dort in kleinere Schiffe umgeladen und an Land gebracht werden. Damit wollte sie sich die Kosten für das Ausbaggern der Hafenkanäle und die Anlage neuer Piers ersparen. Um den Plan in die Tat umzusetzen, hatte man das Viaduct Bassin, das sich heute so natürlich als Teil des Naturhafens präsentiert, als Anlegeplatz für diese Transportschiffe anlegen lassen. Doch wie so oft, wenn Menschen Pläne machen, war am Ende alles anders gekommen. Die Hafenbehörde hatte die Rechnung ohne die Schiffseigner gemacht. Weil diese an dieser Lösung nicht interessiert waren, hatten sie einfach die Zusammenarbeit verweigert und eisern darauf bestanden, daß ihre Schiffe zur Löschung der Ladung weiterhin direkt anlegen sollten. Schließlich hatte die Hafenbehörde klein beigeben müssen. Und das Viaduct Bassin? Das hatte nun keinen Zweck mehr besessen und war daher als Anlegeplatz für Fischerboote genutzt worden. An seinen Ufern richtete man alsbald einen Fischmarkt ein und baute Lagerhäuser. In den 1990er Jahren entwickelte man das Gebiet dann zu einem Wohnareal mit einem hohen Anteil an Gastronomie. Uns ermöglicht diese historische Entwicklung, daß wir nun hier stehen und die Aussicht auf die Skyline Aucklands genießen können. So birgt auch das Scheitern oft genug die Möglichkeit für Neues und Schönes.

Als wir überlegen, ob wir das Wynyard Quarter noch ein bißchen erkunden sollen, melden unsere Mägen erste sanfte Proteste an. Der Drang zum Abendessen obsiegt folglich über den zur Erkundung der fremden Welt. Und das Ziel, gleich am ersten Tag das Meer zu besuchen, hatten wir ja auch vorbildlich erreicht. Wir wenden unsere Schritte daher zurück ins Zentrum und weiter die Queen Street hinauf. Nach einem kurzen Abstecher ins Hotel begeben wir uns auf die Suche nach einem gemütlichen Restaurant. Wir müssen nicht lang suchen, denn davon gibt es in dieser Stadt reichlich. Da Auckland wie überhaupt Neuseeland in der Vergangenheit Einwanderer aus allen Teilen der Welt angezogen hat, ist natürlich für jeden kulinarischen Geschmack etwas zu finden. So auch für unseren.

Als wir schließlich gesättigt noch ein wenig in der hereinbrechenden Dämmerung durch die Straßen spazieren, gelangen wir auch zum nahegelegenen Aotea Square, dessen eine Seite von Aucklands Town Hall gesäumt wird, einem schönen Gebäude aus dem Jahre 1911 mit einer keilförmigen Grundform. Sein spitz zulaufendes Ende wird von einem kleinen Turm markiert, dessen Sockel mit einer sanften, balustradenbekrönten Rundung versehen ist, deren Fassade mit als Säulen gestalteten Pilastern verziert ist. Mit seiner sanften Beleuchtung in bunten Farben wirkt das Rathaus irgendwie geheimnisvoll.

Das Rathaus von Auckland
Die 1911 fertiggestellte Auckland Town Hall in der Abenddämmerung.
Fotograf: Alexander Glintschert (2015)
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Bei unserem rein äußerlichen Blick auf die Town Hall ist die Verbindung, die sie zu Deutschland besitzt, nicht erkennbar. Das Gebäude, das nicht nur administrativen Zwecken dient, sondern auch ein Ort der Kultur ist, beherbergt in seinem Inneren einen Konzertsaal mit mehr als 1.600 Plätzen. Das Besondere an diesem Veranstaltungsort ist, daß ihn die Erbauer des Rathauses, die Melbourner Architekten John James Clark und Edward James Clark, dem Konzertsaal des alten Gewandhauses in Leipzig nachempfunden haben.

Für uns geht nun der erste Tag im fremden Land zu Ende. Müde von der langen Reise und dem Stadtbummel, der am Ende ein wenig ausgedehnter ausgefallen ist als ursprünglich beabsichtigt, fallen wir schließlich in unsere Betten und träumen weiteren Abenteuern entgegen.

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